"Migrare" heißt wandern

  • Dr. Angelica Ensel: „Die angemessene Betreuung und Begleitung von MigrantInnen braucht transkulturelle Kompetenzen.“

  • Etwa 20 bis 25 Prozent aller in Deutschland lebenden Menschen haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Wer sich näher mit Begriffen wie Migration und MigrantInnen beschäftigt, stellt bald fest, wie undifferenziert oft damit umgegangen wird. Migration hat viele Gesichter. Es macht einen großen Unterschied, ob es sich um Arbeitsmigration, Familiennachzug, Flucht und Asyl oder um einen illegalen Aufenthalt in Deutschland handelt. Entscheidend ist außerdem, aus welchem kulturellen Hintergrund Menschen kommen, in welchem Kontext sie hier leben, in welchem Maße sie sich fremd fühlen und welche Ressourcen ihnen zur Verfügung stehen.

    Wenn Menschen aus anderen Kulturen medizinische Hilfe in Anspruch nehmen wollen oder müssen, machen viele die Erfahrung, dass ihnen die Strukturen unseres Gesundheitssystems fremd sind. Ihr Gesundheitszustand ist oft schlechter als bei Einheimischen, sie sind größeren Risiken ausgesetzt und finden weniger leicht Zugang zu den Möglichkeiten der Gesundheitsversorgung. Gesundheit ist jedoch ein wichtiger Faktor für das Gelingen von Integration. Die Umsetzung der Menschenrechte erfordert einen nicht diskriminierenden Zugang für alle Bevölkerungsgruppen. Das betrifft auch unsere Arbeit. Hebammen arbeiten mit Frauen aus allen Kulturen und allen sozialen Schichten, aber noch lange ist es nicht so, dass sie – unserem Ethikkodex gemäß –
    auch gleich gut betreut werden. Wesentliche Aspekte der Lebensrealitäten und Krankheitserfahrungen von zugewanderten Menschen werden oft zu wenig beachtet. Sprachliche und soziokulturelle Barrieren behindern eine gesundheitsfördernde Behandlung.

    Ansätze, welche die Lebenswelten von Migrantinnen auf Stereotype und kulturelle Kategorien reduzieren, werden heute in der Wissenschaft nicht mehr unterstützt und sind auch in der Praxis – zum Glück – zunehmend überholt. Nur ein Konzept, das der persönlichen Migrationsgeschichte, den Strategien und Ressourcen und der konkreten sozialen Praxis Rechnung trägt, ist hier sinnvoll. Angemessene Betreuung und Begleitung braucht transkulturelle Kompetenzen. Das Vermitteln zwischen Kulturen gewinnt in unserer Gesellschaft zunehmend an Bedeutung. Gleichzeitig wird dieser anspruchsvollen Aufgabe noch viel zu wenig Rechnung getragen. Transkulturelle Kompetenz setzt Reflexionsfähigkeit und intensive Auseinandersetzung mit den eigenen Wertvorstellungen voraus. Das beinhaltet auch die Bereitschaft, vertrautes Wissen zu revidieren. In einer sich wandelnden Gesellschaft sind Offenheit, Neugier und lebenslanges Lernen dabei gute Begleiter.

    Migrare heißt wandern und auch wir müssen uns bewegen. Deshalb sollte transkulturelle Kompetenz zu den grundlegenden Fähigkeiten jeder Hebamme gehören und ein verbindlicher Baustein im Curriculum der Ausbildung werden.