Natürlichste Sache der Welt?

  • Lilo Edelmann: „In Deutschland ist der Anteil stillender Frauen gestiegen. Beruhigt zurücklehnen können wir uns aber noch lange nicht.“

  • Man sollte meinen, nach all den Jahren der Aufklärung, den vielen Stillkampagnen, aufgeklärten Hebammen und Kinderkrankenschwestern, Mengen an Stillberaterinnen sei jeder und jedem bekannt, dass Babys Muttermilch brauchen. Studien über die Vorteile der Muttermilch für die Gesundheit der Kinder bis weit ins Erwachsenenalter können wir regelmäßig auch in der öffentlichen Presse lesen. Kürzlich las ich eine Studie über nicht stillende Mütter, die Schuldgefühle und Depressionen entwickeln aufgrund von Stillkampagnen.
    Nun müssten wir uns eigentlich beruhigt zurücklehnen können. In Deutschland ist der Anteil stillender Frauen deutlich gestiegen: Etwa jede zweite Frau stillt ihr Kind noch mit sechs Lebensmonaten. Und wie sieht die Realität in der täglichen Arbeit aus?

    Kinder werden im Kreißsaal nicht angelegt, weil keine Zeit dazu ist. Kinder werden im Kreißsaal angelegt und über eine halbe Stunde an der Brust belassen. Mütter werden aufgefordert, ihre Kinder nachts ins Neugeborenenzimmer zu bringen, damit sie mal
    durchschlafen können. Morgens erst werden sie zur ersten Mahlzeit gebracht und spucken weißliches „Zeug“. KinderärztInnen fordern Mütter auf, ihren Kindern Glucose zu füttern, weil „die richtige Milch ja noch nicht da ist und ihr Kind an der Brust verhungert“. Andere Mütter hören in der ambulanten Wochenbettbetreuung von ihrer Hebamme, dass sie selber auch nicht stillen konnte und die Kinder viel zufriedener bei Flaschenfütterung seien. Bei der U4 müssen sich manche Mütter anhören, die Gewichtszunahme liege nicht in der Norm, weshalb sie sofort abstillen und künstliche Nahrung geben sollten. Oder sie bekommen eine Babywaage verordnet mit der Maßgabe, das Kind vor und nach jeder Mahlzeit zu wiegen. Wir alle wissen, wohin diese Praktiken führen. Neuerdings mischen immer mehr auch die „jungen Väter“ mit. So hörte ich kürzlich von jemandem, der seinem Kind die Flasche gab: „Natürlich stillt meine Frau nicht. Wie soll ich denn eine Beziehung zu meinem Kind aufbauen, wenn es gestillt wird?“

    Also, nicht Zurücklehnen ist angesagt, sondern behutsame, einfühlsame, sachliche Aufklärung, Fortbildung bei Fachpersonal und weitere Stillkampagnen – selbst auf die Gefahr hin, dass nicht stillende Mütter dann Schuldgefühle bekommen. Vielleicht stillen sie ja ihr nächstes Kind?