Nicht vermeidbar?

  • Im Prozess gegen die Hebamme und Ärztin Anna R. wurde deutlich, dass die Diagnose einer sogenannten intrauterinen Asphyxie schwer zu stellen ist. Zu diskret sind meist die Befunde. Es zeigt sich, dass die Asphyxie (wörtlich: Pulslosigkeit) unterschiedlich definiert wird. In der Rechtsmedizin etwa wird sie synonym für „Ersticken" verwendet, vielfach auch als Oberbegriff für verschiedene Erstickungsarten. Der Rechtsmediziner Prof. Dr. Wolfgang Keil empfiehlt, dass es zumindest für die einzelnen Fachgebiete eine einheitliche Definition geben sollte, damit die Kriterien klar seien. Der Neonatologe Prof. Dr. Dominique Singer meint aber, kein anderer Begriff beschreibe die besondere Mischung aus aktiven Reaktionen und passiven Folgen einer Mangelversorgung in der Perinatalzeit und Neugeborenenperiode besser als die Asphyxie. Er erläutert die Zusammenhänge mit hypoxischer und ischämischer Hypoxie.

    Dr. Alfred Rockenschaub bemängelt, dass Asphyxie und Hypoxie bei einem nicht reanimierbaren Neugeborenen zu sehr im Vordergrund stünden und wahre Zustände zudeckten.

    Die Kinderpathologin Prof. Dr. Annette Müller beschreibt einige mögliche maternale, fetale, plazentare und mechanische Ursachen für einen intrauterinen und intrapartalen Sauerstoffmangel. Dr. Helmut Jäger betrachtet die Respiratorische Sinusarrhythmie und zeigt, wie ein exzessiver Vagotonus die kindliche Herzfunktion unter der Geburt zur tödlichen Bradykardie drosseln kann. Rockenschaub erläutert die hypotrophe rechte Herzkammer des Föten, bei dem der postpartale Tod unvermeidbar ist, und bringt es in Zusammenhang mit dem aktuellen Fall.

    Hinter dem „Plötzlichen Versterben unter der Geburt", Sudden perinatal death Syndrom (SPSD), kann ein gestörtes Reizleitungssystem am Herzen stehen, etwa das Long-QT-Syndrom. Es gilt als Grund für fünf Prozent der unerklärten intrauterinen Todes- und auch zehn Prozent der SIDS-Fälle. Maligne Rhythmusstörungen des Föten sind eine bisher kaum beachtete Ursache für eine intrauterine Asphyxie.

    Auch wenn die Todesursache klar ist, ist die Vermeidbarkeit nicht zu beurteilen, schrieb Dr. Calvin Tjong 2003 in seiner Dissertation aufgrund von Einzelfallanalysen an der Medizinischen Fakultät Charité. Gute Schwangerschaftsvorsorge, ausreichende fetale Überwachung und gutes Geburtsmanagement hätten viele Totgeburten vermeiden können. 12 Prozent wären im Perinatalzentrum vermeidbar gewesen und 37 Prozent möglicherweise von den FrauenärztInnen und Patientinnen selbst. 51 Prozent wären unabhängig von der Todesursache „nach unserer Analyse nicht vermeidbar gewesen", so Tjong.