Orakeln über die neue Leitlinie

  • Birgit Heimbach, Hebamme und Redakteurin der DHZ: »Wird der Zeitpunkt der U1 samt Messen und Wiegen zukünftig noch deutlicher definiert?«

  • Eigentlich sollte die neue AWMF-Leitlinie »Betreuung des gesunden reifen Neugeborenen in der Geburtsklinik« im Oktober vorliegen. Die aktuelle Leitlinie stammt von 2012 und galt theoretisch bis 2017 – jetzt weiterhin, bis die neue da ist. Sie ist als S2k klassifiziert. Das heißt: Eine formale Konsensfindung hat stattgefunden. Die Ausarbeitung wird jedoch noch dauern, so Prof. Dr. Christoph Bührer von der Neonatologie der Charité in Berlin, der die Leitlinie bei der AWMF angemeldet hatte. Noch werde evaluiert, welche Maßnahmen nach der Geburt sinnvoll sind und welche Abläufe optimiert werden sollten. Schade, dass wir dazu noch nicht mehr berichten können anlässlich des Titelthemas »Der erste Lebenstag«.

    Bisher besagt der erste Satz der Leitlinie, dass Mutter und Kind nach der Geburt nicht getrennt werden sollten und diagnostische Maßnahmen beim Kind auf das Notwendige zu beschränken seien, ohne die Überwachung der postnatalen Anpassungsvorgänge zu vernachlässigen. Der Hautkontakt solle ermöglicht und möglichst wenig gestört werden. Die schwedische Ärztin Prof. Ann-Marie Widström hat kürzlich publiziert, wie bedeutend die neun Phasen der Anpassung des Neugeborenen in der ersten Stunde post partum seien (siehe Seite 8ff.). Wird dies in der aktualisierten Leitlinie berücksichtigt werden, so dass die U1 nicht mehr generell innerhalb der ersten 30 Minuten anberaumt ist, wie derzeit angestrebt?

    Und wird in der Leitlinie noch klarer definiert, dass die U1 gleichermaßen von GeburtshelferIn oder Hebamme durchgeführt werden kann? Laut § 1 HebBO Berlin ist dies eine angestammte Hebammentätigkeit in eigener Verantwortung. In der Kinder-Richtlinie gilt sie in § 3 dagegen als Tätigkeit von ÄrztInnen, die nur in deren Abwesenheit an Hebammen übergeht.

    Die Konsensfindung der Leitlinie beruht auf einem zweistufigen internetbasierten Delphi-Prozess, benannt nach dem Orakel von Delphi. ExpertInnen äußern sich dabei zu Themen und Fragen. Ab der zweiten Runde gibt es ein Feedback, meist anonym, um die Dominanz einzelner zu vermeiden.

    Derzeit befindet sich die Leitlinie in der zweiten Runde. Mehr als 50 Anmerkungen und Kommentare müssen bearbeitet werden. Dem müssten alle Vorstände der beteiligten Fachgesellschaften noch zustimmen, erklärt der koordinierende Autor der neuen Leitlinie Prof. Dr. Egbert Herting vom Uniklinikum Lübeck: »Es gibt eine sehr breite Beteiligung von Fachgesellschaften mit vielen neuen AutorInnen.« Als Hebamme vertreten ist Evelin Janke, die den Fachbereich Hebammenkunde an der Akademie St. Franziskus in Lingen leitet. Sie betont, dass die Adaptation des Neugeborenen wichtiger Bestandteil der Lehre sei.

    Für viele fast selbstverständliche Maßnahmen bei gesunden reifen Neugeborenen fehle eine Evidenz aus randomisierten kontrollierten Studien, etwa für das Wiegen und Messen oder für die Temperaturbestimmung, so Herting. Deshalb werde diese Diskussion sehr breit geführt und erfordere viel Zeit. Ein Konsens werde angestrebt. Immerhin muss für die Leitlinie am Ende keine Ziege geopfert werden, so wie es für die Weissagung des Orakels von Delphi üblich war.