»Selbstständig seine Interessen wahrnehmen«

  • Elisabeth Niederstucke, Redakteurin der DHZ: »Von ›Empowerment‹ war vor 135 Jahren noch nicht die Rede, aber Olga Gebauer hatte genau das gewollt.«

  • Auf meinem Schreibtisch liegt die erste Ausgabe der Deutschen Hebammen Zeitschrift von 1886. Eigentlich dürfte ich sie gar nicht anfassen, denn das Papier zerbröselt fast nach 135 Jahren. Was hatte die Hebamme Olga Gebauer dazu bewogen, die erste deutsche Fachzeitschrift für Hebammen zu gründen?

    Schon im zweiten Satz ihres Vorwortes spricht Olga Gebauer die Selbstständigkeit an. Sie möchte ihren Berufsstand stärken – durch die Gründung des ersten Hebammenvereins und durch eine eigene unabhängige Zeitschrift. Gebauer beginnt ihr Vorwort mit den Worten: »Die Zahl der Hebammen betrug am 1. April 1876 allein im Königreich Preußen 16.975 (die der Aerzte 8.445). Ein so großer Berufsstand vermag es sehr gut, selbstständig seine Interessen, d. h. sein ganzes Wohl und den berechtigten Nutzen wahrzunehmen.« Olga Gebauer hat sich zeitlebens dafür eingesetzt. Ihr Ziel war es, alle Hebammen finanziell abzusichern, zusammenzuführen und zu professionalisieren.

    Als wir uns im Redaktionsteam ein Schwerpunktthema für die Jubiläumsausgabe überlegten, stand der Arbeitstitel schnell fest: »Wahlfreiheit – Selbstbestimmung – Empowerment«. Von »Empowerment« war damals noch nicht die Rede, aber Olga Gebauer hatte genau das gewollt. Die Eins-zu-eins-Betreuung war Standard, denn Geburten fanden meistens zu Hause statt, die »Alternative der Klinikgeburt« war noch kaum etabliert. Jede Frau fand eine Hebamme. Das ist heute nicht mehr selbstverständlich. Und die Eins-zu-eins-Betreuung ist zum Politikum geworden. Von den Berufsverbänden der Hebammen und Mother Hood als Elterninitiative wird Eins-zu-eins als Goldstandard proklamiert, alles andere könne nur eine Übergangslösung sein. Bis es so weit ist, wird sicherlich noch Zeit vergehen. Die Corona-Pandemie verschlingt viel Aufmerksamkeit und Mittel, was in der Krise absolut notwendig ist. Wenn wir das überstanden haben, darf diese Forderung aber erst recht nicht im vermeintlichen Sparzwang unter den Teppich gekehrt werden. Das wäre Sparen am falschen Ende – zu Lasten aller Beteiligten und der Gesellschaft!

    Wenn Frauen heute das Extrem der Alleingeburt suchen, weil sie keine andere Wahl haben, muss das System sich ändern. Wenn Hebammen politisch und gesellschaftlich unterstützt werden, »selbstständig ihre Interessen wahrzunehmen«, können auch Frauen mit ihrer Unterstützung wieder selbstbestimmt gebären. Hier schließt sich mit dem 135-jährigen Jubiläum der DHZ der Kreis.