Sichtweisen auf das Ungeborene

  • Hildegard von Bingen, Äbtissin und spirituelle Frau, schrieb im 12. Jahrhundert: „Jedes Geschöpf ist mit einem anderen verbunden, und jedes Wesen wird durch ein anderes gehalten." Das klingt stärkend und tröstlich. Wie mag sich wohl ein heranwachsendes ungeborenes Kind in seiner einzigartigen Umgebung im Leib der Mutter fühlen? Fühlt es sich verbunden und gehalten, oder ist dies eine Interpretation, die eher dem Blickwinkel eines Erwachsenen entspringt? Die pränatale Psychologie ist überzeugt davon, dass das vorgeburtliche Erleben sich in der Seele des Menschen niederschlägt, auf gewisse Weise sogar erinnert wird, wie Prof. Dr. Janus in seinem Beitrag erläutert.

    Ist das Ungeborene dabei noch ein Teil der Mutter? Oder ein eigenes Wesen und zugleich vollkommen abhängig von seiner mütterlichen Umgebung? Birgit Heimbach stellt hierzu fundamentale Fragen anhand eines neuen philosophischen Forschungsprojektes in Europa vor.

    Unser Titelthema eröffnet verschiedenste Blickweisen auf das „Ungeborene". Dieses Wort nutzt leider die Negierung, aber wer ein anderes sucht, kommt leicht in Definitionsnot. „Kind", „Baby", „Frucht", „Embryo" oder „Fetus", „Zwerg", „Fischlein" oder „Menschlein" – jeder Mensch benennt „es" anders und hat unterschiedliche Empfindungen gegenüber dem Wesen, das noch nicht geboren ist. Juristisch gesehen ist das Kind erst mit der Vollendung der Geburt ein eigenständiger Mensch. Erbfähig wird es jedoch schon mit der Zeugung (§ 1923 Abs. 2 BGB). Das ungeborene Kind ist ein schützenswertes Wesen, dem Hebammen, Pflegende oder ÄrztInnen keinen Schaden zufügen dürfen. Unter bestimmten Voraussetzungen darf man aber straffrei eine Abtreibung oder einen Fetozid vornehmen. Mit Beginn geburtsrelevanter Wehen ist dagegen der Fetozid ausgeschlossen – unabhängig von Reife und Indikation.

    Über den moralischen, sozialen und juristischen Stand des Noch-nicht-Geborenen sowie über Rolle und Rechte der werdenden Mutter muss eine Gesellschaft immer wieder sprechen. Denn die Auffassung von diesem Wesen im Mutterleib beeinflusst, wie viel Entscheidungsmacht der Mutter zugestanden wird: über ihr eigenes Leben, ihre Freiheit, ihren Körper und auch den ihres Kindes in sich. Mal wird heute die Schwangere als liebevolle Hüterin angesehen – mal als Gefährderin, die ermahnt, kontrolliert oder bevormundet werden muss. Mal wird sie als Gefäß betrachtet, mal als Nest, mal als Teil einer lebenslangen Symbiose. Näher an die Frage nach dem Menschsein kommen wir selten. Näher an die Frage, wie viel Macht Frauen haben dürfen, ebenso wenig.

    Hebammen betreuen in der Schwangerschaft der Gebührenverordnung nach nur die werdende Mutter. Dabei sind sie beiden verpflichtet, der Mutter und dem ungeborenem Kind, und in ihrer Betreuung verantwortlich für beider Wohl­ergehen.