Unversehrtheit – ein unantastbares Recht?

  • Peggy Seehafer, Hebamme, Anthropologin und Redakteurin: »Mit dem Wiederaufblühen nationalistischer Strömungen scheint die Umsetzung der Menschenrechte so verletzlich wie lange nicht.«

  • »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.« So steht es in Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG). Das bedeutet: Nur die Person selbst kann nach freiem Willen darüber verfügen. Das GG schützt damit sowohl die physische als auch die psychische Gesundheit eines Menschen, nicht jedoch das soziale Wohlbefinden.

    Das Gesetz wirft für die Geburtshilfe beinahe mehr Fragen auf, als es Lösungen bietet. Kann der Schutz der körperlichen Unversehrtheit mit dem Recht auf Gesundheit gleichgesetzt werden? Kann es ein Recht auf körperliche Unversehrtheit überhaupt geben? Ist dieses Recht unter Umständen nur auf Kosten eines anderen erreichbar? Setzt sich eine Frau, die eine Sectio verweigert, möglicherweise über den Lebensanspruch ihres Kindes hinweg? Ist das Recht auf Unversehrtheit verwirkt, wenn man andererseits die Übertretung einer Grenze bei sich selbst zulässt? Hebammen, die keine Pausen machen können, die durch organisatorische Mängel verantwortungslos überstrapaziert werden, oder Frauen, die unnötigen Interventionen zustimmen – sind sie selbst schuld?

    Recht haben und Recht bekommen sind zweierlei. Anders als beispielsweise in Norwegen, haben Frauen in Deutschland kein Recht auf eine Eins-zu-eins-Betreuung während der Geburt. Aber sie haben ein Recht auf eine Wochenbettbetreuung, nur ist diese ebenfalls nicht gewährleistet.

    WHO und UNO setzen sich verstärkt für den körperlichen Schutz von Mädchen und Frauen ein. Als tradierte Form sexueller Ungleichbehandlung werden Jungen dabei vernachlässigt. Hundeschwänze dürfen per Gesetz nicht mehr kupiert werden, aber die Vorhaut kleiner Jungen schon. Die körperliche Integrität der Kinder wird noch immer von einer kulturellen Toleranz übertrumpft. Sie widerspricht aber den §§ 223 bis 231 im Strafgesetzbuch über die Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit, wie Körperverletzung und Misshandlung von Schutzbefohlenen. Nicht nur innerhalb einer Gesellschaft, auch innerhalb einer Familie, in der kraft Gesetzes die Eltern über das Wohl ihrer Kinder entscheiden dürfen und müssen, kann es eine Herausforderung sein, das individuelle Recht auf Unversehrtheit gegen kulturelle Normen abzuwägen.

    Gerade ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 70 Jahre alt geworden. Bereits drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich die Vereinten Nationen auf solch eine umfassende Erklärung einigen. Allerdings ist die Umsetzung dieser Menschenrechte bis heute nicht endgültig gesichert. Und mit dem Wiederaufblühen nationalistischer Strömungen scheint sie verletzlich wie lange nicht. Unsere Arbeit als Hebammen wird andauernd davon beeinflusst, nicht immer widerspruchsfrei.