Zeichen der Zeit?

  • In unserer beschleunigten Gesellschaft ist Eile geboten. Uhren diktieren unser Leben. Wir rasen stets auf die nächste Deadline zu. Pausen stören eigentlich nur, warten will niemand mehr. Die Uhr im Kreißsaal erinnert stets daran, dass auch die Geburt in einem Zeitraster bleiben soll, sonst muss eingegriffen werden. Die Definitionen für eine protrahierte Geburt und einen Geburtsstillstand sind international unterschiedlich, aber jeweils verbindlich. Die WHO definiert die sogenannte „Alert Line", die Warnlinie, bei der die Muttermundseröffnung unter einem Zentimeter pro Stunde in der aktiven Eröffnungsphase liegt, und die „Action Line", wenn die Muttermundseröffnung stagniert (siehe Seite 28ff.). Ist das tatsächlich medizinisch gerechtfertigt oder auch ein Zeichen der Zeit? Brauchen wir die Uhr für eine gute Geburtshilfe?

    Der Philosoph und Ökonom Prof. Dr. Karlheinz Geißler plädiert für einen „bewussten Umgang mit der Zeit". Der Leiter eines Instituts für Zeitberatung erinnert daran, dass neben der Uhrenzeit die Naturzeit ignoriert werde. Unser Körper sei wie alle Natur rhythmisch organisiert. Die Uhr, Mutter aller Maschinen, dränge dem Körper ein anderes Muster auf: einen präzise tickenden Takt. Der Rhythmus sei Wiederholung mit Abweichung, der Takt Wiederholung ohne Abweichung. Der Takt laufe unserer Natur zuwider. Die Entrhythmisierung sei ein krank machendes Dilemma. Wir müssten die Zeit löchrig und luftig machen wie einen Käse, meint Geißler. Wir bräuchten mehr Übergänge und Pausen, mehr Elastizität. Man solle Zeit auf sich zukommen lassen, statt auf sie zuzugehen.

    Eine neue Entschleunigung, ein Downshifting, kommt nun auch im Kreißsaal an. Bereits Ende der 1990er Jahre gab es erste Kritik an den drei zeitlich scharf begrenzten Geburtsabschnitten. Nun suchen immer mehr GeburtshelferInnen und Hebammen nach einer individuellen Gebärzeit. Dabei müssen sie klären: Was ist protrahiert? Welche Rhythmen sind normal? Wie viele Geburtsphasen gibt es? Wann beginnt die Pathologie? Die zeitliche Bandbreite einer physiologischen Geburtsdauer ist offensichtlich größer, als bislang angenommen, und eine längere zweite Geburtsphase hat weniger negative Auswirkungen, als gedacht.

    Bemerkenswert: Schon vor 200 Jahren hatte der Schweizer Geburtshelfer Johann Melchior Aepli gute Ideen: Er gab für die Dauer einer Geburt sechs Zeiträume an, die er genau charakterisierte (siehe Seite 17ff.). Ähnlich beschreiben die Hebammen Verena Schmid und Soo Downe acht zyklisch ablaufende Phasen einer Geburt, Pausen und Übergänge sind darin enthalten (siehe Seite 40ff.). Auch ein sogenannter Pasmo ist möglich, bei dem die Geburt zwischenzeitlich zum Stillstand kommen darf. Der Geburtshelfer Prof. Dr. Sven Hildebrandt, der sogar auf zehn Geburtsabschnitte kommt, wünscht sich mehr Respekt vor der Eigendynamik der Geburt (siehe Seite 22ff.). Schon im Alten Testament heißt es: „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit …"

    Birgit Heimbach