Barrieren abbauen

Anna Gerwinat ist Rollstuhlfahrerin. Sie erzählt vom Glück ihres Mutterwerdens, von den kleinen und großen Hürden in der Schwangerschaft, während der Geburt und danach. Was hat ihr gefehlt, was war besonders gelungen? Raul Aguayo-Krauthausen
  • Anna Gerwinat: »Ich musste lernen, wie ich unseren Sohn in die Babyschale ins Auto setze, und dann auch noch den Rollstuhl verladen muss.«

Raul Aguayo-Krauthausen: Können Sie sich kurz vorstellen?

Anna Gerwinat: Ich heiße Anna Gerwinat, bin 29 Jahre alt, studierte Personalerin. Viele Jahre lang habe ich in Berlin gewohnt. Nachdem ich meinen Mann kennenlernte, war schnell klar, dass ich Berlin verlassen werde. So habe ich mich auf die Suche nach einem Job in Richtung Sachsen-Anhalt gemacht. Nun wohnen wir in einer kleinen Stadt in der Nähe von Halle an der Saale – in Querfurt. Wir leben in einem Haus, das in den 1990er Jahren als Musikschule diente. Am 26. März vergangenen Jahres ist unser Sohn Arthur auf die Welt gekommen. Seither hat sich meine Welt um 180 Grad gedreht.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Was für eine Behinderung beziehungsweise Erkrankung haben Sie und wie wirkt sich diese aus?

Anna Gerwinat: Ich sitze seit meinem dritten Lebensjahr im Rollstuhl aufgrund einer inkompletten Querschnittslähmung, die damals aus einer Operation am Herzen resultierte.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Haben Sie sich schon immer Kinder gewünscht?

Anna Gerwinat: Ja, unbedingt.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Hat Ihre erworbene Behinderung etwas an dem Wunsch verändert?

Anna Gerwinat: Nein. Ich kenne viele andere Rollstuhlfahrerinnen, die Mütter sind. Darüber hinaus habe ich einen Bruder, der zwölf Jahre jünger ist als ich. So hatte ich als große Schwester schon immer die Möglichkeit, auf ihn aufzupassen.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie wussten, dass Sie schwanger sind?

Anna Gerwinat: Ich habe gespürt, dass sich etwas in meinem Körper verändert. So war es keine Überraschung für mich, als ich vor zwei Jahren am 14. Juli den positiven Test in meinen Händen hielt. Die Freude war riesig, auch wenn mir bewusst war, dass sich ab diesem Tag einiges in meinem Leben verändern würde.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Wem haben Sie als erstes davon erzählt?

Anna Gerwinat: Meinem Mann.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Wie hat Ihre Familie reagiert?

Anna Gerwinat: Die Familie von meinem Mann und meine Familie haben sich sehr für uns gefreut. Manch einer weinte sogar vor Freude.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Und Ihre FreundInnen?

Anna Gerwinat: Auch hier war die Freude groß, auch wenn der eine oder andere nicht damit gerechnet hätte, dass wir bereits in der Babyplanung steckten.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Wie war die Reaktion der ÄrztInnen?

Anna Gerwinat: Ich bin unglaublich froh darüber, eine so liebevolle und verständnisvolle Gynäkologin in unserer kleinen Stadt gefunden zu haben. Ich war erst seit der Schwangerschaft bei ihr in Behandlung. Die erste Frage bei meinem Anruf in der Praxis war, ob sie barrierefrei und damit für mich als Rollstuhlfahrerin zugänglich sei. Diese Frage wurde mir mit Ja beantwortet. Allerdings ist der Weg zur Praxis jedes Mal eine Schwierigkeit, da sich vor der Praxis ein sehr steiler Weg aus historischem Kopfsteinpflaster befindet. Ich wusste seit dem ersten Kennenlernen, dass ich mich bei meiner Gynäkologin in guten Händen befinde.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Welche Informationen gibt es für Schwangere mit Behinderung?

Anna Gerwinat: Danach habe ich gesucht, aber nur sehr wenige Informationen gefunden.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Welche Hilfen gibt es genau? Wohin kann man sich wenden?

Anna Gerwinat: Auch Hilfen sind mir nicht bekannt. Ich war während der Schwangerschaft bei einer Beratungsstelle, jedoch konnte diese mir auch nicht weiterhelfen. Der Grund meines Anliegens war, dass die Erstausstattung für unser Baby genau auf mich angepasst werden sollte und dies natürlich auch eine Frage des Geldes ist. Wir konnten uns nicht für den preisgünstigsten Kinderwagen entscheiden. Gleiches galt für den Wickeltisch und den Autositz. Fraglich ist natürlich, ob wir nicht sowieso diese Marken gekauft hätten.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Gab es etwas, das frustrierend oder kontraproduktiv für Sie war?

Anna Gerwinat: Frustrierend habe ich in der Schwangerschaft erlebt, wie schwierig es für mich war, mit wachsendem Bauch noch Steigungen mit dem Rollstuhl zu überwinden. Da der Rollstuhl, in dem ich sitze, genau auf meine Bedürfnisse – jedoch im nichtschwangeren Zustand – angepasst ist, war das eine Herausforderung für die Monate mit kugelrundem Bauch.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Wie könnte das geändert werden? Was halten Sie für besonders nötig?

Anna Gerwinat: Unabhängig von der Praxis meiner Gynäkologin ist es erforderlich, dass alle – und damit meine ich wirklich alle – medizinischen Angebote von ÄrztInnen, über Geburtshäuser bis hin zu Physiotherapiepraxen barrierefrei für alle Menschen zugänglich sein müssen.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Was fehlt Ihnen insbesondere?

Anna Gerwinat: Meines Erachtens fehlt es an Angeboten für Frauen mit Behinderungen, die schwanger sind. Auf der anderen Seite stellt sich für mich die Frage, ob der inklusive Gedanke diesbezüglich nicht einfach schon gelebt wird. Es wird eben nichts unbedingt »extra« gemacht, sondern ich wurde als Schwangere mit Behinderung, zumindest gefühlt, nicht anders behandelt. Um ehrlich zu sein, denke ich jedoch, dass dies kein inklusiver Gedanke ist, sondern die geringe Erfahrung damit.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Welche staatlichen Hilfen gibt es für Schwangere mit Behinderung?

Anna Gerwinat: Solche sind mir nicht bekannt. Jedoch habe ich zuvor auch gut verdient und hätte vermutlich mit meinem Gehalt über der Verdienstgrenze gelegen.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Wie fand Ihre Geburtsvorbereitung statt? Haben Sie an einem Kurs teilgenommen?

Anna Gerwinat: Das ist eine spannende Frage, da ich mich sehr gerne an die Geburtsvorbereitung erinnere. In der Praxis meiner Gynäkologin befindet sich auch eine Hebamme, die Geburtsvorbereitungskurse anbietet. Mir war bekannt, dass die Räume, in denen der Kurs stattfindet, nur über Treppen zu erreichen sind. So dachte ich, dass der Kurs für mich nicht in Frage kommt. Ich erkundigte mich bei Freundinnen nach ihren Hebammen und schrieb eine Handvoll weiterer Hebammen in der Region an – leider ohne Erfolg.

Nun stand wieder der nächste Kontrolltermin in der Praxis an und ich sprach noch einmal mit der Hebamme vor Ort, ob es vielleicht andere Räumlichkeiten gebe, in denen der Kurs stattfinden könnte. Ich bot ihr an, selbst nach Räumlichkeiten zu suchen. Da wir gute Kontakte zur Musikschule haben, die mit dem Rollstuhl, sofern man das historische Altstadtpflaster bewältigt hat, barrierefrei zugänglich ist, fragte ich nach einem Raum beim Leiter der Musikschule. Für ihn war es kein Problem, den großen Tanzsaal für die angedachte Zeit der Geburtsvorbereitung zur Verfügung zu stellen. Und so kam es, dass der Kurs mit mir, den weiteren schwangeren Frauen, der Hebamme und ihrer Baby-Puppe Uwe in der Musikschule stattfand.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Gibt es extra Geburtsvorbereitungskurse für behinderte Schwangere?

Anna Gerwinat: Danach habe ich zunächst gesucht, jedoch ahnte ich, dass es vermutlich regional keine Kurse diesbezüglich gibt. Die Welt der Digitalisierung bietet auch die Möglichkeit, an einem Online-Kurs teilzunehmen. Danach suchte ich jedoch erst gar nicht, weil für mich feststand, dass ich gern einen Kurs in der realen Welt besuchen wollte – auch wenn ich selbst dafür die Räumlichkeiten erst einmal finden musste.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Haben Sie sich in spezieller Weise auf die Geburt vorbereitet?

Anna Gerwinat: Ich habe das gemacht, wovon jeder abrät: Ich habe im Internet nach Geburtsberichten recherchiert, jedoch nicht speziell nach solchen von Menschen mit Behinderungen. Für mich stand schnell fest, in welcher Klinik ich mein Baby zur Welt bringen wollte – nicht zuletzt auch deswegen, weil der Oberarzt der Geburtsstation unserer Wunschklinik ein Bekannter meines Mannes ist. So trafen wir uns ungefähr vier Monate vor dem errechneten Geburtstermin und sprachen bereits über die Möglichkeiten der Geburt. Dieser Termin ermutigte mich sehr, denn der Arzt gab mir ein gutes Gefühl, unseren Sohn in Form einer natürlichen Geburt zur Welt zu bringen.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Wurden Sie aufgrund Ihrer Behinderung automatisch als Risikogeburt eingestuft?

Anna Gerwinat: Ja, aufgrund des Herzfehlers.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Kam es am Ende zur spontanen Geburt?

Anna Gerwinat: Nach drei Tagen Wehen wurde ich per Kaiserschnitt entbunden, da die Herztöne bei unserem Kind nachließen.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Was fanden Sie als behinderte Frau während der Geburt problematisch?

Anna Gerwinat: Interessant war, dass die Hebammen, speziell in der Zeit der Wehen, nachvollziehbar ihr Programm abrufen. Sie schicken die Schwangere durch das Treppenhaus des Krankenhauses oder einfach nur spazieren, sofern noch möglich. Natürlich war das bei mir nicht möglich, jedoch gab es auch kein »Alternativprogramm«.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Empfanden Sie das als diskriminierend?

Anna Gerwinat: Nein, die Hebammen und das medizinische Personal waren die ganze Zeit über sehr fürsorglich.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Hatten Sie die ganze Zeit das Gefühl, sich gut aufgehoben zu fühlen? Haben die GeburtshelferInnen adäquat auf Sie und Ihre Bedürfnisse auch Ihre Sorgen rund um Schwangerschaft und Geburt reagiert?

Anna Gerwinat: Ich kann nachvollziehen, dass es für jemanden, der selbst keine inkomplette Querschnittslähmung hat, schwierig ist, sich in die Situation eines Menschen hineinzuversetzen, der eben mit dieser Art von Behinderung lebt. Natürlich kommen die Fragen auf, was denn noch möglich sei. »Spüren Sie Ihre Beine?«. Mir ist es am liebsten, wenn jemand offen ist, sich traut und fragt. Die Behinderung ist eine sehr individuelle Einschränkung und eben ein persönliches Element. Das medizinische Personal ist darauf gut eingegangen, jedoch fehlte es an gegebener Stelle an Wissen über die Auswirkungen einer inkompletten Querschnittslähmung.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Gab es sonst irgendwelche »Barrieren«?

Anna Gerwinat: Interessant war, dass ich in das »barrierefreie« Zimmer der Station gelegt wurde. Darunter verstand das Krankenhaus, dass die Dusche, die Toilette und das Zimmer an sich etwas mehr Platz boten als die anderen Zimmer. Es wurde leider an viele Dinge nicht gedacht, die für die ersten Tage mit dem Baby im Zimmer wichtig sind. So war beispielsweise die Wickelkommode nicht unterfahrbar, die Taste der Wärmelampe für mich aufgrund der Höhe nicht zu erreichen, das Babybett für unseren kleinen Sohn nicht in entsprechender Höhe. Es ließ sich auch nicht entsprechend einstellen. Selbstverständlich haben wir diese Hürden gemeldet, in der Hoffnung, dass das Zimmer angepasst wird. Glücklicherweise konnten mein Mann und ich aus dem Zimmer ein Familienzimmer machen, so dass er die ganze Zeit bei uns sein konnte.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Seit geraumer Zeit ist die Situation rund um die Geburt zunehmend schwierig: Kreißsäle werden geschlossen, Hebammen fehlen. Waren Sie davon betroffen?

Anna Gerwinat: Es gab keine Wahl bei der Hebamme – die eine oder keine. Ich hatte Glück mit meiner Hebamme.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Wie haben Sie die erste Zeit mit Ihrem Kind nach der Sectio erlebt?

Anna Gerwinat: Ich bin unendlich froh, dass mein Körper den Kaiserschnitt so gut ausgehalten hat – auch wenn ich große Angst davor hatte. Ich musste den Ärzten vertrauen und das ist wahrlich nach den Erlebnissen aus der Vergangenheit immer wieder eine Schwierigkeit für mich. So wurde mein Sohn, nachdem er meinen Bauch verlassen hatte und ich ihn für zwei Sekunden in ein Handtuch gewickelt sehen durfte, in einen Nebenraum gebracht, da er Wasser in der Lunge hatte. Der erste Schrei, den ich dann hörte, war eine Erlösung für mich. Ich wollte unbedingt zu meinem Sohn, konnte aber nicht, da ich noch auf dem OP-Tisch liegen musste. Die Zeit kam mir ewig vor, auch wenn es vermutlich nur 20 Minuten waren. Als ich dann erneut in den Kreißsaal geschoben wurde, lag unser Sohn in einem Wärmebettchen. Ich wollte ihn sofort bei mir haben.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: An welche Lieblingsmomente können Sie sich erinnern?

Anna Gerwinat: Ich kann mich noch genau an den ersten Moment erinnern, als er auf meiner Brust lag – seine 3.400 Gramm fühlten sich leicht und warm an. Der schönste Moment war, als ich ihn noch im Kreißsaal das erste Mal stillen konnte.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Hatten Sie Ängste?

Anna Gerwinat: Die größte Angst bestand darin, dass mein Körper nach dem Kaiserschnitt nicht mehr über die Fähigkeiten verfügen könnte, die ich über viele Jahre hart trainiert hatte – die Spinalanästhesie war allein eine große Herausforderung für mich.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Mit dem Baby Zuhause – wie hat sich der Alltag gestaltet?

Anna Gerwinat: Es hat gedauert, bis sich der Alltag eingeschlichen hat. Die ersten zwei Wochen nach der Geburt hatte mein Mann Urlaub genommen – das war eine tolle Zeit. Wir beide waren von unseren Gefühlen überwältigt. Ich kann mich gut erinnern, dass ich die ersten Wochen nur sehr wenig geschlafen habe. Und das nicht, weil unser Sohn uns nicht schlafen lassen hat, sondern weil ich ihn unentwegt angeschaut habe. So viel Liebe zu spüren, ist unbeschreiblich.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Gab es Hilfe von außen?

Anna Gerwinat: Die einzige Unterstützung in unserem Haushalt war und ist unsere tolle »Putzfee«, die regelmäßig zu uns kommt. Spezielle Hilfen für unseren Sohn hatte ich nie.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Auch keine Elternassistenz?

Anna Gerwinat: Kam nie in Frage.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Warum nicht?

Anna Gerwinat: Ich hatte davon erst während der Schwangerschaft erfahren – vorher kannte ich diese Möglichkeit nicht.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Was war am hilfreichsten? Worauf hätten Sie im Nachhinein lieber verzichtet?

Anna Gerwinat: Ich hatte mir sehr viele Gedanken um das Babybett gemacht. Ein reguläres Bettchen, bei dem die Matratze recht weit unten liegt und ich mich über das Geländer lehnen muss, kam eigentlich nicht in Frage. So suchten wir ewig nach einem Bett, bei dem das Geländer flexibel ist – entweder zum Schieben oder Kippen. Wir fanden nach langem Suchen ein Gebrauchtes. Heute weiß ich, dass das für unsere kleine Familie überflüssig war. Wir haben schließlich ein Gitter vom Babybett abgebaut und es nahtlos an unser Bett gestellt. Ich mag es, wenn wir im Familienbett alle zusammen schlafen.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Gab es barrierefreie Rückbildungskurse?

Anna Gerwinat: Ich habe keinen Rückbildungskurs besucht, da ich nach dem Wochenbett wieder mit meinem Sport – dem Rollstuhlbasketball, den ich vor der Schwangerschaft betrieben habe – einmal die Woche begonnen habe. Das reichte mir völlig aus.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Und der Alltag mit Kleinkind: An welche Lieblingsmomente erinnern Sie sich gerne?

Anna Gerwinat: Es gibt so viele … das Lächeln am Anfang, das erste Mal auf den Bauch drehen und zurück, die ersten Krabbelversuche, die ersten Schritte, die vielen Momente der Zweisamkeit, wenn ich ihn stillte. Toll und erstaunlich finde ich, dass Arthur es schaffte, komplett auf meinen Rollstuhl zu klettern, ehe er überhaupt laufen konnte.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Welche Barrieren haben Sie erlebt?

Anna Gerwinat: Barrieren sind beispielsweise da, wenn ich versuche, den Kinderwagen vor dem Rollstuhl über eine unebene Straße zu schieben. Ich habe mir geholfen, indem ich den Kinderwagen schnell verbannt und unser Kind im Tuch getragen habe – außerdem war ich Arthur dann viel näher, konnte seinen Atmen spüren und war ruhiger.

Ich musste lernen, wie ich unseren Sohn in die Babyschale ins Auto setze, und dann auch noch den Rollstuhl verladen muss.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Fehlt Ihnen irgendetwas?

Anna Gerwinat: Da wir in einer Kleinstadt leben, hatten wir keine Wahl bezüglich der Kinderbetreuung. Und auch hier haben wir die Wahl, wie auch schon bei der Gynäkologin, aufgrund der Barrierefreiheit der Kindertagesstätte getroffen.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Was würden Sie sofort ändern, wenn Sie es könnten?

Anna Gerwinat: Wenn ich mir etwas wünschen würde, dann ist es, dass alle Angebote der Kinderbetreuung inklusiv gestaltet werden sollten. In der Kita meines Sohnes gibt es keine anderen Kinder mit Behinderungen. Arthur wird durch meinen Freundeskreis und meine Zeit in Sporthallen beim Rollstuhlbasketball viel Kontakt zu anderen Menschen mit Behinderungen haben, auch zu Kindern. Jedoch fehlt diese Begegnung den Kindern aus der Krippe und auch den BetreuerInnen. Wenn ich Arthur in die Kindertagesstätte bringe, schauen die Kinder meinen Rollstuhl und mich an – ganz klar. Woher sollten sie es auch kennen?

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Gerade mit dem ersten Kind machen viele Eltern alle möglichen Kurse, PEKiP oder Baby-Schwimmen. Haben Sie das auch gemacht?

Anna Gerwinat: Ja, wir haben den Kurs Babymassage und »KlingKlang Babysingen« besucht.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Gab es hier barrierefreie Angebote?

Anna Gerwinat: Den Babymassagekurs hat meine Hebamme in ihren Räumen angeboten. Diese sind nicht barrierefrei zu erreichen und ich war nicht bemüht, wieder in der Musikschule nachzufragen – das hätte sich vermutlich auch als schwierig dargestellt, da in dieser Zeit Sommerferien waren. Mein Mann hatte in der Zeit seine Elternzeit genutzt, war verfügbar und so hat er unseren Sohn und mich die Stufen hochgetragen.

Das Angebot des »KlingKlang Babysingens« fand in barrierefreien Räumen statt, jedoch war das dieses Mal nicht der Grund, dass wir das Angebot wahrgenommen haben. Wir lieben die Musik sehr, so dass auch unser Sohn frühzeitig mit Musik in Berührung kommen sollte.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Wie haben Eltern ohne Behinderung auf Ihre Situation reagiert?

Anna Gerwinat: Ich erlebe Bewunderung, die ich nicht nachvollziehen kann und die bei mir auch nicht auf offene Ohren stößt. Vielleicht fehlt mir auch das Gespür für das Thema Bewunderung.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Haben Sie Vorurteile, sogar Diskriminierung erfahren? Oder das Gegenteil?

Anna Gerwinat: Es gibt Momente, in denen der Satz von anderen Menschen fällt, dass »es toll ist, dass ich trotz meiner Behinderung eine Familie gegründet habe«. Mittlerweile bin ich stark genug und entgegen diesen Menschen nicht mehr nur mit einem Lächeln, sondern erkläre ihnen, dass ich nicht »trotz meiner Behinderung eine Familie habe«, sondern diese Form der Behinderung zu mir gehört – genauso wie meine VANS-Schuhe oder mein gern getragenes Halstuch.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Welche Hinweise möchten Sie anderen Müttern mit und ohne Behinderung geben?

Anna Gerwinat: Ich habe viele Informationen zum Thema Elternwerden und erste Jahre mit Kind während der Schwangerschaft aufgesogen, mich versucht, auf mein neues Leben einzustellen sowie wahrzunehmen, dass sich etwas verändern wird. Doch die Liebe, die ich seit der Geburt meines Sohnes empfinde, die kann ich nicht in Worte fassen. Unabhängig von jeder Art der Behinderung, lohnt es sich, all die schlaflosen Nächte zu überstehen und dies zu spüren.

Ich merke, welche enge Beziehung ich zu meinem Sohn habe. Das begann bereits, als er noch in meinem Bauch war und zog sich über die ersten Momente des Stillens. Mir ist es wichtig, viel Nähe zu Arthur zu haben – auch aus diesem Grund ist mir das Stillen unglaublich wichtig. Mein Sohn ist mittlerweile fast zwei Jahre alt und unsere Stillbeziehung soll noch lang bestehen.

 

Raul Aguayo-Krauthausen: Ich danke Ihnen!

 

 

Die Interviewte

 

Anna Gerwinat, 29 Jahre, hat Personal­management in Berlin studiert und lebt nun in Sachsen-Anhalt. Neben Studium, Arbeit und diversen ehrenamtlichen Tätigkeiten spielte sie im Jahr 2013 und 2015 für die Nationalmannschaft der Damen im Rollstuhlbasketball. Im Jahr 2017 wurde ihr Sohn Arthur geboren.

Kontakt: gerwinat.anna@gmail.com

Rubrik: Politik & Gesellschaft | DHZ 11/2018

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