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Belastungen auf die Bühne bringen

Im Bachelorstudiengang Hebamme an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) ist das Forumtheater als interaktive Reflexionsmethode fester Bestandteil des Unterrichts. Eine innovative und interaktive Lernmethode, vorgestellt auf dem 2. DHZCongress. Mona Schwager, Cornelia Bothe-Moser

Der Schritt ins Berufsleben hinterlässt bei den angehenden Hebammen vielerlei Eindrücke. Die Studentinnen erleben die Praxismodule unterschiedlich. Vor allem zu Beginn der Ausbildung ist das Spannungsfeld groß zwischen den Erfahrungen aus dem Studium und der Berufsrealität. Der Umgang damit ist für die Beteiligten anspruchsvoll. Evaluationen und Gespräche mit den Studentinnen zeigten, dass als belastende Faktoren oft die Themen Sozialisation in den Klinikalltag, Teamintegration, Zeitdruck, Ungewissheit, Angst vor der Verantwortung und der Umgang mit Akutsituationen sowie schwierige Gesprächssituationen im Vordergrund stehen. Deshalb wurde eine prozess- und erfahrungsbezogene Unterrichtsmethode eingeführt, die es ermöglicht, Szenen aus dem Praktikum gezielt zu reflektieren und Erkenntnisse für folgende Praktika zu gewinnen.

 

Ziele des Forumtheaters

 

Das interaktive Forumtheater wurde von Augusto Boal (1931–2009) im Brasilien der 1960er Jahren zu Zeiten der Militärdiktatur als „Theater der Unterdrückten" entwickelt. Mit dieser Theaterform machen Schauspielende Erlebnisse aus dem Alltag in Modellszenen sichtbar und entwickeln im Dialog mit dem Publikum Lösungen zu den dargestellten Problemen. Im Bachelorstudiengang Hebamme der ZHAW spielen Schauspielerinnen Szenen aus dem Praxisalltag so, dass sie die Studentinnen im Publikum berühren und zum Nachdenken anregen. Dabei wird nur die Einstiegsszene vorgegeben. Den weiteren Verlauf der Szenen gestalten die Studentinnen nach ihren eigenen Erfahrungen und Erlebnissen. Diese geben sie den Schauspielerinnen vor oder spielen die Rolle gleich selbst weiter.

Damit wird den Studierenden ermöglicht, neue Handlungswege für ihr Lernen und den Umgang mit Konflikten zu entdecken und in einem geschützten Rahmen neue Vorgehensweisen für alltägliche Situationen zu erkennen. In moderierten Diskussionen werden die gespielten Sequenzen besprochen, reflektiert und gemeinsam weiterentwickelt. Dabei geht es um Fragen wie: „Was würde ich in der dargestellten Situation tun?" oder: „Wie kann ich durch meine Ideen und mein Handeln die Szene verändern?" Die Studentinnen erleben, dass sie eigenes Wissen und eigene Erfahrungen, aber auch Ängste und Unsicherheiten einbringen können und wie eine proaktive Auseinandersetzung in Gang kommt. Eigenes stereotypes Konfliktverhalten kann durch die unterschiedlichen Lösungsansätze bewusst gemacht werden. Die Studentinnen setzen sich dadurch emotional und kognitiv vorausblickend mit dem nächsten Praktikum auseinander. Sie leiten neue Ziele und Handlungsmuster aus den gewonnenen Erkenntnissen ab.

 

Durchführung der Methode

 

Das interaktive Forumtheater erfolgt in den drei Schritten Vorbereitung, Durchführung und Reflexion der Szenen aus dem Praxisalltag.

 

Vorbereitung

 

Im Vorfeld trafen die Studiengang­leiterin und die praktikumsverantwortliche Dozentin den Leiter der Theatergruppe, um Inhalt, Ablauf sowie Rahmenbedingungen zu besprechen. Im Vordergrund standen dabei häufig erlebte Herausforderungen im Praktikumsalltag. Die Dozentin skizzierte ein Drehbuch für die Ausgangsszene, das auf den Erfahrungen, Gesprächen und Evaluationen mit den Studierenden beruht. Mit dem Theaterleiter wurde der zeitliche Rahmen auf vier Stunden angesetzt, in denen vier Szenen gespielt, besprochen und weiterentwickelt werden können. Es sollte genügend Zeit bleiben, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Die Dozentin wirkte als Co-Moderatorin während der Durchführung mit. Damit die konstruierten Szenen auch glaubwürdig dargestellt werden konnten, wurden die dafür geeigneten Schauspielerinnen vom Theaterleiter sorgfältig ausgewählt.

 

Durchführung

 

Nach der Begrüßung erläutern der Moderator und die Co-Moderatorin den circa 60 Studentinnen, der Studiengangleitung und den Dozierenden im Publikum die Rollen und den Ablauf des Forumtheaters. Das Drehbuch gab folgende Szene vor: Die Studentin ist im zweiten Ausbildungsjahr im BSc-Studium Hebamme und aktuell im zehnwöchigen Praktikum auf der Gebärabteilung. Sie hat bereits ein Praktikum auf der Wochenbettabteilung absolviert und ist seit sechs Wochen im Team. Im Verlauf ihres Praktikums hat sie kaum kurze mündliche und schriftliche Rückmeldungen zu ihrem Lernstand bekommen. Vier Wochen vor der Schlussbeurteilung des Praktikums weiß die Studentin nicht, ob sie die Ziele überhaupt erreicht und das Praktikum erfolgreich bestehen wird. Sie ist sehr verunsichert, auch weil die einzelnen Rückmeldungen über ihre Hebammentätigkeiten durch die Praxisausbilderin und die Hebammen im Team ihrer Ansicht nach ungenügend und oberflächlich beurteilt wurden. Auch hat sie kaum Lernförderungsmaßnahmen besprechen können. Ein Standortgespräch zur Selbst- und Fremdbeurteilung zwischen Praxisausbilderin und Studentin steht an. Die Praxisausbilderin steht unter Zeitdruck, da viele Frauen am Gebären sind. Sie ist angespannt, nicht zuletzt auch, weil die Teamkolleginnen „ihre" Studentin als wenig kritikfähig und verschlossen erleben. Sie sei wenig offen für Anregungen oder könne diese nicht umsetzen.

Diese Szene wird auf einer improvisierten Bühne gespielt, wo Praxisausbilderin und Studentin einander am Tisch gegenüber sitzen, wobei beide ihre Notizen mit der Einschätzung zum aktuellen Lernprozess vor sich auf dem Tisch haben. Die beiden Schauspielerinnen lassen einen Dialog aufleben, den die meisten im Publikum in dieser oder ähnlicher Form schon erlebt haben, der sie entsprechend betrifft und nachdenklich stimmt (siehe Hinweis unter WWW).

 

Reflexion

 

Zu einem bestimmten Zeitpunkt des Spiels unterbricht der Moderator die Szene und wendet sich an das Publikum, um die Zuschauerinnen in das Geschehen einzubeziehen. In unserem Forumtheater erörterten die Studentinnen gemeinsam die gespielte Situation anhand Fragen der Moderierenden wie: „Was ist Ihnen aufgefallen?", „ Wie würden Sie in einer solchen Situation reagieren?", „Was könnten die Betroffenen noch ausprobieren?" „Wen müssten wir zur Problemlösung noch befragen?" Die Studentinnen sprachen über ihre Erfahrungen, Gefühle und darüber, was die Szene in ihnen auslöste. Sie erkannten sich oder Anteile von sich in den gespielten Rollen wieder. Durch die starken Darstellungen entstanden eine subjektive Betroffenheit und ein Gefühl für die Tragweite einer Situation, die über das ausschließliche Nachdenken hinausgeht. Auch die Seite des Gegenübers – hier der Praxisausbilderin – wurde besser wahrgenommen und verstanden.

Erst wenn sich im Gespräch im Plenum keine neuen Aspekte mehr ergeben, wird die Szene weiterentwickelt, zum Beispiel in einem anderen Kontext: die Studentin am Abend zu Hause im Gespräch mit ihrem Freund oder die gleiche Ausgangslage mit anderem Verlauf.

 

Vom Pilotversuch zum Unterricht

 

Bevor das Forumtheater definitive Aufnahme ins Curriculum fand, wurden zwei Pilotversuche evaluiert. Die Beteiligten wurden gefragt, ob sie sich auf die Methode einlassen konnten, ob sie einen Zusammenhang des Spiels mit ihrer Realität feststellten und was sie daraus in ihren Alltag mitnahmen. Die Antworten zeigten, dass mit der Methode das Ziel „Empowerment der Studentinnen im Zusammenhang mit der Reflexion und Vorbereitung der Praxismodule" erreicht werden kann. Die Studentinnen äußerten sich durchweg positiv. Ausgewählte Zitate:

  • „Anfangs war ich zugegebenermaßen etwas skeptisch, war dann aber total begeistert über diesen anderen Weg, um solche kritischen Situationen anzugehen."
  • „Ja, das Spiel packte mich sehr und ich konnte mich in diversen Rollen der Studentin wieder finden."
  • „Ich fühlte mich ernst genommen und die Probleme, die uns beschäftigten, als wichtig."
  • „Tragisch, aber wahr, die Schauspielerinnen haben die Realität sehr gut wiedergegeben und ich konnte mich in diesen Situationen erkennen."
  • „Ich habe mir überlegt, wie ich in diesen Situationen gehandelt hätte und wie ich in Zukunft handeln würde."
  • „Inspirierend für neue und andere Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten in Praxissituationen."
  • „Gerade diese Hierarchien finde ich sehr gut spürbar und schwierig zu handhaben."
  • „Ich für mich nehme mit, wie wichtig es ist, auch für sich selbst einzustehen und für einen guten, respektvollen Umgang zu kämpfen."
  • „Ja, hat auch mal aufgezeigt, wie man vielleicht selbst in einem Gespräch wirkt."
  • „Es tut gut, eine Situation, die sehr bekannt ist, von außen zu betrachten. Dadurch kann die Seite des Gegenübers besser wahrgenommen und verstanden werden."

 

Ein positives Fazit

 

Durch die realitätsnahen Situationen wurden die Studentinnen überrascht, ermuntert, zum Lachen und vereinzelt auch zum Weinen gebracht. Es war nicht unser Ziel, mithilfe des Forumtheaters fertige Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Wir wollten auf diesem Weg mit den Studentinnen ins Gespräch kommen und ihnen die Möglichkeit geben, auf konstruktive Art über ihre Belastungen zu sprechen. Auf der Bühne direkt zu sehen und zu hören, dass andere ähnliche Probleme haben, löste manches Aha-Erlebnis aus, ebenso Verständnis für das Gegenüber und nicht zuletzt Erleichterung. Von außen betrachtet und in der moderierten Diskussion lässt sich Schwieriges plötzlich verstehen und sogar klären. Am Institut für Hebammen sind wir überzeugt, dass mit der interaktiven Methode Rückschau und Vorschau auf die Praxismodule genommen werden kann und die Berufssozialisation sowie das Empowerment der Studentinnen gestärkt werden. Ein gleichermaßen inszeniertes Forumtheater wurde auch mit den Praxisausbilderinnen durchgeführt. Die ungewohnte Perspektive auf ihren Alltag mit den Studentinnen eröffnete neue Einsichten für ihre anspruchsvolle Tätigkeit.

Rubrik: Ausbildung & Studium | DHZ 11/2015

Literatur

Boal, A.: Theater der Unterdrückten: Herausgegeben und aus dem Brasilianischen übersetzt von Marina Spinu. Suhrkamp. Frankfurt am Main (1979)

Boal, A.: Theater der Unterdrückten. Übung und Spiele für Schauspieler und Nichtschauspieler. 2., erweiterte Auflage. Suhrkamp. Frankfurt am Main (1989)

Eberhardt, D.: Theaterpädagogik in der Pflege. Georg Thieme. Stuttgart (2005)
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