Ein Reiseführer ins frühkindliche Verhalten

Aktuelle Forschung und praktische Erfahrung ergänzen sich in dem Fachbuch »Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit«. Daraus eröffnet sich ein tiefes Verständnis für die (emotionale) Entwicklung des Säuglings zum Kleinkind. Prof. Dr. Kathleen Wermke

Ursula Henzingers spezifischer Ansatz »Bindung und Autonomie« entstand im Ergebnis einer jahrelangen praktischen Tätigkeit, begleitet von theoretischer Forschungsarbeit und ist inzwischen zu einem etablierten Aus- und Weiterbildungskonzept geworden.

Die Tirolerin ist Sonderpädagogin, Stillberaterin und Mutter von vier Kindern. Sie absolvierte eine Ausbildung in Emotioneller Erster Hilfe (EEH).

Die Autorin nimmt die LeserInnen didaktisch geschickt mit in ihrem »Reiseführer« zur frühkindlichen Verhaltensentwicklung. Angenehm ist, dass Ursula Henzinger nicht belehrt, indem sie Szenarien und Folgen potenziellen elterlichen Fehlverhaltens aufzeigt, sondern sensibel und detailliert die aktuellen Forschungsbefunde aufbereitet. Das Buch fordert zum eigenen Mit- und Nachdenken auf, indem es die wissenschaftliche Literatur zum Thema des frühkindlichen Bindungs- und Autonomieverhaltes zusammenstellt und die Theorie durch praktische Beispiele ergänzt. Es liefert den LeserInnen angenehm zurückhaltend zahlreiche Handlungsempfehlungen im Umgang mit dem Baby und Kleinkind.

Das Buch überzeugt vor allem durch sein hohes Engagement für das Wohlbefinden von Mutter und Kind in den entscheidenden frühen Entwicklungsphasen und den Umfang von Wissen und Erfahrungen, den die Autorin akribisch recherchiert, dokumentiert und systematisch aufbereitet hat.

 

Die Signale verstehen

 

Das Buch besteht aus einem 150 Seiten umfassenden eher »theoretischen« Teil, in dem das Fachgebiet der Verhaltensbiologie verständlich erklärt und das Thema Eltern-Kind-Verhalten aus einer evolutionären Perspektive betrachtet wird.

Der umfangreichere zweite Teil des Buches zeichnet sich durch eine detaillierte Charakterisierung der Dynamik im Eltern-Kind-Verhalten über die ersten Lebensjahre aus. Dabei folgt Ursula Henzinger dem Ansatz der klassischen Bindungstheorie, dass für eine gesunde Entwicklung von Geburt an die flexible Regulation zwischen Nähe und Distanz wichtig ist.

Die Interaktion zwischen Mutter (Vater) und Baby ist von Anfang an bi-direktional – von beiden Seiten gehen stimmliche, visuelle, geruchliche und taktile Signale aus, die vom Gegenüber verstanden werden und Erwartungen erfüllen müssen, um eine harmonische Interaktion zu ermöglichen. Bereits vor der Geburt erfolgt die Bindung an die Mutter durch physiologische und akustische Signale, die der Fetus im letzten Trimenon der Schwangerschaft wahrnimmt. Das Ungeborene erlangt auf diese Weise bereits eine erste sensorische Vorstellung von seiner Mutter.

An melodische und rhythmische Eigenheiten der mütterlichen Stimme erinnert es sich noch Wochen nach der Geburt. Damit spielt vor allem in den ersten Lebenswochen die Stimme, neben dem Geruch und verschiedensten taktilen Erfahrungen, eine ganz besondere Rolle bei der wechselseitigen Stimmungsübertragung zwischen Mutter und Baby (»soziale Kompetenz«). Die Autorin widmet diesem – wohl gerade für Hebammen und GeburtshelferInnen besonders interessanten Aspekt – ein eigenes Kapitel. Sie erklärt die Reaktion des Babys auf die wahrgenommene Stimmung der Bezugsperson aus der Perspektive der Nähe-Distanz-Regulierung.

Eindrucksvoll schildert Henzinger die über viele Millionen Jahre entstandenen Mechanismen des frühen Mutter-Kind-Verhaltens und zeigt auf, wodurch es zu »Disharmonien« und »Ungestimmtheiten« zwischen gegenseitigen Erwartungshaltungen und tatsächlichem Verhalten kommen kann, die sich in Schlaf- und Trinkstörungen und manchmal auch exzessivem, schwer stillbarem Weinen äußern können.

Ausführlich durchleuchtet die Human­ethologin das Verhalten von Neugeborenen und jungen Säuglingen. So wird das Buch auch zu einer geeigneten Lektüre, um die bekannten täglichen Beobachtungen im Umgang mit Babys und Kleinkindern besser verstehen zu können und neue Ansätze und Argumente für die Beratung junger Mütter zu bekommen.

Im sozialen Verhalten von Babys im zweiten Lebenshalbjahr, so zeigt Henzinger auf, erlangen die Kategorien »fremd« und »vertraut« eine neue Bedeutung. Es werden Lernmechanismen in diesem frühen Alter analysiert und mit eigenen oder beschriebenen Beobachtungsbeispielen von Säuglingen in diesem Alter unterlegt.

Aus Babys werden Kleinkinder. Henzinger zeigt auf, wie sich die frühen Wurzeln der sozialen Kompetenz im späteren Verhalten reflektieren. Der Erkenntniswert des Buches profitiert von der Tatsache, dass Henzinger auf das kindliche Verhalten in den altersabhängigen Entwicklungsphasen mit immer demselben Blick schaut.

 

»Umhüllende« Muttersprache

 

Henzinger betont das lustvolle Spielen im Sinne von Erfahrungsammeln im sozialen Umfeld und die ebenso genussvolle Wiederholung und Modifikation erlernter Dinge. Sie geht auf die Bedeutung der sprachlichen Kommunikation ein und zeigt auch hier wieder frühe Wurzeln auf: Gesunde Neugeborene zeigen bereits Eigenheiten der im Mutterleib gehörten Sprachmelodie in ihren Weinlauten. Die Muttersprache »umhüllt« das »Heranwachsen vom Mutterleib an und hat mit allen anderen Themen zu tun, für die sich das Baby nach der Geburt Schritt für Schritt zu interessieren beginnt«.

Das Buch streift viele weitere Aspekte der kindlichen Verhaltensentwicklung, wie das Wechselverhältnis von Geben und Nehmen, die Nachahmung, das Erlernen sozialer Rollen, den Bezug zu Geschwistern oder das Austesten von Regeln. Die Trotzphase wird sehr ausführlich behandelt und dabei kindliches Trotzverhalten aus human­ethologischer Perspektive analysiert.

Rubrik: Beruf & Praxis | DHZ 12/2018

Buchtipp

Henzinger, Ursula: Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit. Humanethologische Perspektiven für Bindungstheorie und klinische Praxis. Buchreihe: Neue Wege für Eltern und Kind. Psychosozial-Verlag Gießen 2017. 462 Seiten

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