Macht-Verhältnisse

Strukturelle, institutionelle und direkte Gewalt gegen Personen haben unterschiedliche Folgen fürs Zusammenleben. Warum ist Gewalt eines der größten Gesundheitsrisiken für Frauen und Kinder weltweit? Ramazan Salman, Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan
  • »Was immer Gewalt ist, wie immer sie aussieht – sie lässt den Menschen nicht unberührt, solange er sich als soziales Wesen versteht.«

Gewalt ist ein Alltagsphänomen und kann jede Person treffen. Sie begegnet uns alltäglich in den Medien. Die Nachrichten sind voll von Berichten über Gewaltexzesse, über Gewalttäter und ihre Opfer, über Schauplätze und Hintergrundgeschichten, über ihre gesellschaftlichen Kontexte. Ihre Omnipräsenz und die oftmals existenzielle Tragweite für die Beteiligten beziehungsweise Betroffenen macht das Phänomen der Gewalt zu einem höchst brisanten Dauerthema sowohl in der wissenschaftlichen wie auch in der öffentlichen Diskussion (Hossein et al. 2014).

Bis heute nehmen viele an, Gewalt sei eine fixe gesellschaftliche Gegebenheit aufgrund einer Lust an der Aggression. Der von Freud postulierte »Aggressionstrieb« und dessen Einführung in die Biologie als primärer menschlicher Instinkt durch Konrad Lorenz im letzten Jahrhundert beförderten die Sichtweise, Gewalt als eine anthropologische Konstante anzusehen. In ihr zeige sich die Natur des Menschen. Auch wenn die Vielzahl fehlgeschlagener Bemühungen, die Gewalt als alltägliches, dauerhaftes Phänomen ernsthaft einzudämmen oder gar langfristig zu eliminieren, diese Sicht zu bestätigen scheint, so stellen jüngere Publikationen diese Annahmen, in der Gewalt einem unveränderbaren Schicksal der Menschen zu begegnen, doch grundlegend in Frage (Bauer 2011).

Die moderne Neurobiologie zeigt uns ein weniger aggressionsgetriebenes Wesen des Menschen, das vielmehr primär auf soziale Akzeptanz, Kooperation und Fairness ausgerichtet sei und erst zur Gewalt neige, wenn diese Werte bedroht sein sollten (Bauer 2011).

 

Strukturelle Gewalt

 

Was die Praktiken beziehungsweise Arten der Gewalt betrifft, so sind diese vielfältig und wurden im Rahmen der systematischen wissenschaftlichen Beschäftigung mit Gewaltereignissen zunehmend ausdifferenziert (van Riel 2005). Heute wird unter dem Gewaltbegriff ein äußerst breites Spektrum von Verhaltensweisen subsumiert, das auf unterschiedlichen Ebenen dargestellt werden kann. Der Gewaltbegriff entzieht sich jedoch einer streng verbindlichen, allgemeingültigen Definition.

Gewalt lässt sich allgemein als Beschränkung von Selbstverwirklichung auffassen (Ethno-Medizinisches Zentrum 2016: 17). In diesem Zusammenhang wird eine Unterteilung in strukturelle, institutionelle und in direkte, gegen Personen und Sachen gerichtete Gewalt vorgenommen, wobei ein besonderer Fokus auf der Gewalt gegen Frauen und Kinder liegt.

 

Gewalt steckt im System

 

Strukturelle Gewalt ist eine Form der Gewalt, die »im System eingebaut ist und sich in ungleichen Machtverhältnissen und somit in ungleichen Lebenschancen äußert« (Galtung 1971: 12). Sie beschreibt daher nicht nur die Ausgrenzung von Minderheiten und sogenannten Randgruppen, sondern nimmt allgemein gewaltfördernde Gegebenheiten auf den unterscheidbaren Ebenen in Gesellschaften, Organisationen und Familien in den Fokus (Marx 2012). Beispiele für Strukturen, die Gewalthandeln eher unterstützen als verringern, sind unterschiedliche Machtverhältnisse in Gesellschaften ohne Möglichkeiten, Benachteiligungen anzuzeigen oder gegen diese vorzugehen.

Strukturelle Gewalt basiert auf der ungleichen Verfügbarkeit von Machtchancen. Macht ist dabei ein Merkmal aller zwischenmenschlichen Beziehungen. In Familien beispielsweise hat jene Person »mehr Macht«, die weiterreichende Entscheidungsmöglichkeiten hat als andere. Eltern haben etwa Macht über Kinder. Die Kinder sind von ihnen stärker abhängig als umgekehrt. Die Machtmöglichkeiten werden zum einen bestimmt durch Alter und Lebenserfahrung (Krieger 2007: 33). Aber auch Geld, Bildung oder die Position in der Gesellschaft und der Religion sind dafür wichtig.

 

Institutionelle Gewalt und Gewaltmonopol

 

Institutionelle Gewalt ist eine Form der Gewalt, die durch geschaffene oder vorhandene Strukturen ungleiche Machtverhältnisse stärkt. Das hindert unter anderem Menschen daran, das zu tun, was für sie selbst wichtig ist, zum Beispiel bei der Arbeit, in Schulen oder in Wohnheimen, in denen die Essenszeiten bestimmt werden oder Menschen von Betreuenden abhängig sind.

Generell soll institutionelle Gewalt der Herstellung von Ordnung verhelfen. So soll die Bevölkerung eines demokratischen Staates etwa durch die administrativ festgelegten und durch Gewaltmonopol des Staates gesicherten staatlichen Regeln des Umgangs miteinander die Sicherheit der Gleichbehandlung für alle erfahren. Grundlage dafür ist das staatliche Gewaltmonopol, das jedoch für Missbrauch anfällig ist und der Kontrolle durch verfassungsmäßige demokratische Verfahren bedarf.

Vorrangiges Ziel ist das friedliche und verständnisvolle Zusammenleben und damit die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft. Das Gewaltmonopol wird also zum Wohle aller beziehungsweise der betroffenen Gemeinschaft ausgeübt. Dementsprechend darf diese Situation von niemandem, etwa von der Polizei, von Helfern oder sogar in der Familie, zu eigenen Zwecken ausgenutzt werden. Dies würde einen eklatanten Machtmissbrauch darstellen, wie er allerdings in gewaltmonopolistischen Strukturen, wie die aktuelle #Me-too-Debatte zeigt, auch immer wieder zu beklagen ist. Es bedarf einer gesetzlichen Bestimmung, wann Gewalt legitimiert ist und zugleich der Kontrolle, dass die zur Gewaltausübung befugten Personen diese im öffentlichen Interesse und nicht aus Eigennutz ausüben.

 

Gewalt gegen Personen oder Sachen

 

Die direkte Gewalt geht von Personen aus und richtet sich gegen Personen oder Sachen. In einem Klima, in dem Gewalthandlungen legitimiert, beschönigt, verschleiert oder gar verherrlicht werden, haben gewaltbereite Menschen die Möglichkeit, diese direkt gegenüber einem oder mehreren Menschen auszuüben. Sie können die Machtverhältnisse in einer Institution, zwischen den Geschlechtern oder in der Familie dazu nutzen und/oder die Strukturen im Umgang miteinander so gestalten, dass ihre angewandte Form der Gewalt entsprechend auf die Betroffenen wirkt.

Während beispielsweise Kinder in Deutschland nach § 1631 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) das Recht auf gewaltfreie Erziehung und damit die Freiheit vor körperlicher Bestrafungen genießen, gehörte die körperliche Züchtigung zur Zeit ihrer Großeltern, wie auch heute noch in einigen sozialen Milieus und ethnischen Gruppen, durchaus zu akzeptierten Erziehungsmethoden. Die Auffassung, was Gewalt sei und was nicht, hat in diesem Feld sozialer Beziehungen offenkundig eine Wandlung erfahren. Gewalterleben hängt somit auch von der individuellen Interpretation und den aktuell gängigen kulturellen Vorgaben ab (Baberowski 2015).

Grundsätzlich muss im Zusammenhang mit direkter Gewalt betont werden, dass die betroffene Person definiert, wann sie sich in ihrer Selbstverwirklichung eingeschränkt empfindet. Diese Perspektive müssen Außenstehende sich nicht immer gänzlich zu eigen machen, die Signale sind jedoch ernst zu nehmen. Dazu muss die Person zuerst gelernt haben, sich selbst wertzuschätzen und Grenzüberschreitungen wahrzunehmen. Wenn eine als Gewalt empfundene Tat durch das Umfeld ignoriert, toleriert oder bagatellisiert wird, wird die von der Tat betroffene Person das eigene Empfinden als nicht real oder falsch einordnen und entsprechend hinnehmen oder verdrängen.

Die unterschiedlichen Arten von Gewalt greifen häufig ineinander, überschneiden sich oder existieren zur selben Zeit nebeneinander.

 

Gewalt gegen Frauen und Kinder

 

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet Gewalt gegen Frauen als eines der größten Gesundheitsrisiken von Frauen weltweit. Bereits in den 1990er Jahren wurde geschlechtsspezifische Gewalt als »Gender Based Violence« im internationalen Diskurs definiert. Im Abschlussdokument der Weltfrauenkonferenz, der Pekinger Erklärung von 1995, findet sich folgende Definition:

»Der Begriff ›Gewalt gegen Frauen‹ bezeichnet jede Handlung geschlechtsbezogener Gewalt, die der Frau körperlichen, sexuellen oder psychischen Schaden oder Leid zufügt oder zufügen kann, einschließlich der Androhung derartiger Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsberaubung in der Öffentlichkeit oder im Privatleben. Infolgedessen umfasst Gewalt gegen Frauen und Kinder unter andere folgende Formen:

  • körperliche, sexuelle und psychische Gewalt in der Familie (Misshandlung von Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern, Gewalt im Zusammenhang mit der Mitgift, Zwangsverheiratung, Vergewaltigung in der Ehe, Gewalt außerhalb der Ehe und Gewalt im Zusammenhang mit Ausbeutung)
  • körperliche, sexuelle und psychische Gewalt in der Gemeinschaft, so auch Vergewaltigung, Missbrauch, sexuelle Belästigung und Einschüchterung am Arbeitsplatz, in Bildungseinrichtungen und anderswo, Frauenhandel und Zwangsprostitution
  • vom Staat ausgeübte oder geduldete körperliche, sexuelle und psychische Gewalt, wo immer sie auftritt.« (United Nations 1995)

Wird neben der Kategorie des »biologischen« Geschlechts auch die Kategorie »Gender« einbezogen, ist folgende aktuelle Definition noch umfassender:

»Gewalt im Geschlechterverhältnis ist jede Verletzung der körperlichen oder seelischen Integrität einer Person, welche mit der Geschlechtlichkeit des Opfers und des Täters zusammenhängt und unter Ausnutzung eines Machtverhältnisses durch die strukturell stärkere Person zugefügt wird« (Hagemann-White 2016: S. 18f).

 

Privatsphäre schützt auch die Tat

 

Häusliche Gewalt

 

Es existiert keine einheitliche Definition von häuslicher Gewalt, doch meistens ist damit die Gewalt gemeint, die von einem Beziehungspartner an seiner Partnerin ausgeübt wird. Sie ist definiert als Gewalt zwischen Erwachsenen in der Familie oder Paarbeziehung.

Häusliche Gewalt manifestiert sich in körperlicher, psychischer, sexueller, sozialer und finanzieller Gewalt, die innerhalb einer Intim- oder Familienbeziehung ausgeübt wird und Kontrolle und Machtausübung zum Ziel hat (Maschewsky-Schneider 2004). In der überwiegenden Zahl der Fälle sind Männer die Täter und Frauen – gemeinsam mit ihren Kindern – die Opfer. Die Kinder sind mehr als nur Zeugen der Gewalt: Studien zeigen eine Korrelation zwischen häuslicher Gewalt gegen Frauen und einer Misshandlung der Kinder durch die Täter. 20 bis 59 Prozent der weiblichen Weltbevölkerung, so die Professorin für Soziologie sowie Frauen- und Geschlechterforschung Margrit Brückner, sind von häuslicher Gewalt betroffen. Misshandlungen durch den Ehemann oder Lebenspartner gehören zum Lebensalltag von Frauen (Brückner 2000).

Häusliche Gewalt zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie im privaten Bereich stattfindet. Der Schutz der Privatsphäre schützt hier oft auch die Tat. Zeugen von häuslicher Gewalt, die beispielsweise Schreie und Schläge hören, haben häufig nur geringe Möglichkeiten, im Laufe der direkten Gewalthandlung einzuschreiten. Häusliche Gewalt konkretisiert sich in

  • körperlicher Gewalt, wie an den Haaren ziehen, Ohrfeigen, Faustschläge, Kneifen, Stoßen, Würgen, Fesseln und Angreifen mit Gegenständen aller Art (auch Waffen)
  • psychischer Gewalt, wie dem Klein- und Lächerlichmachen der Partnerin (auch in der Öffentlichkeit), ständiges Verbessern, Korrigieren, Bemäkeln von Alltäglichkeiten, Demütigungen, Drohungen, den Kindern etwas anzutun oder mit den Kindern wegzugehen, bis hin zu Morddrohungen
  • sozialer Gewalt: Diese macht sich fest in einer ständigen Kontrolle der Kontakte, dem Verbot, Kontakte zu pflegen, Einsperren bis hin zu einer völligen Isolation der Betroffenen von Familie und Freundeskreis
  • finanzieller Gewalt: Das Erzeugen von finanzieller Abhängigkeit steht hier als Ziel im Vordergrund. Durch Arbeitsverbote oder Arbeitszwang im eigenen Unternehmen erhält der Täter die alleinige Kontrolle über die Finanzen
  • sexueller Gewalt, wie Nötigung zu sexuellen Handlungen, Vergewaltigung oder auch Zwangsprostitution.

 

Sexuelle Gewalt

 

Vergewaltigungen entsprechen vermutlich dem in unserer Gesellschaft am häufigsten vertretenen Bild sexueller Gewalt: Der unbekannte Täter überfällt die wehrlose Frau in der Nacht an einem abgeschiedenen Ort, bedroht sie, schlägt sie und penetriert sie auf brutale Weise. Dass öffentliche Orte nur in circa 20 Prozent der Fälle Tatort und 80 Prozent der Täter dem Opfer bekannt sind, ist jedoch inzwischen durch etliche Studien und Statistiken aus Fachberatungsstellen belegt (Drießen 2011). Täter kommen also in den meisten Fällen aus dem privaten Umfeld der Betroffenen und zeigen häufig keine besonderen psychischen Auffälligkeiten (Drießen 2011).

Bei sexueller Gewalt geht es dem Täter darum, Sexualität als Waffe einzusetzen zur Demonstration der Unterlegenheit des Opfers und damit der eigenen Macht. Es handelt sich um einen Machtmissbrauch, den der Täter wissentlich und nicht zufällig anwendet. Vielmehr geht es darum, sich selbst zu befriedigen und/oder sein Opfer zu demütigen (Behere & Mulmule 2013).

 

Menschenwürde verteidigen

 

Was ist Gewalt? Diese Frage verdient mehr als eine Antwort und mehr als eine Stimme. Jede Stimme zählt. Die Frage lässt sich nur in den unterschiedlichen Kontexten, vor den jeweiligen kulturellen Hintergründen und letztlich im Rahmen der individuellen Erfahrungen beantworten. Und dann bleibt immer noch offen, wo sie herkommt und wie wir mit ihr umgehen – in öffentlichen Debatten darüber oder wenn wir ihr völlig unvermittelt begegnen. Spätestens dann wird Gewalt konkret, selbst wenn wir nur Zuschauer sind. Was immer Gewalt ist, wie immer sie aussieht – sie lässt den Menschen nicht unberührt, solange er sich als soziales Wesen versteht (Baberowski 2015).

In allen Fällen unkontrollierter Gewaltausübung geht es TäterInnen um die Einschränkung oder Vernichtung von Lebenschancen anderer Menschen, deren Lebensrecht sie geringer schätzen als das eigene. Gewalttätigkeit kann sich in menschliche Gruppen immer tiefer hineinfressen und deren Menschlichkeit völlig korrumpieren. Trotzdem gibt es immer Hoffnung. Es mag an dieser Stelle passen, die grundlegendste dieser Hoffnungen anzusprechen. Hannah Arendt hat mit ihrer Betonung der Natalität, des Geborenseins, gezeigt, wie mit jedem neuen Menschen Hoffnung auf ein besseres Leben zur Welt kommt (Arendt 2014:316 f., 226). Diese Hoffnung und dieses Recht auf ein menschenwürdiges Leben gilt es von Anfang bis Ende zu verteidigen.

Rubrik: Politik & Gesellschaft | DHZ 03/2018

Literatur

Arendt H: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München. Piper Verlag 2014

Bauer J: Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. Karl Blessing Verlag. München 2011

Behere PB, Mulmule AN: Sexual abuse in 8 year old child: Where do we stand legally? Indian J Psychol Med 2013. 35:203–5
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