Vitamin K für jedes Neugeborene?

Eine britische Hebamme hinterfragt die prophylaktische Gabe von Vitamin K an Neu­geborene: Ist es gerechtfertigt, jedem Kind nach der Geburt eine Injektion zu geben, obwohl in reichen Ländern nur eines von über 11.000 eine gefürchtete Vitamin-K-Mangel-Blutung erleidet? Um Eltern eine informierte Entscheidung zu ermöglichen, müsse man über die Evidenz hinausblicken, ihre Geschichten anhören und die Perspektive wechseln. Dr. Sara Wickham
  • Viele Kinder erhalten eine Medikation, um ein Problem zu vermeiden,

Vor zwei Jahren habe ich meinen Ratgeber »Vitamin K and the Newborn« überarbeitet (Wickham 2017). Das Buch von 2002 ist sowohl für Eltern und als auch für MedizinerInnen gedacht. Mein Ziel war es, die Evidenz zu erklären und eine Informationsquelle zu bieten, damit Eltern eine informierte Entscheidung treffen können. Für meine Überarbeitung gab es ein paar Änderungen zur Evidenz der Vitamin-K-Gabe als intramuskuläre Injektion oder orale Gabe in Form von Tropfen, aber es gab keine neuen randomisiert-kontrollierten Studien.

Das Buch legte immer mehr an Umfang zu, weil ich sicherstellen wollte, dass die LeserInnen nicht nur die offensichtlichen Fragestellungen und Beweise zu lesen bekamen. Ich wollte erklären, was hinter den Schlagwörtern steht.

Seit Jahren vertrete ich die Meinung, dass Studienbeweise allein nicht ausreichen. Diese Beweise müssen in einen Kontext gesetzt und auch in Verbindung mit anderen Arten von Wissen verwendet werden. Und deshalb müssen wir Geschichten erzählen. Wir müssen über die Evidenz hinausblicken, um die Fragen und auch die Entscheidungen wirklich zu verstehen, die getroffen werden müssen.

 

Lehrsätze hinterfragen

 

Schon zu Anfang meiner Hebammenausbildung lernte ich, dass Vitamin K eine lebenswichtige und lebensrettende Substanz sei. Mir wurde beigebracht, dass alle neugeborenen Babys es in den ersten Lebensstunden bekommen sollten, im Idealfall als intramuskuläre Injektion. Es durfte auch in den Mund gegeben werden, aber die intramuskuläre Gabe galt als besser, weil das Medikament so länger im Körper des Babys blieb. Ich lernte, den Eltern zu erklären, wie notwendig die Vitamin-K-Injektion sei, um Blutungen bei ihrem Neugeborenen zu verhindern. Allein die Idee, dass ihr Baby ohne Vitamin-K-Gabe bluten könnte, beunruhigte die Eltern so sehr, dass sie zustimmten. Ich lernte, allen Eltern zu erzählen, ihr Baby sei mit einem Vitamin-K-Mangel geboren worden und deshalb würden wir dieses noch im Geburtsraum substituieren. Wie alle anderen Hebammenstudentinnen auch, lernte ich diese »Tatsachen« und gab Vitamin-K-Injektionen sicher und kompetent, bevor ich dies in den Unterlagen dokumentierte.

Und dann traf ich Laura. Laura wollte über die Nachteile, mögliche Nebenwirkungen und Alternativen zur gängigen Praxis der intramuskulären Injektion von Vitamin K für ihr Baby aufgeklärt werden (Wickham 2017:1).

Ihre Geschichte ist eine über mein eigenes Lernen und, um ganz ehrlich zu sein, auch über meine eigene Ignoranz. Als Hebammenstudentin wurde ich damals an einer Universität unterrichtet, die streng wissenschaftlich orientiert und auf evidenzbasierte Fakten ausgerichtet war. Also hinterfragte ich den Nutzen von Vitamin K. Meine DozentInnen hatten mich bislang ausschließlich über die Vorteile und über die sehr ernsthaften Konsequenzen der Vitamin-K-Mangel-Blutung (VKMB) informiert. Aus diesem Grunde war ich natürlich nicht gut genug informiert, um die Fragen von Müttern wie Laura zu beantworten. Diese Erfahrung gab mir eine neue Erkenntnis.

 

Studien über die Wirksamkeit

 

Es ist wichtig zu wissen, wie herausgefunden wurde, dass Vitamin K eine effektive Prophylaxe gegen eine Vitamin-K-Mangel-Blutung ist. Und warum die Vitamin-K-Gabe eine postpartale Routine-Intervention wurde.

In frühen Untersuchungen wurde geschätzt, dass circa 1 von 10.000 gesunden Neugeborenen postnatal eine Hirnblutung erlitt, bevor Vitamin K routinemäßig substituiert wurde (McNinch & Tripp 1991; von Kreis & Hanawa 1993; Passmore at al. 1988). Spätere Bewertungen legten nahe, dass in Europa zwischen 1 von 14.000 und 1 von 25.000 der Neugeborenen ohne Vitamin-K-Substitution vom sogenannten späteren Eintreffen (late onset) einer VKMB betroffen waren (Shaerer 2009).

Erst vor kurzem führten der Neonatologe Jeeva Sankar und seine KollegInnen ein systematisches Review für die WHO zur globalen Rate eines späten Eintreffens der VKMB durch (Sankar et al. 2016). Diese Zahlen zeigen die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit eines späten Auftretens der Vitamin-K-Mangel-Blutung. Betroffen waren 35 (10,5 bis 80) pro 100.000 Lebendgeburten im Vergleich zu den oben genannten Zahlen bei Neugeborenen, die keine Vitamin-K-Gabe bei der Geburt erhielten. Die Häufigkeit von gefürchteten Hirnblutungen lag in Niedrig- und Mittellohnländern viel höher als in Ländern mit hohem Einkommen: 80 (72 bis 80) verglichen mit 8,8 (5,8 bis 17,8) pro 100.000 Lebendgeburten (Sankar et al. 2016). Mit anderen Worten: Solange die Eltern in einem Land mit hohem Einkommen leben, liegt die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, dass ein Neugeborenes ohne Vitamin-K-Gabe eine VKMB hat, bei 1 : 11.363 (Wickham 2017: 14-15).

Fazit: Fast alle Neugeborenen erhalten eine Medikation, um ein Problem zu vermeiden, das nur selten auftritt.

 

Die Perspektive wechseln

 

Wenn Sie selbst Richtlinien schreiben und Ihre erste Priorität die Kurzzeitsicherheit der Neugeborenen ist, die von Ihnen betreut werden, wird es Ihnen bestimmt leichtfallen, jedem Baby eine Vitamin-K-Gabe anzubieten. Aber wenn Sie ein Elternteil begleiten, das umfassend denkt und sich über Langzeitkonsequenzen und Nachteile Gedanken macht, könnten Sie sich auch fragen, ob es vielleicht einen guten Grund dafür gibt, dass fast alle Babys mit einem relativ niedrigen Level einer notwendigen Substanz auf die Welt kommen. Ihre Prioritäten und Entscheidungen und auch die Informationen, die Sie haben möchten, könnten dann andere sein.

Und es lohnt sich, noch größere Zusammenhänge und Geschichten wahrzunehmen. Einige der Eltern, die sich zu informieren begannen, bevor sie ihre Entscheidung trafen, haben bestimmt auch Geschichten aus den Medien gehört, in denen es um das erhöhte Risiko von Leukämie im Kindesalter in Verbindung mit der Gabe von Vitamin K ging. Eine Untersuchung dazu wurde beauftragt, nachdem vorangehende Daten überhaupt erst ein potenzielles Problem in den Raum gestellt hatten. Leider waren die Untersuchungsmethoden nicht sinnvoll (Fear et al. 2003). Trotz der fragwürdigen Methoden heißt das aber nicht, dass es kein Risiko gäbe. Die Fragwürdigkeit der Ergebnisse hätte allerdings eine bessere Untersuchung nach sich ziehen müssen und keine sofortige Ablehnung der Frage. Spätere Arbeiten und Analysen stellten sich dann doch als beruhigend heraus.

 

Offene Fragen und mögliche Antworten

 

Es gibt wichtige Fakten zu der Frage, was wo und von wem veröffentlicht wird. Einige der am häufigsten gestellten Fragen können nur dann wirklich beantwortet werden, wenn die Umstände und der Hintergrund mit einbezogen werden:

  • Warum sind viel höher geschätzte Zahlen über die Häufigkeit der VKMB in der Öffentlichkeit als die Zahlen, die belegt werden konnten? Die meisten ExpertInnen sind sich heute einig, dass die höher geschätzten Zahlen an einer ungewöhnlichen Serie an Vitamin-K-Mangel-Blutungen lag .
  • Warum gibt es keine Evidenz für die orale Dosis von Vitamin K? Weil diese Frage bei der Untersuchung keine Priorität hatte. Deshalb können wir nur schätzen, dass diese Dosis irgendwo zwischen der sicher ausreichenden und der sicher nicht ausreichenden Dosis liegt.
  • Warum gibt es nicht mehr Untersuchungen über mögliche Alternativen? Vielleicht weil diejenigen, die Studien finanzieren, nicht in der Lage sind, über ein »es funktioniert und verbessert die Kurzzeitergebnisse, also geben wir es einfach allen« hinauszudenken.
  • Warum gibt es immer noch so viele Websites, die behaupten, Neugeborene hätten nach einer vaginal-operativen Geburt ein höheres Risiko einer VKMB? Weil man es einmal vermutet hatte, es sich als falsch herausstellte, aber unglücklicherweise diese Ergebnisse nicht so ausführlich weiterverbreitet wurden und deshalb immer noch veraltete Informationen durchs Netz schwirren.

 

Persönliche Empfehlung

 

Solange wir offen dafür sind, haben wir viele Möglichkeiten, unser Wissen zu vertiefen. Und als jemand, die viel Zeit damit verbringt, Bücher und Informationen auf den neuesten Stand zu bringen, würde ich sogar noch einen Schritt weitergehen. Je mehr ich lerne, desto mehr möchte ich darauf hinweisen, wie wichtig es ist, dass wir unser Wissen vertiefen, indem wir uns nicht nur auf die Evidenz konzentrieren, sondern auch die individuellen Geschichten hinter der Fragestellung, den Leitlinien und den Studien betrachten. Es macht auch keinen Sinn, nur Fallgeschichten zu erzählen, ohne einen Gedanken an Evidenz. Denn es ist essenziell, die Zahlen zu kennen und die regionalen Zusammenhänge im Blick zu behalten. Für mich ist die Mischung aus beidem der Schlüssel. Es gibt immer noch viel mehr zu lernen und wir sollten versuchen, auch andere Perspektiven zu verstehen.

Bevor man allen Kindern ein Medikament gibt, über das sie nicht selbst entscheiden und es ablehnen können, sollte es eindeutige Evidenzen geben. Sonst ist es Körperverletzung, besonders bei Injektionen.

Übersetzt von Jessica Boadi.

Rubrik: 1. Lebensjahr | DHZ 03/2019

Literatur

Fear NT, Roman E, Ansell P, Simpson J, Day N, Eden OB: United Kingdom Childhood Cancer Study: Vitamin K and childhood cancer: a report from the United Kingdom Childhood Cancer Study. Br J Cancer  2003. 6; 89(7):1228-31

Hey E: Vitamin K – Can we improve on nature? MIDIRS Midwifery Digest 2003. 13(1): 7–12

McNinch AW, Tripp JH: Haemorrhagic disease of the newborn in the british Isles. British medical Journal 1991. 303:1105-09
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