Leseprobe: DHZ 02/2016

Benennen, was ist

Die Nachricht einer schwerwiegenden Diagnose ihres ungeborenen Kindes erschüttert die Eltern und löst eine tiefe Verunsicherung aus. Die innere Not und der Druck von außen, etwas entscheiden zu müssen, lässt sie oft den Bezug zu sich selbst und zu ihrem Kind verlieren. Eine sachkundige Begleitung tut Not, die sich am Kontinuum Elternschaft orientiert. Franziska Maurer,
  • In der Regel ist die Gesundheit der Mutter zum Zeitpunkt der Feststellung der Krankheit des Kindes nicht gefährdet. Die Eltern sollten deshalb genug Zeit haben, ihren eigenen Standpunkt zu finden.

„Die Welt des Lebens ist eine Welt, die nicht aus Objekten besteht, sondern aus Beziehungen.“ Andreas Weber, Biologe und Philosoph, 2014

Freitagnachmittag, das Telefon klingelt, die Beratungszeit ist längst vorbei. Die Hebamme hebt trotzdem ab. Frau W. spricht schnell, berichtet sachlich – ihre zittrige Stimme jedoch lässt ahnen, wie bewegt sie ist. Sie ist mit ihrem ersten Kind in der 26. Woche schwanger. Vorgestern haben sie und ihr Mann erfahren, dass ihr ungeborenes Kind krank ist – schwer krank, so die Prognose der untersuchenden ÄrztInnen. Diese schätzen, dass das Kind die Geburt kaum, oder wenn, nur für kurze Zeit überleben werde. Als möglichen medizinischen Eingriff haben sie ihnen eine vorzeitige Schwangerschaftsbeendigung angeboten. Dazu haben sich Frau W. und ihr Mann heute in einem zweiten Gespräch mit dem zuständigen Arzt entschieden. Die Aufnahme in die Klinik ist für Samstagmorgen festgelegt worden. In ein paar Stunden also. Wieder zu Hause, ist Frau W. in großer Unruhe. Sie fühlt sich überwältigt von den Ereignissen der letzten Stunden und kann sich nicht vorstellen, wie sie am nächsten Tag ihr Kind zur Welt bringen soll. Im Internet findet sie die Adresse der Fachstelle Fehlgeburt und perinataler Kindstod (FpK). Nachdem sie der Hebamme am Telefon die Fakten geschildert hat, fragt sie: „Ich möchte alles richtig machen. Und ich habe keine Ahnung, was da alles passiert!“

 

Vorgestellt

 

Die Fachstelle Fehlgeburt und perinataler Kindstod (FpK) ist seit 2003 das schweizerische Kompetenzzentrum für nachhaltige Unterstützung beim Tod eines Kindes in der Schwangerschaft oder Perinatalzeit.

Sie bietet:

  • kostenlose Beratung per Telefon und E-Mail für betroffene Familien
  • Fachberatung für Hebammen, GeburtshelferInnen und weitere Fachpersonen im ganzen deutschsprachigen Raum
  • Kurse und Schulungen für Fachpersonen zur professionellen Begleitung bei frühem Kindstod.

 

Diagnosen, Prognosen und Realität

 

Durch pränatale Diagnostik, wozu bereits eine Ultraschalluntersuchung gehört, erfahren Eltern Aspekte über den Gesundheitszustand ihres ungeborenen Kindes. Basierend auf Diagnosen werden Prognosen erstellt. Diese geben Auskunft über einen möglichen Verlauf des weiteren Lebens des ungeborenen Kindes. Erfahren Eltern von Krankheiten und Fehlentwicklungen ihres Kindes, sind sie erst einmal schockiert. Werden die Diagnosen so interpretiert, dass es sich um unheilbare Krankheiten handelt und das Kind wahrscheinlich daran sterben wird, löst dies eine Erschütterung und tiefste Verunsicherung bei den Eltern aus. Das Gleiche geschieht, wenn sie erfahren, dass ihr Kind mit einer starken Beeinträchtigung leben wird. Sie erhalten die Nachricht von der Krankheit ihres Kindes mitten im Elternwerden. Sie unterbricht ein Kontinuum von Erwartung und Vorbereitung, von körperlichen Veränderungen, vielschichtigen Gefühlen und Gedanken. Die Frau ist schwanger, die Geburt ihres Kindes steht bevor, alles ist ausgerichtet auf Fürsorge und Hinwendung. Unmittelbar ist sie damit konfrontiert, dass vielleicht auch das Sterben ihres Kindes bevorsteht.

Was erfahren die Eltern mit der Diagnose? Welche Bedeutung hat dieser Befund für ihr Kind, für ihr Elternsein, für ihr weiteres Leben? Was bedeutet es im aktuellen Moment, was kann es in Zukunft bedeuten?

 

Einen Standpunkt finden

 

Es bedarf einiger Klärungen von Begriffen, die heute standardmäßig verwendet werden und Verwirrung stiften können. Durch die Pränataldiagnostik wird ein Befund erhoben, der eine Aussage macht über den kindlichen Gesundheitszustand. Wird eine Krankheit festgestellt, erfolgt eine Einschätzung zu möglichen kurativen Behandlungen für das Kind – intrauterin oder nach der Geburt. Stehen keine therapeutischen Möglichkeiten zur Verfügung und deutet die Prognose auf einen frühen Tod des Kindes hin, bietet eine palliative Versorgung die Grundlage der Betreuung bis zum Lebensende des Kindes. „Nicht lebensfähig“ oder „mit dem Leben nicht vereinbar“ sind keine medizinischen Diagnosen und keine korrekten Beschreibungen (Geneva Declaration 2014). Fakt ist, dass ein Befund vorliegt über eine Krankheit des Kindes und der daraus abgeleiteten Prognose, dass es wahrscheinlich außerhalb des Mutterleibes nicht lange leben wird. Eine Einschätzung, mehr oder weniger sicher, ohne Gewissheit. Im Moment der Diagnose lebt das Kind, es ist also – zumindest im Uterus – lebensfähig und seine Krankheit (noch) mit dem Leben vereinbar. Die Frau ist noch schwanger, die Eltern sind Eltern und bleiben dies, wie auch immer das weitere Leben ihres Kindes verläuft.

 

Realisieren und empfinden

 

In der Regel ist die Gesundheit der Mutter zum Zeitpunkt der Feststellung der Krankheit des Kindes nicht gefährdet, es besteht also kein dringender geburtshilflicher Handlungsbedarf. Die Diagnose, die im Zentrum steht und nach Handlung verlangt, ist die unmittelbare Krise der Eltern. Die schockierende und verunsichernde Krankheitsmitteilung wirkt wie eine Bedrohung und sie suchen als erste Reaktion verzweifelt nach einer „Lösung“, dem zu entkommen.

Die Hebamme fragt Frau W. während des Telefonats, wie es ihrem Kind im Moment gehe. Die Mutter hält erstaunt inne, schweigt, zögert ... „Also, jetzt bewegt es sich ... eigentlich wie immer.“ Das wirkt, als hätte sich eine Tür geöffnet. Frau W. beginnt zu weinen, sagt, dass sie überhaupt nicht begreifen und glauben könne, was da alles geschieht. Und das sie doch noch überhaupt nicht bereit sei für die Geburt, dass alles jetzt so schnell gehe. Sie hätte sich das alles ganz anders vorgestellt.

Im Gespräch mit der Hebamme knüpft sie an ihre Gefühle, Empfindungen und Gedanken im Kontinuum an, also an das, was bisher war und was vorgesehen ist. Und sie ist zum ersten Mal seit der schockierenden Nachricht vor 48 Stunden wieder im Kontakt mit ihrem Kind.

 

Ermächtigung zur Wahl

 

Der Schwangerschaftsabbruch, der bei fortgeschrittener Schwangerschaft mit einem Fetozid eingeleitet wird, ist eine Prozessbeschleunigung. Medizinische Maßnahmen führen zum vorzeitigen Tod und zur vorzeitigen Geburt des Kindes. Den meisten Eltern wird heute nach der Diagnose aufgezeigt, dass sie eine Entscheidung treffen müssen zwischen dem Schwangerschaftsabbruch und dem Austragen des Kindes. Rückblickend stufen Eltern diesen Entscheidungsdruck als größte Belastung im ganzen Geschehen ein (Fleming 2015).

Die Zeit direkt nach der Mitteilung der Diagnose ist möglicherweise die wichtigste Phase, um die Copingfähigkeit der Eltern zum Durchleben dieses Lebensereignisses zu stärken oder zu verbessern (Maurer 2015). Für eine Entscheidung unter Zeitdruck besteht kein Grund. Es geht primär auch gar nicht um eine Entscheidung. Es geht vielmehr darum zu realisieren, was die Diagnose und die zu erwartende Prognose in den Eltern auslöst, was sie empfinden können und welche Bedeutung dies im Moment für sie hat (Rost 2015).

Statt des Entscheidungszwangs geht es um Ermächtigung zur Wahl der Gestaltung. Vergleichbar mit der Situation, wenn das Kind intrauterin verstirbt. Eltern erleben es als elementar wichtig, Zeit zu haben, um die Bedeutung der Diagnose zu realisieren und sich auf die weiteren Schritte vorzubereiten (Samuelson et al. 2001). Die Gestaltung der verbleibenden Zeit mit ihrem Kind beinhaltet viele kleine und große Entscheidungen. Das ist ein Prozess, in dem sie durch eine Krise gehen und der schließlich dazu führt, dass sie Verantwortung übernehmen. Dabei kommt es zu einer Verbindung von Wissen und Fühlen (Schmid 2011).

Lässt die Prognose auf mehr oder weniger schwere Beeinträchtigungen für das Kind schließen, die seine Lebensfähigkeit jedoch nicht gefährden, entstehen komplexe ethische Fragestellungen. Nach der Auseinandersetzung mit der Bedeutung und Auswirkung der Krankheit für ihr Kind und für sie als Familie sind die Eltern gefordert, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen, die ihnen lebbar erscheinen und die sie sich und ihrem Kind zumuten. Der Kontakt zu ihren Gefühlen und zu ihrem Kind und die Einbindung in ihren gesamten Lebenskontext sind Voraussetzungen für die Eltern, um tragfähige und lebbare Entscheidungen zu treffen. Eingebunden ins Kontinuum Elternschaft können sie auch bei einem Schwangerschaftsabbruch Hinwendung und Fürsorge für ihr Kind ausüben, Elterngefühle empfinden und ausleben. Sie können den Bondingprozess zu Ende führen anstelle eines abrupten Beziehungsabbruchs.

Frau W. sagte den Termin am nächsten Tag zur Geburtseinleitung ab. Am Wochenende nahmen sie und ihr Mann sich Zeit, gemeinsam zu schauen, wie sie ihrem Kind in seinem kurzen Leben Eltern sein können. Da war das starke Bedürfnis, für ihr Kind zu sorgen und alles mit ihm zu erleben, was noch möglich war. Das führte zu dem gemeinsamen Entscheid, nicht beschleunigend einzugreifen. In der 35. Schwangerschaftswoche kam ihre Tochter spontan zur Welt. Nach zwei Tagen in der Klinik wurde sie zu Hause von ihren Eltern und Fachleuten palliativ betreut und starb elf Tage nach der Geburt. Elf Tage begrüßen, staunen, trauern, freuen.

 

Eltern und Fachleute in Not

 

Ratsuchende Eltern wenden sich in der Not entweder an die Fachstelle FpK, wenn sie unter Entscheidungs- und vermeintlichem Zeitdruck stehen. Oder nach dem Schwangerschaftsabbruch, wenn sie schmerzhaft realisieren, was geschehen ist. Dann sind sie meistens konfrontiert mit Schuldfragen, Orientierungslosigkeit, Trauer über Verpasstes. Und sie haben Hemmungen, über die Todesumstände ihres Kindes zu sprechen. Sie sind nicht frei, ihre schmerzhafte Erfahrung offen mit ihrem Umfeld zu teilen. Diese Isolation erleben sie als zusätzliche Belastung, um den Tod ihres Kindes zu bewältigen.

Auch die involvierten Fachleute suchen Rat. Geburtshilfliche Teams in Kliniken setzen sich in Schulungen mit den Herausforderungen dieser Betreuungssituationen auseinander. Der Umgang mit den eigenen Gefühlen und mit ethischen Fragen steht dabei im Zentrum (Fachstelle Fpk 2015). Insbesondere Hebammen erleben immer wieder das Dilemma, dass sie im fragmentierten Betreuungsmodell in der Rolle der Ausführenden sind und die Einbindung in den Entscheidungsfindungsprozess der Eltern fehlt. Das erschwert den persönlichen Umgang mit der Situation massiv (Kenworthy & Kirkham 2011; Cignacco 2002). Sie sind dadurch oft gezwungen, übereilte, routinemäßig angewandte Handlungen auszuführen. Sie werden daran gehindert, die physiologischen Prozesse von Geburt, Sterben und Krisenbewältigung zu unterstützen (Maurer 2015).

 

Ausblick

 

Wie kann aus dem heutigen normativen Vorgehen, das sich größtenteils an medizinischen und beschleunigenden Interventionen orientiert, zu einem adäquaten Betreuungsmodell gefunden werden? Eine Betreuung, die Familien in Krisen einen sicheren Raum durch Kontinuität und Präsenz bietet und ihnen Aufgehobensein ermöglicht. Eine Begleitung, die die Entwicklung ihrer Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit unterstützt und sie in ihrem Elternsein bestärkt. Also die Realität fördert, die Beziehung zu ihrem Kind stärkt und das Abschiednehmen vorbereitet. Es gehört zur originären Hebammenarbeit, dem Kontinuum zu folgen und die physiologischen Prozesse von Elternschaft zu fördern und zu unterstützen. Für die Weiterentwicklung der Familienbegleitung könnte es dienlich sein, vertiefter über die Rolle der Hebammenarbeit in Verlustsituationen und eine sachkundige interdisziplinäre Zusammenarbeit nachzudenken.

 

Lehrgang

 

Im Herbst 2016 startet der 1. Lehrgang zur sachkundigen Familienbegleitung beim frühen Tod eines Kindes in Bern/Schweiz für Fachpersonen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum.

Informationen auf: www.fpk.ch.

Rubrik: Beruf & Praxis | DHZ 02/2016

Literatur

Cignacco E: Beetween professional duty and ethical confusion: midwives and selective termination of pregnancy. Nursing Ethics 2002. 9 (2): 179–191

Fachstelle Fehlgeburt und perinataler Kindstod: Evaluation einer klinikinternen Schulung in einem Schweizer Regionalspital. Fachstelle Fehlgeburt und perinataler Kindstod 2015 Bern. unveröffentlicht

Flemming V et al.: Mourir au début de la vie. Les Dossiers de la Maïeutique 2015. 2(3): 109–117
»