Leseprobe: DHZ 08/2016
Europäische Trinkkultur

Der kultivierte Rausch

Als Hauptdurstlöscher dient den Menschen von jeher Wasser. Je nach Verfügbarkeit ergänzten sie es durch Säfte oder Tee. Doch auch Bier und Wein zählten zu den Standardgetränken in traditionellen Kulturen und sie sind es bis heute. Peggy Seehafer,
  • Ratskeller brauten ihre eigenen Biere in den Rathäusern - und benannten sie entsprechend ihrer Konsumenten.

In der Frühzeit konzen­trierten sich die Menschen vor allem auf die Beschaffung von Nahrung. Ihre Lagerung setzt Sesshaftigkeit und Überfluss voraus. Erst vor 150.000 Jahren in der Altsteinzeit ließen sich die ersten Menschen nieder. Sie begannen Getreide planmäßig anzubauen und zu verarbeiten. So konnten sie auch alkoholische Getränke zubereiten und aufbewahren.

In Catal Hüyük in der Türkei tranken die Menschen nachweislich bereits 7.000 vor Christus Bier und Wein aus Sadar, der Frucht des Zürgelbaums (Celtis australis). Wein aus Trauben wird erst etwa ab 3.000 vor Christus durch archäologische Funde belegt. Obstweine aus vergorenen Wild- oder Anbaufrüchten waren vorher bekannt. Der Alkoholgehalt der Getränke war früher deutlich niedriger als heute, weil die Wildhefen ab einer bestimmten Alkoholkonzentration die Umwandlung von Zucker in Alkohol einstellen. Heute werden robustere Kulturhefen zu Gärung eingesetzt.

Alle stärke- und zuckerhaltigen Rohstoffe bilden die Grundlage für alkoholische Getränke:

  • für Bier: Hirse, Gerste, Weizen, Mais, Reis als Getreidearten sowie Maniok und weitere Knollenfrüchte
  • für Wein: die Palmenfrüchte der Tropen und Subtropen, seltener Trauben
  • für Met: der Honig in Mittel- und Nordeuropa sowie am Hindukusch.

 

Wein als Statussymbol

 

Weinbau ist aufwändig. Auf den begrenzten Ackerflächen wurden zu Beginn der Sesshaftigkeit eher Nahrungspflanzen angebaut. Es ist in Quellen nicht ausreichend belegt, wie früh Traubenwein gekeltert wurde und wer ihn wann zu welchen Anlässen konsumierte. Er scheint vor allem bei religiösen Anlässen und Beerdigungen eine Rolle gespielt zu haben.

Alexander der Große, makedonisch-griechischer Herrscher (356–323 v. Chr.), galt als großer Krieger und ging als einer der ersten Alkoholiker in die Geschichtsbücher ein. Er war berühmt für seine Eroberungen des ägyptischen Reichs und starb mit 32 Jahren. Es ist belegt, dass die Makedonier ihren Wein im Gegensatz zu den Griechen unverdünnt tranken. Das galt als barbarisch, aber als außerordentlich männlich. Die vielen Siege verhalfen Alexander dem Großen zu vielen Trinkanlässen und als Beweis für die Führungsposition innerhalb der sozialen Gruppe musste dieser Anspruch immer wieder durch Gelage bekräftigt werden. Daher wird diskutiert, ob der soziale Druck Alexander den Großen in eine Alkoholabhängigkeit und zu seinem frühen Tod führte (Feuerlein 1998).

 

(Brannt-)Wein als Medizin

 

Lange blieb der Wein der gehobenen Gesellschaft vorbehalten. Allerdings wurden ihm heilende Kräfte für „Kranke und Schwache" zugeschrieben, so auch im Märchen von Rotkäppchen. Besonders Mönche in den Klöstern sprachen ihm so sehr zu, dass im neunten Jahrhundert die Obrigkeit die Tagesrationen reduzierte und genau vorgab (Müller 2003).

Erst 1849 wurde die Trunksucht von dem schwedischen Arzt Magnus Huss als Krankheitsbild beschrieben (Huss 1852). Durchgesetzt hat sich eine Definition aber erst 100 Jahre später mit Elvin Morton Jellinek durch seine Klassifikation in fünf Kategorien (Jellinek 1951).

Dennoch hält sich bis heute die Meinung, ein gewisser regelmäßiger Alkoholkonsum schütze vor bestimmten Krankheiten. Den Branntwein entdeckten Alchemisten im Spätmittelalter beim Destillieren. Zu Beginn wurde er ausschließlich für Arzneien verwendet, als Genussmittel setzte er sich erst allmählich durch.

 

Kriegsvorbereitung

 

Alkohol mildert Sorgen, reduziert Ängste und bestärkt den Mut. Daher wurde er schon von alters her zur Vorbereitung auf einen Kriegseinsatz verwendet. Sowohl bei den Indianern im nördlichen Paraguay im 17. Jahrhundert als auch im Ersten und Zweiten Weltkrieg bekamen die Soldaten in den vordersten Linien ständig Alkohol, um ihre Fahnenflucht zu verhindern (Gonser 1915). Es gab aber gleichzeitig Bestrebungen, den Alkoholgenuss im Krieg zu verringern: „Auch verführt Alkoholgenuss leicht zu Unmäßigkeit und zur Lockerung der Mannszucht", heißt es in der deutschen Kriegs-Sanitätsordnung aus dem Ersten Weltkrieg (Gonser 1915).

 

Armut trinkt ...

 

Bier und Wein wurden in Europa täglich sowohl beim Arbeiten als auch beim Feiern getrunken. Der hohe Nährwertgehalt der verschiedenen Alkoholika und ihre gute Haltbarkeit ohne Kühlung führten in bestimmten Umgebungen dazu, dass der Alkohol teilweise die feste Nahrung ersetzte und nicht nur ergänzte.

Noch 1550 berichten Quellen, dass die Landbewohner mehr von Bier als von festem Essen gelebt hätten. Bier diente als Zwischenmahlzeit und wurde ohne Bedenken auch Säuglingen gegeben (Müller 2003).

 

... Reichtum säuft

 

Üppiges Essen macht träge und müde, der Genuss geistiger Getränke belebt die Sinne und beflügelt die Gedanken (Müller 2003). Daher diente Alkohol in vielen Kulturen nicht nur der Geselligkeit, sondern wurde bei Ratsversammlungen oder schamanischen Kulten eingesetzt, wenn wichtige Entscheidungen zu fällen waren. Es bestand die Hoffnung, dass das Bewusstsein so für höhere, göttliche Eingebungen empfänglicher würde.

Bei den antiken Philosophen dienten die Symposien (Trinkgelage) der Diskussion unter Dichtern und Denkern. Was früher in traditionellen Dorfgesellschaften beim Ältestenrat eingesetzt wurde, findet seine Namensgebung in den „Ratskellern" der Städte bis heute. Es ist immer noch Bestandteil bei Vorstandssitzungen und nicht zuletzt bei Hebammenkongressen.

 

Geschlechtertrennung

 

Grabbilder aus dem alten Ägypten zeigen, dass Frauen und Männer gemeinsam Alkohol konsumierten. Auch bei den Etruskern und Römern nahmen die Frauen an den Gelagen teil, die Griechen allerdings hielten sie von ihren Symposien fern. Die Trennung der Geschlechter fand eher in den entstehenden Städten statt.

Ratskeller waren lange den Stadträten, also nur Männern ihres Standes vorbehalten. Das sogenannte Herrengedeck mit Bier und Schnaps schließt Frauen schon im Namen aus.

In Wirtshäusern für das gewöhnliche Volk tranken Männer und Frauen gemeinsam. Auch Bäuerinnen und Landarbeiterinnen durften Alkohol trinken, weil Bier als Nährstoff und Durstlöscher bei der Ernte akzeptiert und gebräuchlich war. Nachweise über den Alkoholkonsum bürgerlicher Frauen sind kaum durch Quellen gesichert. Das wird als Tabuisierung des Alkoholgenusses der weiblichen Mittel- und Oberschicht interpretiert (Hirschfelder 2005). Dabei stellen sich große Unterschiede zwischen unverheirateten und verheirateten Frauen dar. Das heißt keineswegs, dass die verheirateten Frauen keinen Zugang zum Alkohol gehabt hätten. Ein Branntwein beim Einkauf im Viktualienladen, ein Fruchtwein zum Dessert und Rumtopf zum Pudding waren üblich, aber durch den Haushaltsvorstand kontrollierbar.

 

Damengedeck

 

Unverheiratete Frauen tranken immer dann zu viel, wenn sie arbeiteten, über eigenes Geld verfügen konnten und Selbstvertrauen erworben hatten. Mit der Einführung der Industrialisierung entstand eine ganz eigene Trinkkultur der sogenannten Fabrikmädchen, die auch eine Vorreiterrolle in der Emanzipationsbewegung der Frauen darstellte. Die Light-Version des Herrengedecks, das sogenannte Damengedeck, kombiniert ein alkoholisches mit einem nicht alkoholischen Getränk.

Diese Form des Trinkverhaltens von erwerbstätigen Frauen findet sich auch in der heutigen Zeit.

 

Schwangere und Wöchnerinnen

 

Schon immer wurde Schwangeren empfohlen, die gewohnte Lebensweise fortzuführen (Runge 1903; Stoeckel 1941). Dieser Rat erlaubte einen großen Spielraum an Weitergenuss von Suchtmitteln und wird heute deutlich eingeschränkt.

Das Hebammenlehrbuch von 1920 verweist im Kapitel Lebensregeln für Schwangere noch darauf: „Wein und Bier können die Schwangeren trinken, die daran gewöhnt sind, aber nur mit großer Zurückhaltung, da ein Übermaß an Alkoholgenuss nicht nur der Frau selbst, sondern vor allem der Gesundheit des Kindes Gefahren bringen kann." In den Lehrbüchern von 1940 ist noch nicht bekannt, ob der gewohnheitsmäßige Gebrauch von Alkohol sich toxisch auf das Ungeborene auswirkt oder inwieweit „es sich um erbbedingte Auswirkungen einer minderwertigen Keimmasse von Säufern handelt. Der einmalige akute Rauschzustand eines der beiden Erzeuger während der Erzeugung würde sich wahrscheinlich nicht schädigend auf die Entwicklung des Kindes auswirken." (Seitz 1941) Zur gleichen Zeit wird den stillenden Müttern schon empfohlen, gar keinen Alkohol zu genießen, weil der Alkohol in die Milch übergehe und das Kind ruhig und besonders „artig" mache (Stoeckel 1941).

Während man bis heute nicht genau weiß, welche Menge Alkohol bei Schwangeren toxisch auf das Kind wirkt, war man sich um 1990 relativ sicher, dass die teratogene Wirkung erst bei 40 Gramm Alkohol pro Tag anfange. Das wären etwa drei Gläser Wein oder Bier (Rabe 1990). Das findet sich auch in der Prosa dieser Zeit wieder. In dem Roman „Winterkinder" wurde der Alkoholgenuss auf einer Präpartalstation eines Krankenhauses keineswegs unterbunden, sondern durch den rollenden Kioskwagen auch bettlägerigen Schwangeren ermöglicht (Mørch 1981).

Mit Beginn des neuen Jahrtausends wurde in dem Bewusstsein, dass es keine gesicherten Grenzwerte gibt, zunehmend eine Null-Promille-Empfehlung für Schwangerschaft und Stillzeit herausgegeben (Seehafer 2007).

 

Alkohol in der Geburtsmedizin

 

Um 1900 diente Alkohol zur Therapie der Puerperalsepsis in Form von Kognak und Wasser im Verhältnis eins zu eins verrührt mit einem Eigelb oder schweren, möglichst sauren Weinen in großer Menge. „Septische Wöchnerinnen vertragen enorme Gaben Alkohol vorzüglich und besitzen eine ausgesprochene Immunität gegen die Intoxikation." (Runge 1903)

Gemäß der Lehrbücher von 1940 wurde Alkohol in diesen Fällen sogar intravenös angewendet: 5 Gramm Alkohol pro 1.000 Milliliter fünfprozentige Glucoselösung (G5) wurden in 24 Stunden verabreicht, am nächsten Tag 15 Gramm Alkohol und ab dem dritten Tag 20 Gramm Alhohol pro 1.000 Milliliter so lange wie nötig. Die bakterizide Wirkung des Alkohols wurde bereits damals bezweifelt, weil sich trotz Therapie Streptokokken im Blut fanden, aber der Alkohol schien die Abwehrkraft des Körpers zu stärken (Stoeckel 1941).

Die Wehenhemmung mit Alkohol fand nur in einer kurzen Phase der 1970er Jahre Verwendung in der Geburtshilfe. Sie findet sich aber noch Mitte der 1980er Jahre als Empfehlung bei Kontraindikationen zu bestimmten Tokolytika oder als orale Gabe vor der Aufnahme in eine Klinik als Notfallmedikation (Bilek et al 1985).

Obwohl als Goldstandard gilt, dass Schwangere möglichst gar keinen Alkohol konsumieren sollten, empfehlen Hebammen noch heute Wehencocktails auf alkoholischer Basis und FrauenärztInnen ein beruhigendes Glas Rotwein am Abend für ungeduldige Schwangere. ÄrztInnen, die selbst Alkohol konsumieren, erfragen den Alkoholkonsum ihrer PatientInnen weniger konsequent und weisen seltener auf die schädigende Wirkung hin (Geirsson 2011).

 

Hebammen und Alkohol

 

Früher war es üblich, die Hebamme zum „Kindelbier" bei der Taufe einzuladen. Alkohol und Hebamme waren in der Gesellschaft eng miteinander verkoppelte Begriffe. Die Versuchung, den verpflichtend mitzuführenden Alkohol für anderes als für die Desinfektion der Hände zu verwenden, war groß (Hebammenlehrbuch 1920). Alkohol, der nicht zum Trinken gedacht ist, wird heutzutage vergällt, das heißt für den menschlichen Genuss unbrauchbar gemacht (Bundesfinanzministerium 2013).

Bis heute ist Alkohol ein übliches Geschenk oder ein Dank von Eltern an die Hebammen, obwohl natürlich alle Eltern zu Recht erwarten, dass die Hebamme Alkohol nur in ihrer Freizeit genießt und nüchtern zur Arbeit erscheint.

 

Alkohol als legale Droge

 

Wie viel Alkohol konsumiert wird und zu welchen Anlässen, ist durch eine lange Historie kulturbedingter Einstellungen und die Verfügbarkeit charakterisiert. Diese Faktoren beeinflussen auch das Risiko für Abhängigkeit und Missbrauch in einer Gesellschaft. Für die deutschen Kinder und Jugendlichen wurde die erste Polizeiverordnung „zum Schutz der Jugend vor Alkohol- und Tabakkonsum" im Jahr 1919 eingesetzt. Seit 1952 gibt es das Jugendschutzgesetz (JuSchG). In § 9 regelt es den Schutz von Kindern und Jugendlichen, indem es die Abgabe von Alkohol und dessen Konsum vor dem 16. Lebensjahr verbietet.

Obwohl Alkohol jedes Jahr Hunderttausende in die Abhängigkeit oder in den Tod führt, ist er als Kulturgut geschützt und darf im Gegensatz zu anderen Drogen beworben werden. Nur in wenigen Kulturkreisen konsumieren die Menschen so viel Alkohol wie in Europa. Je nach Gegend gehören Bier oder Wein zu jedem Mittag- oder Abendessen dazu wie Brot und Butter.

 

Flüssiges Brot

 

Der Begriff „flüssiges Brot“ für Bier stammt aus dem alten Ägypten, wo ein Getreideteig angesetzt, aber nicht ganz durchgebacken wurde. Der rohe Teig in der Mitte wurde mit süßem Dattelsaft versetzt und abgeseiht. Das daraus entstehende Bier war fertig, wenn die Gärung einsetzte. Es wurde abgefüllt und luftdicht verschlossen. Im alten Ägypten lagen deswegen Bäckereien und Brauereien oft dicht beieinander, wie ein Fund in Hierakonpolis von 3.500 vor Christus belegt. Nicht nur dort wurde der Arbeitslohn in Form von Nahrungsmitteln entrichtet. Als Existenzminimum galten fünf Laibe Brot und zwei Krüge Bier am Tag (Montet 1978). Bier galt nicht nur im alten Ägypten als Nationalgetränk, sondern auch in Europa (Helck 1971).

Rubrik: Politik & Gesellschaft | DHZ 08/2016

Literatur

Bilek K et al.: Lehrbuch der Geburtshilfe für Hebammen. Barth Verlag Leipzig 1985

Bundesfinanzministerium: Verordnung des Bundesministers für Finanzen über die Vergällung von Alkohol (VO-Vergällung) BGBl. II Nr. 326/2013

Feuerlein W et al.: Alkoholismus, Missbrauch und Abhängigkeit: eine Einführung für Ärzte, Psychologen und Sozialpädagogen. Thieme 1998
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