Leseprobe: DHZ 07/2019
Gebärdensprache

Die älteste Sprache der Welt

Eine gehörlose Frau und ihre Familie rund um die Geburt ihres Kindes zu begleiten, braucht Verständnis für ihre Situation und ihre Kompetenzen. Und das Bewusstsein für die eigene Körpersprache, in der vieles schon angelegt ist. Auch digitale Kommunikationsmöglichkeiten können hilfreich sein. Doch vor allem braucht es Mut und Empathie, um diese für beide Seiten spannende Herausforderung anzunehmen. Irene Meyer,

 

Mein Interesse für die Gebärdensprache entstand, als ich einmal in meiner Heimatstadt Göttingen zwei gehörlose Menschen beobachtete. Ich fand das ziemlich spannend. Sie kommunizierten so schnell mit minimalen Bewegungen. Ich fragte mich, wie die Verständigung mit einer gehörlosen Frau unter der Geburt wohl funktionieren würde. Die Begleitung einer Gehörlosen während Schwangerschaft und Wochenbett als Hebamme zu meistern, dachte ich, wäre sicher wesentlich leichter als eine Geburtsbegleitung. Die Vorstellung, als Gehörlose unter der Geburt die gesprochenen Wörter nicht zu verstehen, nur vielleicht die Mimik der Hebamme zu deuten oder ihre angespannte Körperhaltung wahrzunehmen, stellte ich mir schwierig vor.

Ich habe dann ein Jahr lang die Gebärdensprache bei gehörlosen LehrerInnen an der Gebärdensprachenschule in Heidelberg gelernt. Leider habe ich vieles davon wieder vergessen. Die Gebärdensprache ist wie eine Fremdsprache, die nur in Erinnerung bleibt, wenn sie regelmäßig genutzt wird.

Die Gebärdensprache ist eine eigene Sprache. Wir können auch sagen, sie ist die älteste Sprache der Welt, so wie der Beruf der Hebamme der älteste Beruf der Welt ist. Das passt gut zusammen. Im Alltag wenden wir ständig Gebärdensprache an, nur ist uns das nicht bewusst, aber wir verstehen sie. Wenn ich mit dieser Voraussetzung einer gehörlosen Schwangeren begegne, habe ich schon den ersten Schritt gemacht und der zweite ist viel einfacher.

 

Ohne Worte

 

Viele Kolleginnen haben sicher schon Erfahrungen mit gehörlosen Eltern gemacht und festgestellt, dass es gar nicht so schwierig ist, Gebärdensprache anzuwenden. Schon in den ersten Jahren mit einem Kind wenden wir sie unbewusst an. Wir gebärden mit unseren Kindern und sie gebärden mit uns. Sie strecken die Arme aus, wenn sie auf den Arm wollen, und ältere Kinder machen den Mund auf und zu, wenn sie etwas zu Essen probieren wollen. Kinder imitieren, was sie sehen. Sie nehmen uns an die Hand und führen uns in einen anderen Raum, um uns etwas zu zeigen. Und umgekehrt bewege ich meine Hände zu mir, um zu sagen: »Komm her.« Ich tippe an meine Stirn, um zu sagen: »Ist das dumm!« Oder ich öffne die geschlossenen Handflächen nebeneinander, um zu sagen: »Lass uns ein Buch anschauen.« Und ich bewege die Hände nach unten, um jemanden zu beruhigen.

Gehörlose Mitmenschen sind uns immer ein Schritt voraus, sie haben die Dinge längst wahrgenommen, bevor wir sie sehen. Um das fehlende Hören zu kompensieren, sind sie visuell viel schneller als Hörende. Früher wurden Gehörlose ausgegrenzt, sie hatten oft keine oder eine schlechtere Schulbildung und entsprechende Probleme. Heute haben junge gehörlose Menschen eine viel bessere Bildung. Sie haben das Recht, zur Schule zu gehen, von einem Dolmetscher begleitet zu werden, zu studieren und eine Ausbildung zu absolvieren.

 

Erstkontakt per E-Mail

 

Der erste Kontakt einer gehörlosen Frau mit mir findet über E-Mail statt. Hierfür ist es wichtig zu wissen, dass Lesen und Schreiben für gehörlose Menschen wesentlich anstrengender ist als für Hörende. Denn wie eine Fremdsprache, hat die Gebärdensprache ihre eigene Grammatik. So wird beispielsweise der Satz »Ich sehe eine süße Katze und einen Jungen, der ihr Milch gibt«, gebärdet als: Ich sehe Junge – Katze süß – Milch gibt. Normalerweise klappt der schriftliche Kontakt mit den Frauen gut. Beim ersten Besuch versuche ich dann, meine Gebärdensprache mit der Frau abzustimmen. Oft verstehe ich am Anfang wenig, es geht viel zu schnell und die Gebärdensprache hat auch noch unterschiedliche Dialekte. Genauso wie wir das von unserer Sprache kennen, gibt es für bestimmte Worte verschiedene Ausdrücke und entsprechend auch andere Gebärden. Man kann auch einzelne Wörter aufschreiben, aufmalen und eventuell ein hörendes Familienmitglied als Dolmetscher einsetzen. Aber im Allgemeinen findet die Kommunikation mit den Händen, der Mimik und der Körpersprache statt.

Gebärdensprache ist wie eine Fremdsprache und daher braucht es ein wenig Zeit, bis die Verständigung ins Fließen kommt. Je häufiger der Kontakt, um so einfacher spielen sich Frau und Hebamme ein. Ich muss die Frau gut beobachten und ihre Gebärden verstehen können, dann kann ich mit ihr ohne gesprochene Worte kommunizieren. Gerade beim ersten Kind ist die Familie – wie alle Eltern – noch etwas unsicher und braucht mehr Unterstützung.

Eine gehörlose Frau im Kreißsaal – alle schauen auf das CTG, vielleicht noch mit ernstem Gesichtsausdruck, die Augenbrauen zusammengezogen, Mundwinkel nach unten und keiner gebärdet mit den werdenden Eltern – das ist die Hölle für sie. Sie lesen aus der Mimik und machen sich Sorgen. Da ist es besonders wichtig, sich selbst zu korrigieren, den Eltern jeden Schritt zu erklären und eventuell mit beruhigenden Handbewegungen oder einem Lächeln die Situation zu entschärfen. Bei hörenden Eltern ist es einfacher – ich spreche mit ihnen, wenn ich den Raum betrete, erkläre und entscheide mit ihnen zusammen im Gespräch. Bei gehörlosen Eltern braucht die Begleitung mehr Zeit und ein Hebammenwechsel im Schichtdienst wirkt sich ungünstig auf die Geburt aus.

 

Stetiger Blickkontakt

 

Jede Skepsis in der Mimik muss der Frau erklärt werden, jede Untersuchung muss vorher angekündigt und mit ihr besprochen werden. Dieses Vorgehen ist grundsätzlich bei jeder Frau selbstverständlich. Bei Hörenden kann ich mein Vorhaben aber einfach ankündigen, es erklären und mit der Frau abstimmen. Mit einer gehörlosen Frau sollte ich immer Blickkontakt haben und ihr mit einem Lächeln zeigen, dass alles in Ordnung ist. Ich kann ihr gebärden, was ich vorhabe und warum, eventuell mit Bildern aus Broschüren oder Büchern. Ich suche mir Hilfsmittel, zeige beispielsweise den sterilen Handschuh, um eine vaginale Untersuchung anzukündigen, und frage sie, ob sie damit einverstanden ist. Ich kann meiner Fantasie freien Lauf lassen, um Dinge anzuzeigen, die die Frau versteht. Das braucht mehr Zeit und Einfühlungsvermögen, aber es macht Spaß, ist spannend und sehr erfolgreich.

Da Hebammen meist keine Kenntnisse in der Gebärdensprache haben, können sie mit Schautafeln aus Geburtsvorbereitungskursen erklären, wie weit die Geburt fortgeschritten ist. Solche Bilder vom Geburtsmechanismus, zur Lage des Kindes oder zur Muttermundsweite sind in jeder Klinik im Kursraum vorhanden.

Wenn ich Kontakt mit der Frau aufnehme, darf ich nicht hinter ihrem Rücken sprechen. Ich sollte sie anschauen, mich vor sie hinstellen, ihr nicht den Rücken zuwenden, sonst sieht sie nichts und muss raten, was jetzt passiert. Das wäre anstrengend für sie und ihre Familie. Es könnte Stress auslösen und das wäre nicht gut für die Geburt. Wenn es nicht anders geht, berühre ich sanft den Arm der Frau, damit sie nicht erschrickt.

Viele Fragen kann man mit den Eltern vorher klären. Ich tippe mit dem Finger auf mein Handgelenk, um die Uhrzeit anzudeuten. Ich zeige zwei Finger, die einen Kreis beschreiben, um zwei Stunden anzuzeigen. Ich schreibe mit dem rechten Zeigefinger über meine linke Handfläche, um ihr anzukündigen, dass ich dokumentiere. Ich tippe mit dem Zeigefinger auf mich und zeige dann zur Tür, um zu erklären, dass ich den Raum verlassen werde.

 

Gebärdensprache für den Notfall

 

Schwierig wird es in Notsituationen, denn schnelles Handeln lässt keine Zeit, mir Gedanken zu machen, wie ich es am besten gebärde. Entscheidungen im Notfall sind für hörende Eltern natürlich viel einfacher zu verstehen, aber auch für Gehörlose sind die richtigen Worte wichtig, um sie nicht im Schockzustand zurückzulassen. Mögliche besondere Situationen sollten deshalb im Vorgespräch mit verständlichen Gebärden notiert werden, die dann im Notfall angewendet werden. So bespreche ich im Vorfeld der Geburt mit der Frau, welche Gebärde ich benutzen soll, falls eine kritische Situation entstehen sollte, wie zum Beispiel ein Dammschnitt, eine Saugglockengeburt, eine Sectio oder eine Periduralanästhesie.

Nach der Geburt sollten alle Untersuchungen am Kind im Blickfeld der Frau geschehen. Die meisten Familien wollen wissen, ob ihr Kind hören kann. Diese Frage lässt sich in den ersten Tagen nach der Geburt noch nicht beantworten.

 

Auch digitale Medien einsetzen

 

Gehörlose wie hörende Familien benötigen im Wochenbett viel Unterstützung. Während hörende Eltern kurz noch mal anrufen, um etwas zu klären, müssen gehörlose Eltern eine SMS oder E-Mail schreiben und warten, bis Antwort kommt. Um auf sich aufmerksam zu machen, können sie das Telefon eventuell anklingeln lassen, damit die Hebamme mitbekommt, dass eine Nachricht versendet wurde.

Wie jede andere Wöchnerin beobachte ich die gehörlose Frau im Wochenbett. Ich schaue, wie sie ihr Kind anlegt, wie sie sitzt, frage, ob sie gegessen, getrunken, geschlafen hat. Dabei versuche ich, mit den Augen der Gehörlosen zu schauen, sie wahrzunehmen und mit ihr zu kommunizieren. Hebammen ohne Kenntnisse der Gebärdensprache können mit Bildern arbeiten und die wichtigsten Dinge auf ein Blatt Papier zeichnen wie beispielsweise Uhrzeiten oder Stillmahlzeiten.

Kürzlich habe ich eine gehörlose Frau betreut, die das ziemlich toll gemeistert hat. Als Türklingel hatte die Familie eine Lampe, die aufleuchtete. Die Eltern kannten sich mit allen Medien perfekt aus. Das Baby schlief bei der Mutter, so konnte sie immer mitbekommen, wenn es wach wurde. Manchmal habe ich Stift und Blatt benutzt, beim Neugeborenenscreening zum Beispiel. Alles andere war mit Gebärden zu meistern.

Die Kinderarzttermine habe ich telefonisch vereinbart, alles andere hat die Familie über das Internet geregelt. Die digitalen Medien sind in diesem Fall eine große Hilfe. Bei einer anderen Familie war die Frau gehörlos, der Mann hörend und er konnte keine Gebärdensprache. Das war schon schwieriger und die Zeit mit dem Neugeborenen stellte sich als Überforderung heraus. Die Frau kam aus Berlin und hatte einen Dialekt, den ich nicht gut verstand. Sie hat meine Gebärden nicht verstanden und ich ihre auch nicht. Wir mussten mit ihrer Mutter skypen, um bestimmte Dinge klären zu können. Jede Familie hat ja auch ihre eigenen, persönlichen Gebärden.

Diese Frau hat zusätzlich Hilfe vom Jugendamt bekommen und über die regelmäßigen Skype-Termine konnte ich dann doch mit ihr kommunizieren. Sie hat später Kontakt mit anderen Gehörlosen aufgenommen und dadurch entstand für die Zukunft mehr Sicherheit in der Familie.

 

Mehr Zeit und Zuwendung

 

Die Begleitung von gehörlosen Frauen braucht eine besondere Empathie und manchmal etwas mehr Zeit. Es ist gut, wenn Hebammen hier Kompetenzen erwerben und die Gebärdensprache erlernen. In einigen Städten gibt es ein ausreichendes Angebot – manchmal sogar über die Volkshochschulen.

Gleichzeitig möchte ich allen Kolleginnen empfehlen, diese Begleitung nicht so kompliziert zu sehen und einfach zu schauen, wie es mit der Kommunikation klappt – respektvoll und informativ, so wie mit jeder Frau.

Rubrik: Beruf & Praxis | DHZ 07/2019