Leseprobe: DHZ 07/2020
Süßstoffe

Eine gesunde Alternative?

Viele Frauen möchten nach der Geburt abnehmen oder vermeiden Zucker wegen eines Diabetes mellitus. Als Alternative greifen sie zu Süßstoffen – in späteren Jahren auch bei Einkäufen für ihre Kinder. Wie beurteilt die Wissenschaft mögliche Risiken? Was können Hebammen empfehlen? Michael van den Heuvel,

Keine Effekte auf den eigenen Blutzuckerwert, keine Kalorienaufnahme und später keine Kariesgefahr für das Kind: Süßstoffe stehen bei KonsumentInnen hoch im Kurs. Doch Vorsicht: Es gibt zahlreiche Hinweise – wenn auch keine Beweise – dass die Verbindungen in größeren Mengen unerwünschte Effekte zeigen. Einige Studien im Überblick.

 

Einfluss auf das Darmmikrobiom

 

US-ForscherInnen untersuchten Sucralose plus Acesulfam-K, eine häufige Süßstoffkombination in Lebensmitteln (Olivier-Van Stichelen 2019). Die Stoffe finden sich in Softdrinks oder Produkten für SportlerInnen. Sie gelangen durch die Plazenta teilweise in den Stoffwechsel des ungeborenen Kindes, werden nach der Geburt aber auch beim Stillen über die Muttermilch aufgenommen.

Bei der Studie erhielten schwangere und stillende Mäuse die Kombination – in einer Dosis, die umgerechnet menschlichen Höchstmengen entspricht sowie in der doppelten Dosis. Eine Kontrollgruppe von Mäusen bekam zum Vergleich nur Wasser.

Die Arbeitsgruppe untersuchte anschließend Blut-, Kot- und Urinproben von 226 Mäusebabys. Tatsächlich beeinflussten Sucralose plus Acesulfam-K das Darmmi­krobiom, sprich die Gesamtheit aller Mikroorganismen im Darm. In beiden Gruppen mit Süßstoffgaben fehlte den Tieren Akkermansia muciniphila, ein Darmbakterium. Man vermutet, dass dieser Keim beim Menschen antiinflammatorische Eigenschaften hat. Er soll auch das Risiko, an Typ-2-Diabetes oder an Adipositas zu erkranken, verringern. Darauf deuten frühere Tierexperimente hin.

Was leiten die ForscherInnen daraus ab? Sie berichten vor allem über dosisabhängige Effekte und warnen Schwangere und Stillende, große Mengen an Sucralose plus Acesulfam-K aufzunehmen. Inwieweit sich ihre Ergebnisse auf Menschen übertragen lassen, ist aber unklar. Denn Mäuse bilden den menschlichen Organismus nur in Teilen ab.

 

Höheres Diabetesrisiko

 

Australische ForscherInnen berichten jedoch von ähnlichen Ergebnissen bei Menschen (Young 2018). Sie rekrutierten gesunde 29 Probandinnen und Probanden, allerdings keine schwangeren oder stillenden Frauen. Von allen Teilnehmenden bekamen 14 pro Tag 92 mg Sucralose und 52 mg Acesulfam-K, was etwa 1,5 Litern eines handelsüblichen »Light«-Getränks entspricht. Die 15 anderen Teilnehmer erhielten ein Placebo. Zu Beginn der Studie und nach zwei Wochen wurden Stuhlproben entnommen, um die Arten der vorhandenen Mikroorganismen zu bestimmen. Die ForscherInnengruppe fand heraus, dass Süßstoffe zu deutlich weniger nützlichen Bakterienarten führten, die zur Fermentation von Nahrungsmitteln beitragen. Beispielsweise sank die Zahl an Butyrivibrio-Bakterien in der Gruppe mit Sucralose und Acesulfam-K. Dies korrelierte mit einer verringerten Freisetzung von Glucagon-like Peptide 1 (GLP-1), einem Peptithormon, welches an der Blutzuckerkontrolle beteiligt ist.

»Unsere Ergebnisse stützen das Konzept, dass Süßstoffe die Blutzuckerkontrolle bei gesunden Probanden verschlechtern, indem sie die Regulierung der Glukoseaufnahme und -entsorgung sowie Veränderungen im Gleichgewicht der Darmbakterien stören«, schreiben die AutorInnen in einer Pressemeldung. »Dies unterstreicht die klinische Relevanz von Nahrungsmitteln mit Süßstoffen für die Blutzuckerkontrolle.«

 

Süßstoff in der Schwangerschaft

 

Damit nicht genug: Weitere Risiken fanden kanadische WissenschaftlerInnen (Azad 2016): Ihre Kohortenstudie umfasste 3.033 Mutter-Kind-Paare aus der CHILD-Studie (Healthy Infant Longitudinal Development), einer bevölkerungsbasierten Geburtskohorte, in die von 2009 bis 2012 gesunde schwangere Frauen aufgenommen wurden.

Mehr als ein Viertel der Teilnehmerinnen (29,5 %) konsumierten während ihrer Schwangerschaft künstlich gesüßte Getränke – 5,1 % sogar jeden Tag. Im Vergleich zur Gruppe ohne Aufnahme zuckerfreier Softdrinks verdoppelte der tägliche Konsum das Risiko für Übergewicht bei Säuglingen im Alter von einem Jahr. Diese Effekte standen nicht mit dem Body Mass Index (BMI) der Mutter, der Ernährungsqualität, der Gesamtenergiezufuhr oder anderen Risikofaktoren für Übergewicht in Zusammenhang. Und es gab keine vergleichbaren Assoziationen für zuckerhaltige Getränke. Methodisch handelt es sich um eine Kohortenstudie. Das heißt, Forschende sehen Assoziationen, ohne deren Kausalität zu beweisen. Klären könnte dies nur eine randomisierte Studie.

 

Süßstoffe bei Kindern

 

Zum Thema Süßstoffe in der Schwangerschaft und Kindheit gibt es viele Studien mit unterschiedlicher Qualität und unterschiedlicher Aussagekraft. »Wir brauchen mehr Forschung über die Verwendung von nicht nahrhaften Süßungsmitteln und das Risiko für Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes, insbesondere bei Kindern«, schreibt Dr. Carissa Baker-Smith von der University of Maryland School of Medicine.

In einer Grundsatzerklärung der American Academy of Pediatry (Baker-Smith 2019) hat sie auf der Basis wissenschaftlicher Publikationen verschiedene Empfehlungen formuliert. Dazu zählt eine bessere Kennzeichnung der Süßstoffe in Lebensmitteln. Denn 23 % aller Eltern in den USA würden Lebensmittel, die Süßstoffe enthalten, korrekt identifizieren können. Darüber hinaus gaben 53 % an, gezielt nach Produkten mit der Bezeichnung »weniger Zucker« zu suchen, aber die meisten erkannten nicht, dass solche Lebensmittel oft Süßstoffe enthalten: zwei Probleme, die sich auf Deutschland übertragen lassen.

Ob die Zusatzstoffe bei Kindern mit einem erhöhten Krebsrisiko in Verbindung stehen, kann Baker-Smith nicht abschließend beurteilen, weil Langzeitdaten fehlen. Beobachtungsdaten zeigten bei Erwachsenen keinen Zusammenhang.

Allerdings warnt Baker-Smith bei Personen mit normalem BMI vor einem paradoxen Effekt – und zwar dem Anstieg des Körpergewichts: »Daten liefern Hinweise, dass die Verwendung von kalorienfreien Süßstoffen die Aufnahme von zuckerhaltigen Lebensmitteln und Getränken insgesamt durch Beeinflussung der Geschmackspräferenzen fördern kann«, lautet ihr Erklärung. Bei stark übergewichtigen Kindern stabilisiert sich dagegen der BMI oder sinkt sogar leicht.

 

Was können Hebammen raten?

 

»Energiefreie Süßstoffe (zum Beispiel Aspartam) können in der Schwangerschaft verwendet werden«, heißt es in der S3-Leitlinie Gestationsdiabetes mellitus (DDG und DGGG-AGG 2018). »Wenn die sogenannten ADI-Werte (Acceptable Daily Intake = akzeptable tägliche Dosis) beachtet werden, ist ihre Anwendung unbedenklich.« Eine Zusammenstellung der ADI-Werte findet man etwa beim Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR 2014). Mit diesen Zahlen können Laien wenig anfangen – Hebammen sollten dazu beraten.

Eine klare Kontraindikation besteht für Aspartam-haltige Süßstoffe bei Kindern mit der angeborenen Stoffwechselstörung Phenylketonurie. Sie können die Aminosäure Phenylalanin, ein Bestandteil von Aspartam, nicht richtig abbauen.

»Darüber hinaus gibt es bislang keine Anhaltspunkte, dass Süßstoffe bei einer Dosierung unterhalb des ADI-Wertes gesundheitlich bedenklich sind«, kommentiert Sandra Hummel vom Institut für Diabetesforschung des Helmholtz Zentrums München. »Allerdings ist die Datenlage zu Langzeiteffekten eines regelmäßigen Konsums bei Kindern und Jugendlichen immer noch unzureichend, um eine abschließende Einschätzung abgeben zu können.«

Jetzt bleibt nur, auf weitere Einschätzungen zu hoffen. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat begonnen, sämtliche vor 2009 zugelassenen Süßungsmittel mit Blick auf ihre Unbedenklichkeit neu zu bewerten. In dieses Verfahren soll einfließen, was bislang zu den gesundheitlichen Auswirkungen dieser Stoffe bekannt ist, welche Mengen die verschiedenen Produkte enthalten und in welchem Ausmaß sie von der Bevölkerung konsumiert werden. Ende 2020 will die EFSA ihre Resultate veröffentlichen.

 

Süßstoffe

 

Unter Süßstoffen versteht man chemische Verbindungen, die aufgrund ihrer Struktur an Geschmacksrezeptoren binden und als süß wahrgenommen werden. Sie haben keinen Einfluss auf den Blutzucker.

Zu den wichtigsten Süßstoffen gehören in der EU Acesulfam (E 950), Advantam (E 969), Aspartam (E 951), das Aspartam-Acesulfam-Salz (E 962), Cyclamat (E 952), Neohesperidin (E 959), Neotam (E 961), Saccharin (E 954), Sucralose (E 955), Steviosid (E 960) und Thaumatin (E 957).

 

Zuckeraustauschstoffe

 

Zuckeraustauschstoffe sind chemische Verbindungen, die Haushaltszucker (Saccharose) ähneln. Sie haben, je nach Verbindung, mehr oder minder starke Effekte auf den Blutzucker:

  • Zuckeralkohole wie Erythrit (E 968), Isomalt (E 953), Lactit (E 966), Maltit (E 965), Mannit (E 421), Sorbit (E 420), Xylit (E 967)
  • zuckerähnliche Verbindungen oder Zubereitungen wie Fructose, Inulin, Isomaltulose, Maissirup (High Fructose Corn Syrup, HFCS), Oligofructose, Stärkehydrolysat

Rubrik: Beruf & Praxis | DHZ 07/2020

Literatur

Azad MB et al.: Association Between Artificially Sweetened Beverage Consumption During Pregnancy and Infant Body Mass Index. JAMA Pedatrics 2016. doi: 10.1001/jamapediatrics.2016.0301

Baker-Smith CM et al.: The Use of Nonnutritive Sweeteners in Children. Pedriatics 2019. doi: 10.1542/peds.2019-2765

Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR): Bewertung von Süßstoffen und Zuckeraustauschstoffen 2014. www.bfr.bund.de/cm/343/bewertung_von_suessstoffen.pdf
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