Lebensanker
Ich kann ohne Hilfe keine Kinder bekommen. Bis ich diesen Satz aussprechen konnte, verging viel Zeit. Er hört sich fast so an, als hätte ich mich in einer Selbsthilfegruppe geoutet – wie beispielsweise den Anonymen Alkoholikern – und tatsächlich hat es auch etwas davon. Es ist hart, diese Unfähigkeit auch nur zu denken. Ich war eine gesunde Frau von damals knapp über 30 Jahren, alle meine Freundinnen um mich herum bekamen scheinbar mühelos ein Kind nach dem anderen. Nur ich nicht. Was stimmte mit mir nicht? Es ist erschreckend, wie stark man sich selbst plötzlich auf diese einzige Funktion reduziert. Ich fühlte mich, als sei ich keine vollständige Frau, als hätte ich in einer meiner Grundfunktionen versagt. Mein Leben war es nicht wert, sich zu vervielfältigen.
Mein sonstiges Leben wurde immer kleiner. Dabei hatten mein Mann und ich ein Grundstück gekauft, ein Haus gebaut, wir hatten viele Freunde, waren familiär eingebunden, lebten unsere Hobbys und hatten gute Jobs. Das alles galt nichts mehr – ohne Kind. Wofür taten wir das denn? Wir wollten beide immer Kinder. Kinder gehören zum Leben dazu. Ohne Kinder gibt es keine Zukunft. Im Übrigen sind Kinder wirklich klasse: ihre Fantasie, ihre Ideen und Aussprüche – grandios. Kindern beim Leben zuzuschauen, ihnen Hilfestellungen zu geben und sich mit ihnen zu freuen, wenn etwas gelingt, das ist nach unserem Dafürhalten der Inbegriff des Lebens. Denn es ist das, was von einem selbst bleibt: Alles was man den Kindern an Liebe und Freude mitgeben kann, ihren Charakter hervorzulocken und ihren Humor herauszubilden – das ist es, was auch sie einst ihren Kindern weitergeben werden.
Ein starker Eingriff in die Natur
Als wir damals beschlossen, uns Hilfe zu suchen, gingen wir zu einer renommierten Praxis für Kinderwunschpaare. Der dort für uns zuständige Arzt untersuchte uns beide sorgfältig und kam sofort zu dem Schluss, dass uns ausschließlich eine In-Vitro-Fertilisation in Kombination mit einer ICSI-Behandlung helfen könne. Wir äußerten unsere Bedenken, da eine intrazytoplasmatische Spermieninjektion ein starker Eingriff in die Natur ist und es sicherlich auch sanftere Methoden gebe. Der Arzt jedoch war sich seiner Sache anscheinend sehr sicher. Von allen anderen Therapieformen sei speziell in unserem Fall abzuraten, da keinerlei Aussicht auf Erfolg bestehe, meinte er. Ich berichtete ihm noch kurz, dass mein Körper stark auf Hormongaben reagiere und ich früher deshalb eine Mikro-Antibabypille genommen habe. Heute bin ich mir ziemlich sicher, dass der Doktor mir nicht zuhörte.
Die nun folgenden Behandlungen liefen nach folgendem Rhythmus ab: Ich spritzte einen ganzen Zyklus lang jeden Tag eine festgelegte Dosis Hormone in meine Bauchdecke, der Arzt überwachte die Eizellreifung und wenn die Eizellen genügend gereift waren, wurden sie unter Narkose aus den Eierstöcken abgesaugt. Die Eier wurden dann gereinigt, die besten ausgesucht und mit den ebenfalls gereinigten und ausgesuchten Samenzellen befruchtet. Wir hatten uns darauf geeinigt, jeweils drei befruchtete Eizellen sofort einzusetzen (A-Proben) und weitere drei befruchtete Eizellen einzufrieren, um sie in einem späteren Zyklus aufzutauen und einzusetzen, falls die gewünschte Schwangerschaft ausblieb. Unnötig zu erklären, dass die A-Proben aussichtsreicher sind.
Ich durchlief diese Behandlung zweimal mit A-Proben und zweimal mit den während der A-Proben ebenfalls entnommenen und befruchteten B-Proben, die zeitweilig eingefroren waren. In dieser Zeit ging es mir ausgesprochen schlecht. Ich war hormonell völlig übersteuert, meine Eierstöcke konnte man von außen sehen, sie waren dick wie Pampelmusen und schmerzten höllisch. Nach den ersten beiden Behandlungen bat ich im Gespräch, die Hormondosis für den neuen Zyklus zu verringern. Ich bekam jedoch die ziemlich patzig vorgetragene Antwort von diesem Arzt, er sei hier der Spezialist und wisse schon, was er tue.
Trauer und Verzweiflung
Nachdem sich auch nach dem vierten Versuch keine Eizelle einnistete – was ich ihnen im Übrigen nicht verdenken kann, da mein gesamter Körper schmerzte und ich psychisch unter den Hormonen ebenfalls litt, ich hätte in diesem Körper auch nicht bleiben wollen – brachen wir die Versuche ab. Nachdem wir nun anscheinend keine leiblichen Kinder würden haben können, entschieden wir, uns über die Adoptionsmöglichkeiten in unserer Region zu informieren. Eine Adoption erwies sich als möglich, dauerte aber eine gewisse Zeit und es bestand natürlich keine Garantie, ein Kind zu bekommen. Als wir schon nicht mehr damit rechneten, wurden wir tatsächlich als Eltern für einen vier Wochen alten Jungen ausgesucht, der allerdings mit einem schweren Herzfehler auf die Welt gekommen war. Die Prognose war gut: Neun von zehn Kindern schaffen den Operationsmarathon und können hinterher ein weitgehend „normales" Leben führen. Wir wussten nicht, dass unser Kind das eine sein würde. Mit 15 Monaten ging unser Sohn von uns und ließ uns in einem Zustand des Schocks, der Trauer und Verzweiflung allein zurück.
Einen Anker finden
Mein Mann ist kein Mensch, der lang und breit über seine Gefühle redet, und auch ich muss meine Gefühle erst für mich klären, bevor ich mit jemandem darüber sprechen kann. Ich muss quasi bereits den Masterplan in der Tasche haben, dann kann ich das auch formulieren. Ich nahm mir ein halbes Jahr Zeit und kam zu dem Schluss, dass ich nicht ohne Kind würde weiterleben können. Nie eines gehabt zu haben war schon furchtbar für mich gewesen – aber eines geliebt und umsorgt zu haben und dieses abgeben zu müssen, mit meiner ganzen Mutterliebe allein zu sein, die man ja nicht einfach an- und abschalten kann, das war zumindest für mich mehr als ich ein ganzes Leben zu ertragen fähig war. Ich lebte gar nicht mehr richtig ein eigenes Leben, ich konnte den Zustand nicht wirklich erfassen, allein zu sein. Immerhin war ich vorher 14 Monate jeden Tag 24 Stunden lang mit meinem Sohn zusammen gewesen. Ich war mir sicher, dass ich einen Anker hier im Leben brauchen würde, andernfalls wäre ich meinem Sohn über kurz oder lang gefolgt.
Mein Mann und ich haben dann ein intensives Gespräch geführt. Ich habe ihm geschildert, wie es in mir aussieht und dass ich den jetzigen Zustand nicht ein Leben lang ertragen kann, dass ich ein Kind haben muss, dem ich diese Liebe geben kann, weil ich sonst daran eingehen werde. Und er hat zugesagt, mich dabei zu unterstützen, ein Kind zu bekommen, auf welche Weise auch immer. Doch da nun die Zeit drängte, wenn wir noch einen Versuch zu leiblichen Kindern unternehmen wollten, entschieden wir uns zunächst für die Möglichkeit, meine Gebärfähigkeit, so sie vorhanden ist, zu nutzen. Sollte ich nicht dazu in der Lage sein, hätten wir eine Leihmutterschaft in einem anderen Land genauso wenig ausgeschlossen wie beispielsweise eine Eizellspende, wie sie in Spanien erlaubt ist. Parallel bewarben wir uns erneut um eine Adoption und auch über eine Auslandsadoption hatten wir uns bereits informiert. Wir würden, falls nötig, jedes Register ziehen.
Mit offenen Armen und Ohren
Ich wechselte auf die Empfehlung einer Freundin meinen Frauenarzt. Der neuen Ärztin schilderte ich zunächst die gesamte Geschichte und als ich an dem Punkt ankam, weswegen ich bei ihr war – nämlich einer erneuten Diagnose, ob ich zum Gebären fähig sei und das auch noch trotz meines hohen Alters von inzwischen 42 Jahren – sagte diese freundliche Frau doch tatsächlich: „Meine Liebe, machen Sie sich bitte keine Sorgen, Sie sind nicht zu alt, um Kinder zu bekommen. Das kriegen wir schon hin." Ich hätte sie umarmen können und mir fielen nicht nur Tränen aus den Augen, sondern auch eine schwere Last vom Herzen: Es gab sie also doch noch, die Menschen, die bereit waren, meinen Weg mit mir zu gehen.
Sie empfahl mir eine Kinderwunschpraxis ihres Vertrauens, nachdem sie mich zunächst untersucht hatte. Ihrer Meinung nach stand einer Schwangerschaft nichts im Weg. Auch der leitenden Ärztin der Kinderwunschpraxis erzählten wir den kompletten Leidensweg, der uns bis zu ihr geführt hatte. Und auch hier trafen wir auf einen Menschen mit weit geöffneten Ohren.
Sie ließ sich zunächst die alten Unterlagen aus der anderen Praxis kommen und bestätigte mir meinen Verdacht, dass ich dort hormonell völlig übersteuert worden war. Nun besprachen wir den Weg, den wir versuchen wollten – den wir ja eigentlich damals schon versuchen wollten: die Insemination. Nachdem sich die Ärztin ebenfalls von meinem Gesundheitszustand überzeugt hatte, kontrollierte sie zunächst den Vorrat an Eifollikeln in meinen Eierstöcken, der zum Glück noch üppig vorhanden war. Das ist nicht immer so bei Frauen über 35 Jahren, manche haben dann so wenige Reserven, dass es schwierig werden kann. Die Samenbeschaffenheit meines Mannes wurde nicht erneut untersucht. Wir hatten uns darauf verständigt, nur einen von uns „fit" zu machen: mich, da ich für die Schwangerschaft hier in Deutschland unabdingbar war. Die Samen meines Mannes zu verwenden, wäre ein ungleich höheres Risiko gewesen. Wenn wir mehr Zeit gehabt hätten, wäre auch das eine Option gewesen, aber so entschieden wir uns für Fremdsamen aus einer dänischen Samenbank. Den Spender wählten wir danach aus, dass möglichst viele Kriterien mit denen meines Mannes überein stimmten. Bei der Wahl hatte mein Mann natürlich das letzte Wort. Ich habe ihn gefragt, ob es für ihn eine Rolle spiele, dass es nicht sein Erbgut sei, das wir benutzen. Wie schwer ihm das falle. Und dieser wundervolle Mensch hat mir geantwortet, das sei doch völlig egal. Wir hätten ja bereits ein genetisch komplett fremdes Kind als unser eigenes angenommen – für ihn spiele es tatsächlich keine Rolle. Er ist der Vater – so oder so.
Dieses Glück braucht man natürlich: Man muss nicht nur Ärzte finden, die sich einlassen und einen auf dem eigenen Weg begleiten. Es muss auch der richtige Partner dabei sein. Und in meinem Fall habe ich einen ausgezeichneten Partner: den liebevollsten und tolerantesten Menschen, den ich kenne.
Beruhigt
Als wir das alles abgeschlossen hatten und die ersten Behandlungen begannen, war ich noch ziemlich angespannt, da ich nicht wusste, was nun alles auf mich zukommen würde. Indes waren die Ärztinnen, die meinen Zyklus begleitend beobachteten, völlig unaufgeregt. Und auch als die ersten beiden Versuche nicht fruchteten, machte sich niemand Sorgen. Es herrschte eine Stimmung, die Ruhe und Optimismus ausstrahlte. Im dritten Zyklus wurde ich ganz leicht hormonell unterstützt, da in den beiden ersten Zyklen aufgefallen war, dass meine Eier nicht richtig ausreiften, sie erreichten nicht die optimale Größe für eine Befruchtung. Das hatte bisher keiner gemerkt – aber bisher hatte so etwas auch noch keiner gemessen.
Ich nahm nun die Hälfte der üblichen Dosis Hormontabletten und vertrug sie erfreulicherweise gut. In diesem Zyklus reiften vier Eier heran, je zwei in den beiden Eierstöcken, und dieses Mal erreichten sie die richtige Größe. Das Spermienpaket wurde kurz nach dem Eisprung in der Gebärmutter platziert und nach zwei Wochen wusste ich, dass ich schwanger war. Und als ich so in mich hinein horchte und fühlte, war ich mir sicher, dass es zwei Kinder sein werden.
Beim ersten Ultraschall nach einer weiteren Woche wurde mir mein Bauchgefühl bestätigt: Wir erwarteten Zwillinge, die zwei Eibläschen waren kugelrund und gut zu erkennen.
Nachdem ich dieses Bild gesehen habe, fiel alle Anspannung von mir ab. Jetzt wusste ich, dass alles gut wird. Ich wusste auch, dass ich beide Babys würde austragen können, ich hatte eine absolute Ruhe in mir. Diese Gefühle hielten die gesamte Schwangerschaft. Und so haben wir zwei völlig gesunde Kinder bekommen: ein Mädchen und einen Jungen. Und sie sind genau die Anker, die ich hier in meinem Leben brauche.
Details der Erinnerung
Natürlich werden die Kinder irgendwann erfahren wollen, wie sie entstanden sind. Abgesehen von den üblichen Informationen sollen sie auch die Mitteilung erhalten, dass in unserem Fall nachgeholfen wurde. Sie sollen wissen, warum ihre Eltern so „alt" sind und warum wir einen kleinen Jungen, ihren Bruder, adoptiert hatten. Ich habe ein Schwangerschaftstagebuch geführt, in dem ich die gesamte Insemination und die darauffolgende Schwangerschaft vom ersten Tag an beschrieben habe. Ich finde das wichtig. Vielleicht lebe ich nicht lang genug, um meinen Kindern ausführlich davon zu erzählen, vielleicht fehlen mir irgendwann auch die Details in der Erinnerung. Und vielleicht haben meine Kinder später ja selbst Schwierigkeiten bei der Fortpflanzung. Letztlich ist es jedoch zumindest ein Zeugnis dafür, wie sehr wir uns diese beiden Wunder gewünscht haben – und der Beleg, dass vieles möglich ist, wenn einen die richtigen Leute unterstützen. Viel später werden wir ihnen wohl auch die Sache mit dem Fremdsamen erzählen, wenn sie so alt sind, dass sie verstehen können, worum es da genau geht und welches unsere Schwierigkeiten waren.
Hinweis
Der Artikel wurde unter Pseudonym verfasst. Die Autorin ist der Redaktion bekannt.