Leseprobe: DHZ 04/2019
Hebammenausbildung

London, Joinville, Hannover

Wie verläuft die Hebammenausbildung in Brasilien und Großbritannien? Und was, wenn man dann als Hebamme in Deutschland arbeiten möchte? Eine Standortbestimmung zu unterschiedlichen Ausbildungswegen und geburtshilflichen Systemen. Brigitte Salisch,
  • Mary Tano Wegener und Julia Hinrichs bringen Erfahrungen mit Hebammenausbildungen in Großbritannien beziehungsweise Brasilien mit. Sie sind nun in Deutschland tätig.

Die Hebammenausbildung in Deutschland befindet sich im Umbruch. Die EU-Richtlinie, die besagt, dass Hebammen zukünftig an Hochschulen ausgebildet werden sollen, ist bis 2020 umzusetzen. Einige Bundesländer haben diesen Auftrag schon in Angriff genommen und starten mit den ersten Studiengängen, während andere sich noch schwertun, die Universitäten für diese neuen Anforderungen zu gewinnen.

Niedersachsen bildet derzeit noch an Hebammenschulen aus. Die Voraussetzung zum Erlernen des Hebammenberufes ist ein zehnjähriger Schulabschluss. Die Auszubildenden erhalten 1.600 Stunden theoretische und 3.000 Stunden praktische Ausbildung in drei Jahren gemäß EU-Richtlinie. Erst im Anschluss daran besteht die Möglichkeit, den Bachelorabschluss zusätzlich zu erwerben. Ein Gespräch mit zwei Hebammen aus Brasilien und Großbritannien über die Erfahrungen des Studiums in ihren Herkunftsländern und das Erleben der Hebammenausbildung in Deutschland.

 

Brigitte Salisch: Welche Voraussetzungen sind in London nötig, um den Hebammenberuf zu erlernen?

Mary Tano Wegener: Das Studium findet an der Universität statt. Voraussetzungen sind ein abgeschlossenes Abitur (A-Level) oder die Fachhochschulreife. Alternativ geht auch ein Realschulabschluss (O-Level) und eine anschließende abgeschlossene Ausbildung in einem Gesundheitsberuf.

 

Brigitte Salisch: Wie gliedert sich der Unterricht in London?

Mary Tano Wegener: Wir wurden in Klassen eingeteilt und haben dort theoretischen Unterricht gehabt. Das Studium bietet Blockunterricht, Vorlesungen und abwechselnde Praxiseinsätze im Kreißsaal, auf der Wochenstation, aber auch bei einer freiberuflichen Hebamme in der Wochenbettbetreuung sowie im Geburtshaus. In allen Abteilungen gibt es für jede Studentin eine Praxisanleiterin. Sie ist die Ansprechpartnerin während der ganzen Studienzeit.

Der theoretische Teil findet in Vorlesungen zusammen mit anderen Studierenden statt. Dazu gehören KrankenpflegerInnen, RadiologInnen und Medizinstudierende. Das ist gewollt, damit alle Berufsgruppen einen einheitlichen Lernprozess erfahren und zum Wohl und zur Sicherheit der PatientInnen die »gleiche Sprache« sprechen.

 

Julia Hinrichs: Und wie lang ist der Praxisanteil bei euch in der Vorsorge? Ein Semester oder häufiger?

Mary Tano Wegener: Während des ganzen Studiums. Wir werden eingeteilt und laufen immer wieder die Abteilungen durch.

 

Brigitte Salisch: Frau Hinrichs, Sie befinden sich in Deutschland seit eineinhalb Jahren erneut in der Hebammenausbildung. Sie kommen aus einer Klinik in Joinville im südlichen Brasilien mit 6.000 Geburten im Jahr. Welche Rolle haben Hebammen dort?

Julia Hinrichs: In dieser großen Klinik ist lediglich eine Hebamme im Dienst. Derzeit wird versucht, mindestens zwei Hebammen zur Verfügung zu stellen. Die Geburten werden aber in der Regel von GynäkologInnen und NeonatologInnen betreut. Hebammen arbeiten nur an jedem dritten Tag für zwölf Stunden. Auf der Wochenstation sind KrankenpflegerInnen beschäftigt.

 

Brigitte Salisch: Zurück zur Ausbildung – wie sieht diese in Brasilien aus?

Julia Hinrichs: In der Regel ist es Voraussetzung, dass man ein vierjähriges Studium zur Krankenschwester absolviert, um sich dann auf die Geburtshilfe zu spezialisieren. Es gibt nur eine Universität, die Hebammen direkt ausbildet. Alle anderen müssen erstmal Krankenschwestern sein. Viele sind dann schon älter und bringen Berufserfahrung mit, bevor sie in die Geburtshilfe gehen.

 

Brigitte Salisch: Das heißt, dass dort das Abitur Voraussetzung ist?

Julia Hinrichs: Ja. Die inzwischen zwölfjährige Schulausbildung muss abgeschlossen sein, um sich für einen Studienplatz zu bewerben. Nach dem vierjährigen Studium zur Krankenschwester erfolgt dann das Aufbaustudium, das je nach Anbieter eine sehr unterschiedliche Anzahl an Theorie- und Praxisstunden hat. Insgesamt müssen das mindestens 360 Stunden sein, und die Schülerin muss 15 Schwangerenvorsorgen, 20 komplette Geburten und 15 Neugeborenenversorgungen nachweisen können.

Auch muss eine wissenschaftliche Hausarbeit geschrieben werden, um den Titel der Hebamme zu erwerben. Es gibt an einigen Universitäten Immersionskurse, die mit einer erhöhten Stundenzahl von 5.760 Stunden in zwei Jahren Vollzeit eine wesentlich bessere Qualifikation anbietet. Diese Art der Ausbildung gibt es nicht überall. Und man muss für eine Arbeitswoche von 60 Stunden über zwei Jahre bereit sein.

 

Brigitte Salisch: Wie gestalteten sich die Praxiseinsätze in London? Haben Sie das Gefühl, dort ausreichend gute praktische Erfahrungen sammeln zu können?

Mary Tano Wegener: Die Praxiseinsätze finden in Großbritannien in verschiedenen Krankenhäusern statt und jede Studentin hat eine Praxisanleiterin als Mentorin. Es wird empfohlen, vorher mit der Praxisanleiterin Kontakt aufzunehmen. Wir schauen uns dann gemeinsam den Dienstplan an. Meist steht dieser für drei Monate im Voraus fest. Wir versuchen dann, mit der Mentorin zusammen Dienst zu machen. Die Uni wünscht, dass in den ersten zwei Semestern kein Nachtdienst gemacht wird. Wir arbeiten im Zwölf-Stunden-Schichtsystem. Man geht davon aus, dass eine Geburt so lange dauern kann. Die Schicht geht von 8  Uhr bis 20 Uhr und dann kommt die Nachtschicht.

 

Brigitte Salisch: Das hört sich nach einer frauenorientierten Geburtshilfe an. So ein Zwölf-Stunden-Dienst ist dennoch sehr lang. Gibt es eine Arbeitsschutzregelung?

Mary Tano Wegener: Ja, dadurch, dass wir nur drei Tage in der Woche arbeiten und einmal im Monat vier Tage, ist das möglich. Es bleiben ja dann in der Regel vier freie Tage, um sich auszuruhen.

 

Brigitte Salisch: Sie sagten, dass jede Schülerin über den ganzen Zeitraum eine Praxisanleiterin hat. Heißt das auch, dass jede fertige Hebamme eine Ausbildung zur Praxisanleiterin macht?

Mary Tano Wegener: Ja. Jede fertig ausgebildete Hebamme arbeitet etwa ein Jahr nach ihrem Studium und geht dann an die Uni zurück, um ein Jahr lang das Praxisanleiterinnen-Studium zu absolvieren. Das wird vom Krankenhaus finanziert. Hebammen zahlen nichts dafür, das einzige, was sie einbringen müssen, ist ihr Engagement und ihre Zeit. Das Studium zur Praxisanleiterin läuft als duales Studium. Das heißt, die Hebamme ist nur ein bis zwei Tage in der Woche zur Vorlesung an der Uni und ansonsten im Krankenhaus im Dienst.

 

Julia Hinrichs: Das heißt, ihr habt die ganze Zeit eine Mentorin an eurer Seite?

Mary Tano Wegener: Ja, wir haben in allen Abteilungen je eine Betreuerin: auf der Wochenstation, in der Vorsorge und im Kreißsaal. Das heißt, man hat zu den Mentorinnen eine gute Bindung und sie machen aus einem eine gute Hebamme. Ich habe heute noch guten Kontakt zu meinen Mentorinnen.

 

Brigitte Salisch: Frau Hinrichs, ist in Brasilien der Theorie- und Praxisanteil anders aufgeteilt und auch eine Hospitation an anderen Kliniken üblich?

Julia Hinrichs: In Brasilien gibt es mehrere Praxisanleiterinnen, die uns bei den Geburten betreuen. Die sind gleichzeitig in der Klinik angestellt und bringen uns die Standards der Klinik bei. Bei den Schwangerenvorsorgen haben wir die Arbeit einer Hebamme im Familienzentrum begleitet. Ich finde es gut, wie es in Großbritannien läuft. Das würde ich mir für Deutschland auch wünschen. Wir haben hier in der Klinik kaum Praxisanleiterinnen. Hier gehen wir mit der Hebamme mit, die im Dienst ist, und beim nächsten Dienst ist wieder eine andere Hebamme da. Sie arbeiten alle sehr unterschiedlich. Ich hätte auch gern eine feste Bezugsperson.

 

Brigitte Salisch: Wie findet man denn die Hebammen für die Vorsorge. Gibt es freiberufliche Hebammen in Brasilien?

Julia Hinrichs: In Brasilien ist es so, dass die Frauen, die privat versichert sind, in der ganzen Schwangerschaft meistens nur vom Gynäkologen oder der Gynäkologin betreut werden. Alle Menschen in Brasilien haben aber auch eine staatliche Grundversicherung, die auch die Vorsorge in der Schwangerschaft abdeckt. Diese wird dann primär in Familienzentren gemacht. Schwangere werden darin abwechselnd von FamilienärztInnen und Familienkrankenschwestern gesehen. Diese Krankenschwestern sind auch oft als Hebammen ausgebildet, und bieten in den Vorsorgen eine gute Gelegenheit zum Gespräch über die Geburt. Schwangere, die nur von GynäkologInnen betreut werden, haben eine größere Aussicht auf einen Kaiserschnitt, vor allem im privaten Gesundheitssystem. Schwangere, die von einer Hebamme betreut wurden, haben bessere Chancen auf eine normale Geburt.

 

Brigitte Salisch: Haben Hebammen gute Möglichkeiten, mit der Frau über Geburtsort und Geburtsplan zu sprechen?

Julia Hinrichs: Die freie Wahl des Geburtsortes ist kaum möglich. Über 99 % der Geburten finden in der Klinik statt, und Hausgeburten müssen von den Frauen bezahlt werden. In einigen Großstädten gibt es auch Geburtshäuser, es sind aber viel zu wenige. In der Klinik sind die Frauen zum großen Teil ganz alleine – das hat auch dazu geführt, dass Doulas in die Geburtshilfe kamen. Die Arbeit der Doulas sehe ich als sehr positiv. Sie bringt einige Veränderungen in der brasilianischen Geburtshilfe. Leider haben nur wenige Frauen die Möglichkeit, für eine Doula zu bezahlen, und ehrenamtliche Doulas gibt es in nur wenigen Kliniken.

Mary Tano Wegener: In London haben wir ein Portfolio, nach dem wir arbeiten. Wir bekommen dort beispielsweise ein Thema, über das wir eine Hausarbeit schreiben. Im Portfolio sind auch die Guidelines, also die Empfehlungen, die Qualitätsstandards oder auch Sicherheitsvorschriften bei Notfällen festgehalten. Beispielsweise die Evakuierung von PatientInnen, Notfallwege in der Klinik, die Erreichbarkeit der ÄrztInnen im Notfall und vieles mehr. Die Mentorin prüft dies mündlich und auch schriftlich. Mit der Führung der Mappe kann man den Verlauf der Wissensaneignung- und -steigerung nachweisen und prüfen.

 

Brigitte Salisch: Von Brasilien weiß man, dass die Sectiorate sehr hoch ist.

Julia Hinrichs: Ja, derzeit liegt die Sectiorate ungefähr bei 56 %. Der Unterschied zwischen den privaten und den öffentlichen Kliniken ist sehr groß: Die privaten haben eine Rate von bis zu 80 bis 90 %, die öffentlichen eine deutlich niedrigere Quote, aber auch über 40 %. So kommt der Durchschnitt von etwa 56 % zustande.

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Klassische Hebammentätigkeit ist in Brasilien selten geworden. Es gab früher die Helferinnen bei der Geburt, das waren aber keine ausgebildeten Fachfrauen. Die Geburten wurden nach und nach in die Krankenhäuser verlegt und die Betreuung der Frauen von ÄrztInnen ersetzt. Jahrelang wurden überhaupt keine Hebammen ausgebildet, sondern nur spezialisierte Geburtskrankenschwestern.

 

Mary Tano Wegener: Wissen Sie den Grund, warum sie nicht ersetzt wurden?

Julia Hinrichs: Ich kann nicht genau sagen, warum es so gekommen ist. Ich weiß, dass die Frauen sehr schlechte Erfahrungen während der Geburt gemacht haben, mit vielen Interventionen, zum Beispiel obligatorisch einen Zugang bekamen, Infusionen und sogar einen Wehentropf ohne Indikation, Klistier, Kristellern und Episiotomien. Sie durften sich nicht frei bewegen. Auch war bis vor wenigen Jahren keine Begleitperson bei der Geburt erlaubt, und viele Kliniken erlauben es bis heute nicht. Dann waren die Frauen ganz alleine und mussten diese ganzen Interventionen durchstehen. Das hat zu einer großen Angst vor der Geburt geführt, und viele Frauen, die es sich leisten konnten, haben dann lieber für einen Kaiserschnitt bezahlt. Mütter wünschten ihren Töchtern, dass sie eine Sectio bekommen, damit sie nicht so leiden müssen.

 

Brigitte Salisch: Welche Perspektiven haben Hebammen nach der Ausbildung?

Julia Hinrichs: Inzwischen entscheiden sich immer mehr Frauen zu einer Hausgeburt. Letztere werden fast ausschließlich von selbstständigen Hebammen begleitet. Sie arbeiten meist in Teams, bieten die Schwangerenvorsorge und Hausgeburten an. Durch die Medien und Aufklärung sind Frauen heute motivierter, eine normale Geburt anzustreben.

 

Mary Tano Wegener: Wie wird das finanziert?

Julia Hinrichs: Die Frauen müssen das komplett selbst finanzieren. Manchmal erhalten sie von ihrer Versicherung den Anteil, den man auch an die Klinik gezahlt hätte. Das ist aber ein Bruchteil der entstandenen Kosten. Viele Teams erleichtern die Bezahlungen zum Beispiel durch Ratenzahlungen.

 

Mary Tano Wegener: Gibt es denn eine Hebammenbewegung im Land, die sich dafür einsetzt?

Julia Hinrichs: Es gibt leider viel zu wenige Hebammen. In Santa Catarina, einem wohlhabenden Bundesstat im Süden Brasiliens, wo ich gelernt habe, gibt es nur 225 Hebammen für 95.000 Geburten im Jahr. Wenn alle von ihnen in der Geburtshilfe tätig wären, würde trotzdem jede Hebamme über 400 Geburten betreuen müssen. Eine Klinik ist nicht verpflichtet, Hebammen einzustellen. Aber es gibt eine Frauenbewegung – sie fordert bessere Bedingungen für die Geburtshilfe. Und dafür brauchen wir mehr Hebammen.

 

Brigitte Salisch: Gibt es eine Nachbetreuung zu Hause?

Julia Hinrichs: Das ist von Stadt zu Stadt und ländlicher Region unterschiedlich. Auf dem Land sind eher die Familienzentren, in denen ÄrztInnen und oft eine Familienkrankenschwester die Betreuung übernehmen. Diese besucht die Frau mindestens einmal zu Hause. Dazu kommt, dass es in vielen Regionen Milchbanken gibt. Dort kann die Frau auch Stillhilfe bekommen oder Milch abgeben. Stillen ist in Brasilien anerkannt und erwünscht. Aber die Hilfestellung dafür geben sich viele der Frauen untereinander und in den Familien, wir haben nicht so viele Angebote durch professionelle Berufsgruppen. Die Frauen können sich alternativ auch ärztlich nachbetreuen lassen.

Mary Tano Wegener: In England ist die Nachbetreuung sehr verbreitet und ausgebaut. Nach dem Studium werden wir meistens von der Klinik übernommen. Sie bilden uns so gut aus und wollen uns gern »behalten«. Wir arbeiten dort im Rotationsverfahren, eine reine Kreißsaaltätigkeit gibt es zeitlich nur begrenzt. Weil wir alles können, sollen und müssen. Wir gehen wechselnd in alle Bereiche, also auch zum Wochenbett und in den OP. Dort assistieren Hebammen auch beim Kaiserschnitt. Die Einsätze sind koordiniert. Erst nach zwei Jahren kann man wählen, ob man eventuell einmal länger in einem Bereich tätig sein möchte. Oder man geht wieder zur Uni und macht dort weitere Abschlüsse. Wir können auch in die Antenatal Clinic gehen, eine Vorsorgeklinik. Oder wir gehen zu einer freiberuflichen Hebamme oder suchen uns ein Team.

 

Brigitte Salisch: Sie haben die Ausbildung in Brasilien fast abgeschlossen und schon das Krankenpflege- und das Hebammenstudium gemacht. Jetzt befinden Sie sich wieder in der Ausbildung, das ist eine enorme Leistung und zeigt ein hohes Engagement für diesen Beruf.

Julia Hinrichs: Ich habe mich nicht vorbereitet gefühlt, als Hebamme zu arbeiten. Ich hatte in Brasilien schon den Teil der theoretischen Ausbildung abgeschlossen. Der theoretische Teil des Studiums kommt immer zuerst und dann erst geht man in die Praxis. Als ich nach Deutschland kam, wollte ich auch erst gut in die Sprache zurückfinden und fand, dass ich noch so viel lernen kann in der Hebammenausbildung.

 

Brigitte Salisch: Frau Wegener, nach dem Studium haben Sie in London weitergearbeitet. Nun arbeiten Sie hier in Deutschland. Welche Unterschiede sind für Sie die wesentlichen?

Mary Tano Wegener: In England habe ich viel eigenverantwortlicher gearbeitet. Das Gesetz in England sagt, wenn eine Frau mit einer »Low risk«-Einstufung während der Schwangerschaft zur Geburt kommt, braucht kein Arzt und keine Ärztin dabei zu sein: Es wird kein Problem erwartet und ein natürlicher Verlauf ermöglicht. Deshalb kann sie unter der Leitung der Hebammen gebären.

 

Brigitte Salisch: Sieht der Arzt oder die Ärztin diese Frauen auch zum Ultraschall oder schallen die Hebammen selbst?

Mary Tano Wegener: Hebammen machen dann Ultraschall, wenn sie Ihren Master auch darin absolviert haben. Bei pathologischem Befund wird der Arzt oder die Ärztin konsultiert. Wir arbeiten alle unter einem Dach und sehen die Geburt als natürlichen Vorgang. In den Kliniken gibt es auch Geburtshäuser unter einem Dach oder ganz in der Nähe. Wenn die Frauen für eine Hausgeburt offen sind und sich dafür entscheiden, unterstützen wir das und gehen zu ihnen nach Hause. Sie können dann ganz normal in ihrer Umgebung gebären.

Wir wünschen uns eine Kontinuität der Betreuung. Auch das Nähen von Dammrissen übernehmen Hebammen. Hier in Deutschland ist es üblich, dass der Arzt oder die Ärztin zur Geburt kommen muss. Ich fand, dass die ÄrztInnen teilweise unter enormem Stress stehen und dass das nicht zu einem guten Klima bei der Geburt beiträgt. In England war das bei normalen Geburten nicht notwendig. Es war für mich als Hebamme sehr ungewohnt, dass da jemand über meine Schulter schaut und bei einer normalen Geburt plötzlich dazukommt.

 

Brigitte Salisch: Sie sind seit einigen Jahren als freiberufliche Hebamme tätig, wie ergeht es Ihnen dabei?

Mary Tano Wegener: In London hatte ich das Gefühl, dass mir Zeit für die Frauen fehlte. Es war mehr zu tun, die Stadt hat mehr Einwohner, mehr Kinder. Hannover ist kleiner, deshalb erlebe ich es als Luxus, mehr Zeit für die Frauen zu haben.

 

Brigitte Salisch: Deutschland hatte lange eine rein schulische Ausbildung. Inzwischen gibt es einige Studiengänge an den Hochschulen. Können Sie jetzt schon ein paar Unterschiede zwischen beiden Ausbildungen nennen, die Sie in Brasilien und Deutschland erfahren haben?

Julia Hinrichs: Ja, Unterschiede gibt es sowohl im theoretischen als auch im praktischen Teil. Das Positive in Deutschland ist, dass die Stundenzahl höher ist. Auch wenn man schon Krankenschwester ist, braucht man sehr viel spezifisches Wissen in der Geburtshilfe, was man bei uns in 300 Stunden nicht lernen kann. Den Nachteil sehe ich hier darin, dass die Praxisanleitung fehlt und man an die diensthabende Hebamme gebunden ist. Diese hat oft so viel zu tun, dass sie sich um die Ausbildung nicht kümmern kann und auch manche nicht gerne anleitet. Ansonsten fühle ich mich jetzt nach eineinhalb Jahren schon besser ausgebildet, als ich mich am Ende in Brasilien gefühlt habe.

 

Brigitte Salisch: Haben Sie noch einen Wunsch oder eine Botschaft bezüglich der Ausbildung?

Mary Tano Wegener: Ich finde es gut, dass Hebammen in Deutschland nun endlich studieren können. Es ist wichtig, dass ein Wandel in der Hebammenarbeit stattfindet. Wir haben nun einmal die »Low risk«- und »High-risk«-gebärenden Frauen und wir begleiten sie gemeinsam mit anderen Professionen. Ein Studiengang ermöglicht ein gemeinsames Lernen und Begegnen mit anderen medizinischen Berufsgruppen. In der Theorie, also bei bestimmten Vorlesungen, Kontakt zu haben, vorher Projekte zusammen zu machen und sich oft zu begegnen, um mehr Verständnis und Respekt voreinander zu bekommen. Das ist wichtig, damit wir uns in unseren Berufskulturen besser verstehen und damit wir miteinander lernen, um miteinander zu arbeiten, um gemeinsam die Frauen besser zu versorgen. Trotz vieler Probleme im Gesundheitswesen und dem großen Hebammenmangel derzeit, übe ich diesen Beruf mit Leidenschaft aus und kann mir keinen schöneren vorstellen.

 

Brigitte Salisch: Herzlichen Dank!

 

 

Die Interviewten

 

Mary Tano Wegener, hat am Royal London Hospital gearbeitet, einem Haus mit 6.000 Geburten jährlich. Sie hat von 2006 bis 2009 Midwifery B.Sc. studiert und ist in Hannover als Hebamme tätig.

Julia Hinrichs, geboren in Brasilien, hat als Jugendliche einige Jahre in Deutschland gelebt. Sie hat Midwifery in Joinville im Süden Brasiliens studiert und befindet sich derzeit im zweiten Ausbildungsjahr zur Hebamme in Hannover.

Rubrik: Aus- und Weiterbildung | DHZ 04/2019