Leseprobe: DHZ 05/2021
ExpertInnenchat zur Corona-Pandemie

Verhindert der Lockdown Frühgeburten?

In Deutschland kommt etwa jedes zwölfte Kind zu früh zur Welt. Trotz großer geburtsmedizinischer Bemühungen gelang es bisher nicht, die Zahl der Frühgeburten zu reduzieren. Dass Pressemeldungen aus unterschiedlichen Ländern von einem deutlichen Rückgang von Frühgeburten während des Corona-Lockdowns berichten, ist eine medizinische Sensation. Ist das wirklich so? Peggy Seehafer, Priv.-Doz. Dr. Holger Maul,

Peggy Seehafer: Zu Pfingsten 2020 veröffentlichte das staatliche Statens Serum Institut in Dänemark erstaunliche Beobachtungen in der Neonatologie. Die Zahl der sehr kleinen Frühgeborenen – jünger als 28 Schwangerschaftswochen (SSW) – sei im Lockdown vom 12. März bis 14. April 2020 von 2:1.000 auf 0,19:1.000 zurückgegangen. Als Vergleich dienten dieselben Vorjahreszeiträume von 2015 bis 2019. Dies wäre ein Rückgang um 90 % (Hedermann et al. 2020). Statt der zu erwartenden 27 Frühgeborenen im Monat waren es plötzlich nur 3. Wie stellt sich das für Deutschland dar? Vielleicht handelt es sich um statistische Verschiebungen, da Dänemark als kleines Land auch sehr kleine Frühgeburtenzahlen hat.

Holger Maul: In der Tat eine Sensationsmeldung. In deutschen Fachkreisen konnten wir das in diesem Ausmaß nur leider so nicht nachvollziehen. Eine gewisse Reduktion war aber durchaus plausibel und ich hielt das, was die Dänen beobachteten, durchaus für möglich. Die große Sorge vieler war ja, sich im Krankenhaus möglicherweise anzustecken, so dass nur noch die nötigsten Termine wahrgenommen wurden. Viele Risikoschwangere wurden nicht so engmaschig betreut wie üblich. So sind meinem Gefühl nach viele Einleitungen und Kaiserschnitte, die sonst früher gemacht worden wären, tatsächlich später oder in einigen Fällen gar nicht durchgeführt worden. Da wir Einleitungen auch wegen geringerer absoluter Risiken für einen intrauterinen Fruchttod (IUFT) machen, kann es durchaus so sein, dass die Zahl der IUFT gestiegen ist, dieser Anstieg bisher aber kaum bemerkt wurde. Das werden wir erst in den nächsten Jahren nach genauer Analyse aller Daten wissen. Eines steht aber jetzt schon fest: Covid-19 hat auch dazu geführt, Risiken neu zu bewerten und Abläufe auf den Prüfstand zu stellen.

Peggy Seehafer: Ab wann haben das die deutschen Kliniken in den Fokus genommen?

Holger Maul: Die Meldung war natürlich sofort überall Diskussionsstoff, auch wenn kaum jemand in Deutschland selbst ähnliche Veränderungen bemerkt hatte. Hinzu kommt: Saisonale Schwankungen sind normal. Leider ohne, dass sich ein überzeugendes Muster erkennen ließe. Die Mehrzahl der GynäkologInnen und KinderärztInnen war zurückhaltend und eher skeptisch, ob die Beobachtung nicht eher ein Produkt des Zufalls war. Natürlich hofften alle, dass es das nicht war.

 

Peggy Seehafer: Wie stellen sich die Zahlen für Deutschland dar? Die Frühgeborenen, die vor der vollendeten 28. SSW geboren werden, machen in Deutschland 0,6 % aller Neugeborenen aus. In Zahlen waren das 4.587 Kinder im Jahr 2019 (IQTIQ 2020). Das sind im Durchschnitt 382 pro Monat. Bei vergleichbaren Werten zu Dänemark würde sich das auf 38 Kinder im Lockdown-Monat reduziert haben müssen. Die AOK Deutschland beobachtete bei ihren Versicherten in Berlin und Brandenburg jedoch einen Anstieg bei den Zahlen der kleinen Frühgeborenen im März und April 2020. Das wiederum passt zu der Beobachtung eines erheblich gesteigerten Frühgeburtsrisikos im Falle einer Covid-19-Infektion in der Schwangerschaft (Antoun et al. 2020; Kc et al. 2020; Allotey et al. 2020; Duley et al 2020).

Holger Maul: Eben das ist das Problem. Wir werden erst mit gewissem Abstand bewerten können, ob es die Rate früher Frühgeburten wirklich abgenommen hat. Hinzu kommt: Wir müssen dazu auch wissen, ob im gleichen Zeitraum die Zahl der Spätaborte oder der IUFTs zugenommen hat. Auch die Rate an Notkaiserschnitten und kindlichen Asphyxien wird zu analysieren sein. Dazu ist bisher überhaupt nichts bekannt. Zudem reichen Berlin und Brandenburg nicht, um daraus allgemeingültige Aussagen ableiten zu können.

 

Peggy Seehafer: Wie viele der sehr kleine Frühgeborenen waren denn Mehrlinge? Es macht ja zahlenmäßig einen erheblichen Unterschied, ob sich vor allem die Mehrlingsfrühgeburten verringern oder ob es die Einlinge betrifft. Für die NeonatologInnen geht es um andere Zahlen als für die GeburtshelferInnen, die sich ja auf die Geburten, also auf die Frauen beziehen. Es würde auch bei Überlegungen zu präventiven Maßnahmen einen Unterschied machen, ob es sich nur um Mehrlingsmütter oder um alle Frauen dreht.

Holger Maul: Diese Raten liegen nur wenig auseinander. Das kann bezogen auf die Gesamtheit der Frühgeburten wahrscheinlich vernachlässigt werden.

 

Anteil der Frühgeburten in % (Anzahl der Schwangeren, unabhängig von der Anzahl der Feten) und Anteil an Frühgeborenen (inklusive Mehrlinge) vor der 28. SSW in den aufgeführten Ländern vor der Corona-Krise 2019

Peggy Seehafer: Wie werden die Zahlen international bewertet? Irland hat im Einzugsgebiet der Universitätsklinik Limerick eine Reduktion um 73 % für sehr kleine Frühgeborenen festgestellt (Philip et al. 2020 a und b). Die Niederlande melden eine Reduktion der Rate über alle Schwangerschaftswochen hinweg von 15 % bis 23 % (van Been et al. 2020). Vielleicht können wir uns geburtshilflich eher mit Österreich vergleichen als mit Skandinavien. Ich habe in Innsbruck Prof. Ursula Kiechl-Kohlendorfer von der Universitätskinderklinik gefragt. Sie konnte aufgrund der niedrigen Zahlen von 70 bis 80 Frühchen unter 28 SSW in ihrer Klinik keine belastbaren Angaben machen.

Holger Maul: Es nützt gar nichts, wenn wir Raten einzelner Zentren beurteilen. Wir brauchen Daten zu Gesamtpopulationen ganzer Länder. Im Idealfall Daten aus ganz Europa, die mit dem gleichen Algorithmus erhoben und analysiert wurden. Es ist schon kritisch zu bewerten, wenn eine Maximaltherapie in dem einen Land ab 22+0 SSW möglich ist, in einem anderen erst ab 25+0 SSW. Was in einem Land in die Rubrik »Spätabort« fällt, ist anderenorts eine Frühgeburt. Solange hier nicht wissenschaftlich verwertbare, verbindliche und einheitliche Standards gelten, vergleichen wir Äpfel mit Birnen. Auch bei den Raten sonografisch gesicherter Gestationsalter bestehen erhebliche Unterschiede zwischen europäischen Ländern.

 

Peggy Seehafer: Die dänischen KollegInnen hatten anfangs die Befürchtung, dass sich die Probleme nur verlagern. Die Kinder würden nicht mehr zu früh geboren, stattdessen würden sie möglicherweise etwas später intrauterin versterben. Eine Studie aus London mit einem signifikanten IUFT-Anstieg von 1,2:1.000 auf 7:1.000 Neugeborene scheint das zu bestätigen, auch wenn diese Zahlen sich nicht unter den Frühgeborenen veränderten (Khalil 2020). Gibt es Belege, dass diese Befürchtungen wahr wurden?

Holger Maul: Belege noch nicht, aber ich halte das für absolut plausibel. Allerdings kann ich auch hier nur raten, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen – schon gar keine, die auf der Basis von Daten aus Großbritannien auf unser Gesundheitswesen in Deutschland übertragen werden. Im eigenen Umfeld ist mir kein einziger Fall zu Ohren bekommen, in dem ein IUFT aufgetreten wäre, der unter normalen Bedingungen nicht aufgetreten wäre.

 

Peggy Seehafer: Einige vermuteten, dass schwangere Frauen während des Lockdowns mehr Schlaf und Unterstützung durch ihre Familien bekamen. Auch ein Rückgang der Luftschadstoffe durch die Einschränkungen des Straßenverkehrs kam als mögliche Erklärung in Betracht (van Been et al. 2020). Die schnell vermutete Stressreduktion durch Homeoffice konnte ja nur eine kleine Gruppe der Frauen betreffen, nämlich maximal die Erstgebärenden, die sich noch nicht um Kinder im Homeschooling neben der eigenen Büroarbeit kümmern mussten. Andere Schwangere, die auswärts arbeiteten, hatten diese Möglichkeiten ja gar nicht. Auch der von Jasper van Been und seinem Team in einer niederländischen Studie beschriebene reduzierte Schichtdienst stimmt weder für die Fahrerinnen im öffentlichen Nahverkehr noch für Polizistinnen und Klinikarbeiterinnen. Gibt es dazu Erkenntnisse?

Holger Maul: Mir sind hierzu keine belastbaren Zahlen bekannt. Man muss sehr sorgfältig achtgeben, nicht jede gut klingende Theorie gleich für bare Münze zu nehmen. Auch wenn es noch so schön wäre, den vermeintlichen Schlüssel zur Frühgeburtenprävention gefunden zu haben. Selbst wenn sich in einigen Ländern ein Abfall oder gar ein Anstieg der Frühgeburtenrate im Jahr 2020 gegenüber den Vorjahren ermitteln ließe, heißt das noch lange nicht, dass ein Zusammenhang zur Covid-19-Pandemie bestehen muss. Es wird Jahre dauern, das sorgfältig statistisch aufzuarbeiten.

 

Peggy Seehafer: Jasper van Been und sein AutorInnenteam gehen davon aus, dass Veränderungen in der geburtshilflichen Praxis dazu beigetragen haben könnten, die Frühgeburtenzahlen zu reduzieren, weil eine Minderheit der Frühgeburten eingeleitet wird, in der Regel aus gesundheitlichen Gründen der Mutter oder des Feten. Halten Sie das für denkbar?

Holger Maul: Durchaus. Wenn Sie wegen eines sehr hohen IUFT-Risikos von 1:500 unter normalen Bedingungen eine Schwangerschaft auf welchem Wege auch immer beenden würden, kann es sein, dass sie dieses Risiko unter dem Druck anderer Rahmenbedingungen ganz anders bewerten. Das hätte unter Umständen ganz erheblich Auswirkungen auf die Frühgeburtenrate. Stellen Sie sich 2.000 Schwangere mit diesem Problem in der 28. SSW vor: Wenn sich unter Normalbedingungen 1.000 Schwangere für die Einleitung oder die Sectio entscheiden, haben wir 1.000 Frühgeburten mehr und statistisch gesehen zwei IUFT bei den 1.000 Frauen, die sich dagegen entschieden haben. Wenn sich unter Covid-19-Bedingungen stattdessen 500 Schwangere für die Einleitung oder die Sectio entscheiden, haben wir nur noch halb so viele Frühgeborene bei praktisch unveränderter IUFT-Rate (3 vs. 2). Den geringen Anstieg wird man als GynäkologIn oder Hebamme überhaupt nicht bemerken. Nur die eine Mutter mehr, die ohne Kind nach Hause geht, wird sehr leiden. Und noch stärker, wenn sie wüsste, dass ihr das Schicksal unter anderen Voraussetzungen hätte erspart werden können.

 

Peggy Seehafer: Es gab Stimmen, dass die vielen Schwangerschaftsuntersuchungen bei den FrauenärztInnen für die erhöhte Frühgeburtsrate verantwortlich sein könnten, die nun durch den Lockdown weggefallen seien. Dagegen spricht, dass die Frauen ihre Vorsorgeuntersuchungen aus meiner Erfahrung sehr ernst nehmen und auch in der Schwangerschaft zur Kontrolle kommen. In Dänemark findet die Vorsorge sowieso bei Hebammen statt und nicht bei ÄrztInnen, insofern lässt sich der Rückgang damit nicht begründen. Nehmen in Deutschland weniger Frauen ihre Vorsorgetermine wahr als vor der Pandemie?

Holger Maul: Die Durchführung der Vorsorgeuntersuchungen und deren Inhalt hat in Deutschland quasi Gesetzescharakter, weil sie in den Mutterschafts-Richtlinien geregelt sind. Mir ist nicht bekannt, dass die Covid-19-Pandemie irgendetwas an den Intervallen oder Inhalten geändert hätte. In der eigenen Klinik in Hamburg konnte ich jedenfalls keine Veränderungen erkennen. Was ich allerdings sehr stark gemerkt habe, war, dass die Vorstellungen viel organisierter und zielgerichteter verliefen. Ich persönlich habe die Zeit als angenehm empfunden.

 

Peggy Seehafer: Einer Studie aus Großbritannien zufolge haben 89 % der Frauen Vorsorgetermine in der Schwangerschaft während der Pandemie abgesagt (Jardine et al. 2020). Gibt es Untersuchungen, in welchen – möglicherweise risikobelasteten – Gruppen sich die Frühgeburtenrate verringert hat? Bei der geringen Anzahl in Dänemark können da kaum Erkenntnisse gewonnen werden, aber in bevölkerungsreichen Ländern wäre das ja durchaus möglich. Diabetes und Bluthochdruck verschwinden als Risikofaktoren nicht durch das Auftreten eines Virus.

Holger Maul: Eine Gruppe um Janet Green aus Australien hat sich mit modifizierbaren Risikofaktoren für eine Frühgeburt im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie beschäftigt (Green et al. 2020). Neben den nicht-modifizierbaren Risikofaktoren gibt es eine ganze Reihe von modifizierbaren (siehe Kasten, Seite 14). Dass diese den entscheidenden Unterschied dafür machen sollen, dass es zu einer Frühgeburt kommt oder nicht, halte ich auf der Basis meiner langjährigen klinischen Erfahrung für extrem unwahrscheinlich. Jedenfalls würde es mich sehr überraschen! Gerade Diabetes und Bluthochdruck könnten durch den Lockdown sogar zugenommen haben. Viele Menschen berichten davon, dass sie in der Zeit Gewicht zugenommen hätten, was dann auch mit einer Zunahme an Diabetes und Bluthochdruck einhergegangen sein könnte.

 

Peggy Seehafer: … und zu einer Zunahme von Frühgeborenen führen würde. Die niederländische Studie zeigt, dass der Effekt bei Schwangeren mit einem höheren sozialen Status deutlicher ausgefallen ist (van Been et al 2020). Eigentlich sind aber ein niedriger Bildungsstand und sozioökonomischer Status bekannte Risikofaktoren für Frühgeburten.

Holger Maul: Auch dafür hätte ich eine plausibel klingende Hypothese anzubieten: Die Schwangeren mit niedrigem sozialen Status hatten vor Covid-19 Stress und nach Covid-19 – auch wegen des steigenden Armutsrisikos – genauso viel oder eher noch mehr Stress. Für die meisten Schwangeren mit höherem sozialen Status hat sich das Leben vermutlich in erster Linie entspannt, ist einfacher geworden. Wirklich Sorgen musste sich in dieser Bevölkerungsgruppe wahrscheinlich nur eine Minderheit machen.

 

Peggy Seehafer: Einige behaupten, dass das bekannte Infektionsrisiko für Frühgeburten durch die Umsetzung von Covid-19-Gegenmaßnahmen beeinflusst werden könnte. Asymptomatische mütterliche Infektion können durch vertikale Übertragung eine intrauterine Infektion verursachen. Dadurch kann eine Kaskade in Gang gesetzt werden, die zu einer Frühgeburt führt. Physische Distanz und Selbstisolierung, fehlende Arbeitswege, die Schließung von Schulen und Kinderbetreuungs­einrichtungen sowie ein erhöhtes Bewusstsein für Hygiene reduzieren den Kontakt mit Krank­heitserregern und damit das Infektions­risiko. Ist das glaubwürdig?

Holger Maul: Ich halte dieses Thema für ganz entscheidend. Die Maßnahmen haben durch die Abstandsregeln nicht nur zu einer Abnahme bronchopulmonaler Infekte geführt. Auch das Bewusstsein insgesamt hat zugenommen, zum Beispiel wurden die Impfempfehlungen des RKI, sich als Schwangere gegen Influenza impfen zu lassen, sehr viel ernster genommen als in der Vergangenheit. Die Impfung gegen Influenza senkt nachgewiesene­r­maßen das Frühgeburtsrisiko (Fell et al. 2017). Auch die Nachfrage nach der empfohlenen Pertussis-Impfung für Schwangere im dritten Trimenon ist sehr hoch. Ein weiteres Thema ist Cytomegalie: Wenn ältere Kinder über lange Zeit nicht in den Kindergarten gehen können, sinkt automatisch das Risiko, sich dort anzustecken und das Virus zu Hause einzuschleppen. Gleiches gilt für das Parvovirus-B19 (Ringelröteln) und andere Infektionen, die mit einem erhöhten Frühgeburtsrisiko assoziiert sind. Dass im Zuge der Covid-19-Pandemie viele unterschiedliche Infektionen abgenommen haben, ist inzwischen bewiesen (RKI 2021).

 

Peggy Seehafer: Welche Folgen hat das für die Betreuung von Schwangeren? Ich befürchte Übersprungshandlungen, die langfristig zu einer sehr konservativen Betrachtung der Frauen führen könnten. Wenn sie ab Schwangerschaftsbeginn geschont werden müssten, um Frühgeburten zu verhindern, bräuchte man weder in ihre Ausbildung noch in ihre Karriere zu investieren. Man könnte das zumindest bis nach der fertilen Phase aussetzen. Und das würde einen sehr großen Rückschritt in der gesellschaftlichen Teilhabe bedeuten. Zumal es Untersuchungen aus Österreich gibt, die zeigen, dass sich die Berufstätigkeit während der Schwanger-­schaft nicht auf die Gesundheit der Neugeborenen auswirkte (Chuard 2020).

Holger Maul: Ich sehe insgesamt viele positive Effekte auf die Betreuung von Schwangeren. Wir haben wieder gelernt, dass die Beschränkung auf das Wesentliche durchaus angenehm für alle Beteiligten sein kann. Die Reduktion von Besuchen und Begleitpersonen in den ambulanten und stationären Bereichen der Geburtshilfe mag für die eine oder andere Schwangere zunächst enttäuschend gewesen sein, insgesamt hat sie aber zur Entspannung aller beigetragen. Das Bewusstsein für Hygiene und für Impfungen wurde wiederbelebt. Und ich bin mir sicher, dass wir durch die erzwungenen Lerneffekte im Rahmen der Covid-19-Pandemie auch eine Reduktion der Übertragung klassischer Krankenhauskeime (mult­iresistente Bakterien) beobachten werden. Wer sich nicht mehr die Hand gibt, überträgt auch solche Keime nicht. Vielleicht hat sich auch ein neues Bewusstsein für die Beurteilung von Risiken entwickelt. Muss ich zur Verhinderung eines 1:500-Risikos ein 1:50-Risiko für etwas anderes eingehen? Die 100- %-Mentalität in der Geburtshilfe hat zu großen Erfolgen und zu einer massiven Reduktion von maternaler und perinataler Mortalität und Morbidität geführt. Wurde auf Kosten dieser Zielparameter nicht in anderen Bereichen über das Ziel hinausgeschossen? Ich denke an die Frequenz und einige Inhalte von Vorsorgeuntersuchungen, extrem teure Screeningverfahren mit hohen Falsch-positiv-Raten bei gleichzeitiger Verfügbarkeit günstiger Therapie- und Prophylaxemaßnahmen ohne nachweisbare Nebenwirkungen, die Sectiorate und so weiter. Dies wird Gegenstand von Diskussionen sein, die uns sicher zwei oder drei Jahrzehnte beschäftigen werden.

 

Peggy Seehafer: Vielen Dank für unseren Austausch. Es wird also neben spannenden Ergebnissen aus der Corona-Zeit auch in Bezug auf die Frühgeburtlichkeit einiges geben, das wir später auf der Grundlage von Daten diskutieren müssen.

 

 

Risikofaktoren für die Frühgeburt

 

Hohes Risiko

  • Status nach Frühgeburt
  • Frauen mit Mehrlingsschwangerschaft
  • Frauen mit prägravid oder sich früh im zweiten Trimester verkürzter Zervix

Geringeres Risiko

  • Placenta praevia partialis und totalis
  • Uterusruptur nach Sectio oder Myomentfernung
  • ethnische Zugehörigkeit: vorzeitige Wehen und Frühgeburten treten bei Frauen bestimmter ethnischer Gruppen häufiger auf
  • Alter der Mutter unter 18 und über 35 Jahre
  • Frauen nach Sterilitätsbehandlung: bei Schwangerschaften nach IVF erhöht sich das Risiko für eine spontane Frühgeburt um 80 %, unabhängig von Mehrlingsschwangerschaften
  • fetale Anomalie

Modifizierbare Risikofaktoren für Frühgeburtlichkeit

  • Infektionen (z.B. Chlamydien)
  • Prävention von Krankheiten z.B. durch Grippeimpfung
  • maternale Erkrankungen, inklusive eines prägraviden Typ-2-Diabetes, Gestationsdiabetes und Hypertonie
  • Lebensstil, einschließlich Adipositas, Rauchen, Alkoholkonsum und Gebrauch illegaler Drogen
  • fehlende Inanspruchnahme der Schwangerschaftsvorsorge
  • arbeitsbedingter Stress mit langen Arbeitszeiten und langem Stehen
  • häuslicher Stress, fehlende soziale Unterstützung, häusliche Gewalt, einschließlich körperlichem, sexuellem oder emotionalem Missbrauch
  • Exposition gegenüber bestimmten Umweltgiften
  • kurze Schwangerschaftsfolgen unter 6 Monaten

Quelle: Green J et al. 2020, siehe auch: Berger R et al.: Reducing the risk of preterm birth by ambulatory risk factor management. Dtsch Arztebl Int 2019. 116: 858–64. DOI: 10.3238/arztebl.2019.085

Rubrik: 1. Lebensjahr | DHZ 05/2021

Literatur

Antoun L, Taweel NE. Ahmed I, Patni S, Honest H: Maternal COVID-19 infection, clinical characteristics, pregnancy, and neonatal outcome: a prospective cohort study. Eur. J. Obstet. Gynecol. Reprod. Biol. 2020. 252, 559–562. https://doi: 10.10 16/j.ejogrb.2020.07.008.

Allotey J, Stallings E, Bonet M, Yap M, Chatterjee S, Kew T, Balaji R: Clinical manifestations, risk factors, and maternal and perinatal outcomes of coronavirus disease 2019 in pregnancy: living systematic review and meta-analysis. BMJ 2020. 370. https://doi.org/10.1136/bmj.m3320

Berger R, Rath W, Abele H, Garnier Y, Kuon RJ, Maul H: Reducing the risk of preterm birth by ambulatory risk factor management. Dtsch Arztebl Int 2019. 116: 858–64. DOI: 10.3238/arztebl.2019.085
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