Leseprobe: DHZ 07/2017

Wie lange ist zu lange?

Ob eine Geburt schnell oder langsam vorangeht, ist relativ. Allmählich wandelt sich die Einschätzung der Geburtsdauer von einer allgemeinen Einteilung in zeitlich begrenzte Phasen hin zu einem Verständnis für individuelle rhythmische und ineinander fließende Zyklen. Monica Vogt,
  • Als Pasmo wird es bezeichnet, wenn die Geburt zum Stillstand kommt, die Wehentätigkeit mitunter ganz aufhört. Die Gebärende sollte dann in eine Atmosphäre von Geborgenheit eintauchen können.

In der außerklinischen Geburtshilfe wird der Frau in der zweiten Geburtsphase in der Regel ihre Zeit gelassen, solange es ihr und dem Kind gut geht. Aber in der klinischen Geburtshilfe wird dieser Zeitabschnitt in der Regel nach höchstens drei Stunden beendet, meist vaginal-operativ. Die Zeitbegrenzung der zweiten Geburtsphase erfolgt auch dann, wenn es sonst keine Anzeichen von Gefahr für Mutter und Kind gegeben hatte, die eine Geburtsbeendigung rechtfertigen würden (siehe Kasten: Die Macht der Worte).

Der Faktor „Zeit" und unser Wunsch, „den Frauen ihre Zeit für die Geburt zu geben", sind schwierige Themen in der Geburtshilfe. Die für einen bestimmten Geburtsabschnitt definierte Zeit entscheidet darüber, ob wir eine Geburt einleiten, weil die Frau den Termin überschritten hat, oder ob wir eine Geburt beschleunigen oder beenden, weil eine bestimmte Geburtsphase „zu lange dauert". Nur: Was ist „zu lange"? Ab wann sprechen wir von einer „protrahierten Geburt"? Woher kommt die zeitliche Begrenzung der einzelnen Geburtsphasen? Wer definiert eine „lange Geburt"? Woran orientieren wir uns, wenn es um den Faktor „Zeit" geht? An dem, was wir gelernt haben aus dem Unterricht, den Lehrbüchern und den Leitlinien zur Geburtsdauer? Oder orientieren wir uns an der individuellen Gebärzeit der Frau, die auch Pausen und Unterbrechungen beinhalten kann, und an den Zeichen, die Mutter und Kind uns geben?

In der klinischen Praxis, in geburtshilflichen Leitlinien und in vielen Lehrbüchern wird die historisch gewachsene zeitliche Begrenzung der einzelnen Geburtsphasen weiter befolgt. Dabei gibt es seit Ende der 1990er Jahre zunehmend Kritik an der Festlegung einer „Standardgeburtszeit". Definiert wird diese von VertreterInnen der klassischen Biomedizin anhand von verschiedenen Studien, die sich mit der normierten Geburtsdauer sowohl der Eröffnungsphase als auch der zweiten Geburtsphase beschäftigen, und von VertreterInnen der Salutophysiologie, deren Argumentation sich auf neue (und wiederentdeckte) Erkenntnisse der physiologischen Zusammenhänge und deren dynamisches Miteinander stützt.

 

Die Macht der Worte

 

Denken formt Sprache und Handlung. Was und wie wir etwas sagen, hat eine Wirkung. „Austreibungsperiode" ist ein mechanistischer Begriff, der das Kind als passives Objekt sieht und die Gebärende wie eine Maschine. Er bezieht nicht die vielfältigen Faktoren mit ein, die es braucht, damit ein Mensch geboren werden kann. Weiter steckt in diesem Begriff das Wort „treiben", das von seiner Bedeutung her impliziert, dass etwas schnell gehen müsse, dass man sich beeilen sollte. Die Autorin verwendet deshalb für den Begriff „Austreibungsperiode" in Ermangelung eines besseren Wortes die deutsche Übersetzung „zweite Geburtsphase" des englischen Begriffes „second stage".

 

Medizinische Kritik an der Norm

 

Die zeitliche Normierung der Geburtsdauer wurde von wissenschaftlicher Seite durch verschiedene Studien in Frage gestellt. Eine wichtige Untersuchung hierzu ist die Studie von Sandra Cesario et al. aus dem Jahr 2004. Sie hat zum einen festgestellt, dass es eine zeitlich größere Bandbreite der Geburtsdauer gibt als bei Emanuel Friedman angegeben (siehe Seite 17ff.). Zum zweiten ergab die Studie, dass eine „lange" zweite Geburtsphase keine negativen Auswirkungen auf die Gesundheit von Mutter und Kind hat (Cesario et al. 2004).

Verschiedene andere Studien mit der gleichen Fragestellung kamen zu ähnlichen Ergebnissen (Janni et al. 2002; Myles & Santaloya 2003; Rouse et al. 2009). Wolfgang Janni und KollegInnen fassen zusammen, dass es keine Evidenzen gebe für die Korrelation einer erhöhten kindlichen Morbidität und einer „langen" zweiten Geburtsphase. Sie kommen zu dem Schluss, dass Interventionen in der zweiten Geburtsphase nicht durchgeführt werden sollten nur aufgrund von vorgegebenen Zeitlimitationen (Janni et al. 2002).

Die Studie von Dwight Rouse et al. schließlich fasst ihre Erkenntnisse so zusammen: „Die zweite Geburtsphase muss nur aufgrund einer vorgegebenen Zeitdauer nicht beendet werden." (Rouse et al. 2009)

Diese Einsichten schlagen sich bisher kaum in internationalen Leitlinien zum Zeitmanagement der zweiten Geburtsphase nieder. Einzige Ausnahme scheint die amerikanische Leitlinie der ACOG „Safe prevention of the Primary Cesarean" von 2014 zu sein. Eine der Hauptindikationen für einen Kaiserschnitt ist demnach die Diagnose eines Geburtsstillstands, sei es in der Eröffnungsphase oder in der zweiten Geburtsphase.

Die ACOG-Leitlinie kommt zu dem Schluss, dass es keinen wissenschaftlichen Zusammenhang zwischen einer langen zweiten Geburtsphase von drei bis fünf Stunden und einem schlechten Zustand des Kindes nach der Geburt gibt. Die ACOG empfiehlt deshalb, einen Geburtsstillstand in der zweiten Geburtsphase erst nach frühestens zwei Stunden (bei Mehrgebärenden) und drei Stunden (bei Erstgebärenden) aktiven Mitschiebens zu diagnostizieren.

 

Kritik aus salutophysiologischer Sicht

 

Erst in letzter Zeit wird durch die Beobachtung außerklinischer Geburten und ihrer Verläufe die Geburt wieder eher als ein Prozess verstanden, der durchaus Pausen und Übergänge beinhalten kann. Hebammen, die noch die Zeit und Muße haben, eine Geburt in der für die Frau und ihr Kind notwendigen Gebärzeit zu betreuen, kennen das Phänomen, das die amerikanische Hebamme Ina May Gaskin mit dem Begriff „pasmo" zusammenfasst. „Pasmo" bedeutet, dass die Geburt, auch wenn sie bereits begonnen hat, zu einem Stillstand kommt: Die Wehentätigkeit hört wieder auf, oder der Muttermund verschließt sich gar wieder (Gaskin 2003).

Im klinischen Alltag wird hier oft die Diagnose eines Geburtsstillstands gestellt und entsprechend interveniert.

Gründe, die zu einem tatsächlichen Geburtsstillstand führen können, sind beispielsweise Einstellungsanomalien, Wehendystokien, die Geburt eines toten Kindes, ein echtes Kopf-Beckenmissverhältnis oder die Schulterdystokie in der späten zweiten Geburtsphase. Daneben wird erst in jüngster Zeit die enorme Bedeutung des Hormons Oxytocin während der Geburt immer klarer. Oxytocin ist ein Hormon, das sehr störanfällig ist. Es ist bekannt, das die Ausschüttung dieses Hormons abhängig ist von bestimmten Umgebungsfaktoren: Während einer Geburt kann es nur in genügendem Maß ausgeschüttet werden, wenn sich die Gebärende geborgen und unbeobachtet fühlt und wenn ihre Privatsphäre beachtet wird (Odent 2004).

Störfaktoren wie Licht, Lärm, laute Stimmen oder verbale Kommunikation (Aktivierung des Neocortex) können diese Privatsphäre empfindlich stören. Sie hemmen die Ausschüttung von Oxytocin und dadurch kann es zu einer Verlängerung oder gar einem Stillstand im Geburtsprozess kommen (Affolter 2010).

Auch Ängste aller Art, die die Frau mit in die Geburt nimmt, oder chronischer Stress können den Geburtsverlauf beeinflussen oder hemmen. Angst und chronischer Stress aktivieren im Körper zum einen die Ausschüttung von Kortisol, zum anderen hemmen sie die Bildung von Endorphinen und die körpereigene Oxytocin-Produktion. Ist dies der Fall, kann es zu einer Wehenschwäche und in Folge zu einem Geburtsstillstand kommen. Würde man nun in einer Situation von chronischem Stress, der die Ursache eines vermeintlichen „Geburtsstillstandes" sein kann, einen Wehentropf verwenden, um die Geburt zu beschleunigen, würde die pausenlose Ausschüttung von Katecholaminen aufrechterhalten werden und die Geburt würde weiter verzögert (Schmid 2005).

 

Geburt: Eher zyklisch als linear

 

Physiologische Geburten unterliegen einem eigenen Rhythmus von Spannung und Entspannung, von Wehe und Wehenpause (Schmid 2011). Diese „Körper- und Gebärrhythmik" zeigt sich zum einen in einem fein abgestimmten rhythmischen Zusammenspiel der Hormone, die bei der natürlichen Geburt wirken. Zum anderen gibt es ein Zusammenspiel der Antagonisten Sympathikus und Parasympathikus im neurovegetativen Nervensystem. Die meisten Fachkräfte in der Geburtshilfe sind an einen linearen Geburtsfortschritt gewöhnt, der mit der Uhr gemessen wird. Wenn dieser nicht in der zeitlich festgesetzten Norm verläuft, wird die Geburt beschleunigt. Ausgehend vom Verständnis und Wissen der physiologischen Systeme der Geburt, der ihr eigenen Rhythmik und aus der Beobachtung des Verhaltens von Gebärenden beschreiben Verena Schmid und die Professorin für Hebammenwissenschaft Soo Downe einen „Geburtszyklus", der jeder physiologischen Geburt innewohnt (Schmid & Downe 2010: 169–173). Die Geburt als einen eher zyklisch denn linear ablaufenden Prozess zu sehen, ist ein neuer Ansatz. Er würdigt den Geburtsprozess in seinem einzigartigen Ablauf von Verhalten, emotionalem Ausdruck und klinischen Veränderungen, die jede Frau individuell durchläuft.

Schmid und Downe beschreiben insgesamt acht zyklisch ablaufende Phasen einer Geburt. Damit brechen sie die alte Auffassung von drei zeitlich scharf begrenzten Geburtsabschnitten auf.

Was diese neue Sichtweise unterstreicht, ist die Beobachtung, dass diese zyklischen Phasen zeitlich ineinander übergehen können. Insgesamt sind in diesem Geburtszyklus vier Übergangsphasen enthalten, die in ihrem Rhythmus und ihrer Geschwindigkeit individuell unterschiedlich ablaufen können. Diese Übergänge dienen der emotionalen und körperlichen Anpassung der Frau an den Geburtsprozess. Sie können sehr schnell oder aber sehr langsam ablaufen. In einem eher langsamen Übergang ist es durchaus möglich, dass die Wehen wieder aufhören und es zu einer Pause im Geburtsablauf kommt. Diese Pausen sind für den Geburtsablauf aber notwendig, damit die Frau wieder Kraft schöpfen kann. Wird das Tempo der „langsamen Übergänge" respektiert und wird hier in den Geburtsablauf nicht eingegriffen und die Geburt beschleunigt, entsteht von alleine wieder eine gute Wehendynamik und die Geburt geht weiter.

In jeder dieser acht Zyklusphasen wird das emotionale und körperliche Verhalten der Gebärenden beschrieben. Die Beobachtung beruht auf den physiologischen Systemen der Geburt, ähnlich der „Zeichenlehre", die Johann Melchior Aepli 1821 in seinem Lehrbuch „Leitfaden zum Unterricht für Hebammen und ihre Lehrer" beschrieben hat (siehe auch Seite 16ff.).

Prof. Dr. Sven Hildebrand beschreibt in einem aktuellen Fachartikel eine ähnliche Einteilung des Geburtsprozesses wie Schmid und Downe (Hildebrand 2013). Er spricht von insgesamt zehn Geburtsphasen, die auch die Vorgeburtsphase (ähnlich wie Aepli) als eigene Geburtsphase zum Geburtsprozess dazu zählt. Laut Hildebrand suggeriert die „alte" Einteilung der Geburt in drei Stadien „scharfe Übergänge, die es in der Natur nicht gibt" (Hildebrand 2013).

Betrachtet man die Geburt als Ganzes, gibt es bis auf den Blasensprung, die Geburt des Kindes und der Plazenta keine eindeutigen Zeitmarker. Hildebrand fordert deshalb, dass jede geburtshilfliche Entscheidung ein auf die individuellen Bedingungen dieser Geburt abgestimmter Prozess sein müsse, der die Rhythmik und Dynamik von Mutter und Kind berücksichtigt (Hildebrand 2013).

 

Geburtsdauer neu denken

 

Mit der weiten Verbreitung der standardisierten Einteilung der Geburt in genau definierte Zeitphasen hat sich ein Denken etabliert, dessen Folgen sich sowohl in der Sprache als auch im Handeln von GeburtshelferInnen und Hebammen manifestieren.

Andererseits wird durch die Beobachtung ungestörter natürlicher Geburtsverläufe immer klarer, dass eine Geburt nicht linear und gleichförmig verläuft, dass sie Pausen und Unterbrechungen beinhalten kann. Hier scheint sich ein Paradigmenwechsel abzuzeichnen: Sehr langsam wächst das Verständnis, wie enorm die Bandbreite der Dauer bei normal und ungestört ablaufenden Geburten sein kann.

Damit dieser Wandel hin zu einem anderen Verständnis von Geburtsdauer stattfinden kann, braucht es zunächst ein „Neudenken" in den Köpfen der Hebammen und GeburtshelferInnen.

Basis für dieses andere Verständnis ist die genaue Beobachtung natürlich ablaufender Gebärprozesse. Dadurch können GeburtshelferInnen und Hebammen feststellen, welche Zeichen es im Verhalten und Ausdruck der Gebärenden gibt, um eine Aussage darüber machen zu können, in welchem Abschnitt der Geburt die Frau sich gerade befindet oder um ein Fortschreiten der Geburt festzustellen. Hier könnte man eine „moderne Zeichenlehre" entwickeln – jenseits der Verifizierung des Geburtsfortschritts nur durch vaginale Untersuchung und zeitliche Vorgaben. Ansätze hierzu finden sich schon in der Beschreibung des Gebärprozesses von Schmid und Downe und in einer neuseeländischen Studie aus dem Jahr 2013, die sich mit dem emotionalen Erleben von Frauen im Gebärprozess beschäftigt (Dixon et al 2013). Lesley Dixon und KollegInnen haben in Neuseeland 18 Frauen interviewt, die normal und ohne Interventionen geboren haben. Die Frauen beschrieben, was sie zu jedem Zeitpunkt der Geburt dachten, taten und fühlten. Die Gefühlsprozesse dieser 18 Frauen waren ähnlich und deckten sich teilweise mit den Phasen des Geburtszyklus, die Schmid und Downe beschreiben. Es scheint also Zeichen zu geben, die Frauen in der Geburt gemeinsam haben. Hierzu wäre noch enormer Forschungsbedarf vonnöten.

Hebammen und GeburtshelferInnen werden immer noch in den zeitlichen Begrenzungen der einzelnen Geburtsphasen unterrichtet. Damit die Kunst der genauen Diagnose nicht verlorengeht, wäre es nötig, bereits hier eine andere Sicht auf die Geburtsdauer zu vermitteln. Die Physiologie des Geburtsprozesses sollte dafür die Basis bilden und in der Praxis sollte die genaue Beobachtung der Zeichen dieser Systeme geschult werden.

Ein weiterer wichtiger Punkt, der sich ändern muss, damit Frauen in ihrer Zeit gebären können und ihre BegleiterInnen überhaupt die Zeit für die Begleitung des Geburtsprozesses haben, ist eine wirklich kontinuierliche Eins-zu-eins-Betreuung durch Hebammen in einer Umgebung, in der die Gebärende sich geschützt, sicher und aufgehoben fühlt. Anders ist dies nicht möglich.

Auch bei den Frauen selber könnte man ansetzen, und zwar bereits in der Schwangerschaft. Da chronischer Stress einen immensen Einfluss auf den Verlauf und die Dauer einer Geburt haben kann, wäre es schon in der Schwangerschaft sinnvoll, dass die Frauen eine gute Balance zwischen Spannung und Entspannung finden können und nicht völlig gestresst in die Geburt hineingehen. Diese „Inseln der Entspannung" können beispielsweise regelmäßige Massagen, Yoga, Hypnose oder andere Entspannungstechniken sein.

Schwangere Frauen bringen ein gewisses Vorwissen über die „normale" Geburtsdauer mit – sei es aus Büchern, Vorsorgeuntersuchungen oder Geburtsvorbereitungskursen. Die Frauen übernehmen dieses Wissen mit der Konsequenz, dass bei einer „langen" Geburt ein Gefühl von „Regelwidrigkeit" aufkommt, wenn es länger dauert als die gängige Lehrmeinung vorsieht. Deshalb wäre es sinnvoll, Frauen in Geburtsvorbereitungskursen oder in der Schwangerenvorsorge einen anderen Blick auf den Gebärprozess zu vermitteln. Auch hier sollte die Einteilung der Geburt in Phasen ersetzt werden durch ein Verständnis der salutophysiologischen Zusammenhänge des Geburtsprozesses und die Fokussierung auf „eigenes Körperwissen", das durch Körperarbeit oder die Arbeit mit inneren Bildern vermittelt oder überhaupt erst geweckt werden kann. Auch „handfeste" Gründe wie Einstellungsanomalien, die zu einer protrahierten Geburt führen können, lassen sich bereits in der Schwangerschaft durch gezielte Körperarbeit, bestimmte Haltungen und manuelle Hilfen beeinflussen. Das gilt natürlich auch, wenn erst während der Geburt eine Einstellungsanomalie diagnostiziert wird und die Geburt deshalb nicht vorangeht.

Geburt ist nie gleichförmig und linear. Geburt kann nicht in ein Zeitkorsett gedrängt werden. Der Akt des Gebärens und die Zeit, die eine Frau und ein Kind dazu brauchen, ist höchst individuell.

Und doch gibt es natürlich Situationen im Geburtsverlauf, in denen gehandelt und eingegriffen werden muss. Hier den Spagat zwischen „Abwarten" und „Handeln" zu schaffen, ist eine Aufgabe, der sich Hebammen täglich neu stellen müssen.

Wie können wir also mit dem (neuen) Wissen die „protrahierte Geburt" jenseits der (alten) Zeitvorgaben neu definieren? Eine Antwort zu finden, bedingt eine fundamentale Neuorientierung in unserem Denken – weg von der normierten Geburtsdauer und hin zu einem Verständnis von Geburt als einem dynamischen, individuellen und rhythmischen Prozess.

Rubrik: Geburt | DHZ 07/2017

Nachgefragt

Birgit Heimbach: Wie lange dauert in etwa eine lange zweite Geburtsphase bei den Hausgeburtsfrauen in Ihrer Studie?

Monica Vogt: Es gab vier Frauen, die eine „lange" zweite Geburtsphase hatten, länger als drei Stunden. Die kürzeste davon ging vier Stunden 16 Minuten, die längste acht Stunden. Trotzdem die Geburten lang und sehr erschöpfend waren, waren alle vier Frauen froh, dass ihnen die Zeit gegeben wurde, die sie brauchten. Ihnen war klar, dass die Geburten im Spital in einer VE oder einer Sectio geendet hätten.

Birgit Heimbach: Wie lange darf sich ein Uterus kontrahieren? Steht nicht irgendwann am Ende die Ruptur? So wurde es mal gelehrt. Wie lange verträgt ein Kind vermutlich Wehen, und wann ist eine Frau voraussichtlich definitiv erschöpft? Irgendein Limit muss es ja geben, oder?

Monica Vogt: Das wissen wir eben nicht! Die häufigste Ursache einer Uterusruptur ist eine vorausgegangene Operation am Uterus. Weitere Ursachen können Lageanomalien wie Querlage oder ein echtes Kopf-Becken-Missverhältnis sein. Auch Einleitungen mit Misoprostol oder Oxytocin am vorgeschädigten Uterus können zur Ruptur führen. Wir wissen noch gar nicht, wie viele Wehen ein gesunder Uterus verträgt – ich denke, das ist mehr, als wir so glauben. Auch das Kind und die Frau halten mehr aus, als wir so denken! Natürlich, wenn es Anzeichen gibt von Seiten des Kindes oder wenn die Frau nicht mehr kann, dann muss gehandelt werden, keine Frage. Aber das ist höchst individuell. Eine meiner interviewten Frauen hatte eine zweite Geburtsphase von acht Stunden – Damm intakt und Kind fit. Meines Erachtens sind ein genaues Beobachten und Wieder-Erlernen natürlicher normaler Geburten notwendig – was im Moment in der Praxis gar nicht möglich ist mit der geburtshilflichen Situation, die wir haben. Wir müssen im Prinzip wieder bei null anfangen, was die Geburtsdauer anbelangt und die Einteilung der Geburt in Phasen.

Birgit Heimbach: Sie fordern weitere Forschung. Zu welchen konkreten Fragen?

Monica Vogt: Fragestellungen wären beispielsweise: Was gibt es für immer wiederkehrende charakteristische Zeichen in den einzelnen Geburtsabschnitten, die jede Frau zeigt oder äußert? Wie oder woran merken Frauen, dass die Geburt weitergeht? Gibt es subjektive Beschreibungen der Frauen, an denen man einen Geburtsfortschritt ablesen könnte? Wenn man das ganz genau wüsste, wäre die vaginale Untersuchung zur Feststellung des Geburtsfortschritts bald nicht mehr vonnöten.

Literatur

ACOG: Safe prevention of the Primary Cesarean Delivery. 2014. www.acog.org/Resources-And-Publications/Obstetric-Care-Consensus-Series/Safe-Prevention-of-the-Primary-Cesarean-Delivery (letzter Zugriff: 9.6.2017)

Affolter T: Komplexes Wunder Geburtshormone. In: Hebamme.ch 2010, 4: 4–10

Cesario S: Reevalutation of Friedman`s labour curve: a pilot study. In: Journal of obstetric, gynaecologic & neonatal nursing 2004. 33 (6): 713–722
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