Leseprobe: DHZ 12/2014
Vulva 3.0 – ein Aufklärungsfilm

Zwischen Tabu und Tuning

Die Filmemacherin Ulrike Zimmermann erzählt, wie die Idee zu dem Dokumentarfilm „Vulva 3.0 – zwischen Tabu und Tuning“, den sie mit Claudia Richarz zusammen gemacht hat, entstanden ist und von den Erfahrungen bei der Realisation des Projektes. Die je nach Alter und Geschlecht ganz unterschiedlichen, immer aber starken Reaktionen des Publikums scheinen zu bestätigen, dass es an der Zeit war, unserem kulturell beschnittenen Blick auf die Vulva endlich neue Perspektiven zu bieten. Dr. Angelica Ensel,
  • Die beiden Filmemacherinnen Ulrike Zimmermann und Claudia Richarz feiern im Februar bei der Berlinale die Premiere ihres Films.

Angelica Ensel: Frau Zimmermann, Ihr Film „Vulva 3.0" zeigt ein Spektrum von Perspektiven auf ein tabuisiertes Thema, das wohl kaum jemanden unbeeindruckt lässt. Wie ist die Idee dazu entstanden?

Ulrike Zimmermann: Wir hatten für einen anderen Dokumentarfilm im Irak gedreht. Dort haben wir mit erfolgreichen Geschäftsfrauen Gespräche geführt. Im Nachhinein habe ich dann durch einen Kollegen erfahren, dass genau in dieser Region Frauen beschnitten werden. Mir war vorher nicht klar, dass das auch eine kurdische Tradition ist. Und ich war erschreckt von dem Effekt, der sich bei mir einstellte. Die Information, dass dort die weibliche genitale Beschneidung (FGM) praktiziert wird, führte bei mir schlagartig zu einer Veränderung meines Bildes dieser Frauen. Egal, ob sie beschnitten worden waren oder nicht, allein die Annahme führte dazu, dass ich sie als Opfer gesehen habe. Deshalb fing ich an, mich genauer mit der Bedeutung der Beschneidung zu befassen.

Angelica Ensel: Weil Sie dachten, Sie müssten die Frauen vielleicht gar nicht als Opfer sehen?

Ulrike Zimmermann: Ja, ich war irritiert. Ich gehöre zu den Kritikerinnen des Feminismus, in dem die Viktimisierung der Frau, die Definition der Frau als Opfer, im Mittelpunkt steht. Wenn eine Frau von einer Altfeministin als Opfer deklariert wird, führt das zwangsläufig auch zur selbsternannten Definitionsmacht, was das Opfer fühlen solle und wie es sich zu verhalten habe. Es war deshalb für mich eine irritierende Erfahrung, in der erfolgreichen Geschäftsfrau plötzlich ein Opfer zu sehen. Dieses Gefühl war nur der Auslöser. Ich wollte wissen, was passiert da wirklich? Was wird da ganz praktisch gemacht? Innerhalb dieser Recherche stellte ich dann fest, dass die wenigsten Menschen wissen, was sie da tun, wenn sie beschneiden. Diejenigen, die beschnitten werden, wissen gar nicht, was da mit ihnen passiert. Und diejenigen, die die Beschneidung durchführen, haben – unabhängig vom Kulturkreis – so geringe anatomische Kenntnisse, dass sie zum Teil die absurdesten Beschneidungsformen wählen. Deshalb habe ich das Projekt angestoßen, habe dann Claudia Richarz mit ins Boot geholt und wir haben zusammen diesen Film gemacht. Dabei haben wir festgestellt, dass wir keinen Film über die Modifikationen des weiblichen Genitales machen können, ohne auf die Anatomie einzugehen, weil eben diese Unkenntnis herrscht. Das ist der Grund, weshalb wir so einen didaktischen Film gemacht haben, darüber, wie eigentlich weibliche Genital- und Lustanatomie aussieht – und das im 21. Jahrhundert. Es scheint absurd – aber es gibt so viele Tabus, unterdrücktes und verschüttetes Wissen.

Angelica Ensel: Der Film hat sehr viele Facetten. Wenn man ihn anschaut, kommt man nicht unbedingt auf die Idee, dass die weibliche Beschneidung der Anlass war und dass er als Aufklärungsfilm konzipiert ist.

Ulrike Zimmermann: Wir hatten uns überhaupt nicht vorgenommen, einen Aufklärungsfilm zu machen. Wir haben aber festgestellt, dass besonders in Bezug auf FGM und die Auswirkungen bei den Betroffenen sowohl bei uns selbst als auch bei den Fachleuten eine unglaubliche Begriffsverwirrung darüber herrscht, was da eigentlich passiert. Von der angeblichen vollständigen Entfernung der Klitoris, die sich nachher als Verkürzung der Klitorisspitze herausgestellt hat, bis zu irgendwelchen anderen Praktiken, die auch ungenau benannt wurden. Wir haben angefangen zu sortieren und uns gefragt: Was wird da gemacht und welcher Teil der weiblichen Organe ist wofür zuständig?

Angelica Ensel: Und Sie haben dann ExperInnen gefunden, die sich wirklich auskannten. Was hat Sie am meisten interessiert?

Ulrike Zimmermann: Das Interessante war für mich die Frage: Wie definiert sich aus unserer westlichen Weltsicht der Opferstatus der beschnittenen Frau? Da ist die Vorstellung, sie hat alles verloren, sie kann keine Lust mehr empfinden, ihr ist etwas ganz Entscheidendes genommen worden und deshalb ist sie keine richtige Frau mehr. Ich spitze das jetzt sehr zu. Wir haben im Zusammenhang mit unserer Recherche herausgefunden, dass die verschiedenen Vorstellungen der Vollständigkeit der Frau ein Kernpunkt ist.

Angelica Ensel: Wie meinen Sie das?

Ulrike Zimmermann: Die Definition, was das Lustempfinden einer Frau ausmacht, oder was die Frau im sexuellen Sinn vollständig macht, wird mythisiert.

Angelica Ensel: Und das Lustempfinden wird ja bis heute – oder heute erst recht – vom Aussehen abhängig gemacht.

Ulrike Zimmermann: Genau. Wir haben festgestellt, dass – ganz zugespitzt gesagt – die Typ I-Beschneidung, die politisch als furchtbare Genitalverstümmelung definiert ist, wenn sie zum Beispiel in Afrika geschieht, in der westlichen Welt in modifizierter Form als Schönheitsoperation gilt.

Angelica Ensel: Sie meinen, medizinisch geschieht dasselbe?

Ulrike Zimmermann: Es ist natürlich nicht dasselbe, aber es ist durchaus vergleichbar. Es hängt davon ab, wer es durchführt und von der genauen Art der Durchführung. Es gibt Typ I-Beschneidungsarten, bei denen die Klitorisvorhaut gekappt oder die inneren Labien gekürzt werden, was mehr oder weniger den Schönheitsoperationen im Westen entspricht. Ich meine selbstverständlich nicht die Typ III-Beschneidung.

Angelica Ensel: Sie meinen auch nicht eine Beschneidung, bei der man die Klitoris entfernt?

Ulrike Zimmermann: Wir haben versucht zu zeigen, dass man die Klitoris nicht wegnehmen kann, weil sie ein riesiges Organ ist. Was bei diesen Beschneidungen geschieht, ist sozusagen symbolisch, dabei wird die Spitze der Klitoris gekappt. Die Klitoris selbst ist nicht so ohne weiteres zu entfernen und die Lust kennt viele Wege!

Angelica Ensel: Mit den traditionellen Beschneidungen sind doch auch Schmerzen, Strapazen und oft Folgebeschwerden verbunden, so dass man hier nicht sagen kann, dass das nur symbolisch ist.

Ulrike Zimmermann: Selbstverständlich nicht. Die Sterberate bei genitaler Beschneidung ist sehr hoch. Die Folgen, insbesondere bei Typ III-Beschneidung, können katastrophal sein wie Fistelbildungen, Blutungen und Entzündungen. Es sind entsetzliche Nachwirkungen, und diese Verstümmelungen sind selbstverständlich nicht mit Schönheitsoperationen zu vergleichen. Es ist aber auffällig, dass die Idee oder die leichtere Form der Beschneidung durchaus Ähnlichkeit zu den Schönheitsoperationen hat. Auch die Vorstellung von Schönheit, Sauberkeit und Übersichtlichkeit des weiblichen Genitale, die dem zugrunde liegt, ist vergleichbar.

Angelica Ensel: Das wird in Ihrem Film zum Beispiel offensichtlich, wenn die Beschneidung gezeigt wird, die im Bereich der Pornografie virtuell am Computer geschieht, um einer Norm des Betrachters zu entsprechen. Und diese Norm wird mit dem Lustempfinden gleichgesetzt. Sie haben für den Film sehr beeindruckende Expertinnen und Experten gefunden. Wie fanden die Ihre Idee?

Ulrike Zimmermann: Wir haben das Thema ja von sehr unterschiedlichen Seiten aufgerollt. Indem wir mit einem Referenten der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften oder einem Photoshopexperten gesprochen haben, konnten wir das Thema weiter auffächern. Ich gehe davon aus, dass ein guter Dokumentarfilm das Kernthema, um das es geht, nicht aussprechen muss sondern, dass es zwingend mitschwingt. Wir haben aus verschiedenen Blickwinkeln geschaut, wie ist der Umgang oder die Wahrnehmung des öffentlichen weiblichen Genitale? Da ist zum Beispiel die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien ein Strang. Wir haben ja die alte feministische Behauptung, dass es eine verbindliche männliche Definitionsmacht über das Aussehen des weiblichen Körpers gebe. Doch wenn dem so sei, dann wäre die folgerichtige Antwort auf frauenfeindliche Abbildungstraditionen, eine feministische Pornografie. Denn wir müssen explizit sein, um in den männlich definierten medialen Terrains etwas entgegenzusetzen. Doch gibt es selbstauferlegte Abbildungsverbote, die sich zwischen den Ohren eingenistet haben. Es heißt, dass es Regeln und Vorschriften gebe, die verbindlich seien. Der Fotoshopmann sagt, dass man zum Beispiel die inneren Lippen der Vulva nicht sehen darf. Das sind aber die Vorgaben von seinem Auftraggeber, diese Regel hat keinerlei gesetzliche Grundlage. Deswegen haben wir bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien gedreht und geschaut, wie denn die gesetzliche Lage wirklich ist. Ist es verboten, weibliche Genitalien zu zeigen? Wir haben die Antwort bekommen, dass es bei uns überhaupt kein derartiges Verbot gibt. Das zeigt uns, dass wir Selbstzensur betreiben, indem wir auf die realistische Abbildung verzichten.

Angelica Ensel: Und Normierungszwang. Ich habe die Fotografien vor Augen, die die Hamburger Ärztin Helga Seyler in Ihrem Film zeigt – Bilder von ganz unterschiedlichen Formen und Aussehen der Vulva aus einem Buch der Frauenbewegung in den 1970er und 80er Jahren, als die Vulva bei uns noch nicht rasiert wurde. Man hört die heutigen Frauen förmlich aufschreien, dass man so etwas auf keinen Fall mehr zeigen dürfte.

Ulrike Zimmermann: Ja okay, die Fotos sind technisch nicht mehr auf der Höhe und ich muss gestehen, dass ich sie nicht besonders gelungen finde ... aber sie sind realistisch. Diese Bilder nicht zu zeigen, kann zumindest in unserem Kulturkreis keine juristischen Gründe haben.

Angelica Ensel: Die ExpertInnen in Ihrem Film beschreiben sich alle mit ihrer jeweiligen Arbeit – als Historikerin, Autorin, Arzt oder Ärztin oder eben Photoshopexperte. Aber das Thema Beschneidung kommt erst relativ spät im Film auf.

Ulrike Zimmermann: Ja, weil wir vorher die Grundlagen dafür legen mussten. Hätten wir mit der Beschneidung begonnen, hätten wir im Kopf der Zuschauerinnen das Gleiche erzielt, was bei mir passiert ist, als ich die Meldung aus dem Irak hörte. Deshalb war es uns sehr wichtig, anatomische Kenntnisse zu vermitteln oder was zum Beispiel Dr. Zerm erzählt über den identischen Entwicklungsweg des männlichen und weiblichen Genitales. Das sollte man sich vor Augen führen, bevor man zum Thema Beschneidung kommt. Dieses Thema ist der Ausgangspunkt, aber das zentrale Thema ist das weibliche Genitale in der Öffentlichkeit.

Angelica Ensel: Haben Sie auch untersucht, ob Frauen untereinander über das Aussehen ihrer Vulva sprechen?

Ulrike Zimmermann: Es ist die Frage, auf welchem Niveau dieser Dialog geschieht. Ob wir zwei intellektuelle Frauen über 50 in der Sauna haben, die nett plaudern, oder eine verunsicherte 16-Jährige, die noch nie eine realistische Vulva gesehen hat, sondern nur Medien­abbildungen kennt. Es gibt dazu einen Dokumentarfilm, „sexy baby", in dem ein 16-jähriges Mädchen, das noch nie in seinem Leben Sex hatte und noch nie von ihrem Gegenüber nackt oder in irgendeiner sexuellen Aktion wahrgenommen wurde, sich vor dem und für den ersten Sex ihre Vulva operieren lässt. Die Mutter findet es gut, dass sie „etwas für sich" tut, dass sie den Schritt tut und „sich machen" lässt. Und derjenige, der darüber entscheidet, wie ihre Vulva auszusehen hat, ist ein älterer Herr in einem weißen Kittel.

Angelica Ensel: Und er ist der erste, der sie sieht, außer ihr selbst?

Ulrike Zimmermann: Sie selbst hat sich wahrscheinlich auch noch nie angeguckt. Sie geht mit ihrer Mutter zum Arzt und lässt sich von ihm beurteilen, ob bei ihr alles in Ordnung ist oder ob man da etwas korrigieren muss. Und der Arzt akzeptiert, dass die beiden Frauen ihm die Definitionsmacht über das intime Aussehen der Tochter überlassen. Er hat natürlich ein Geschäftsinteresse und sagt ihr, hier muss man etwas kürzen und das geht ja gar nicht und hier macht man das so und kostet nur ein paar tausend Dollar.

Angelica Ensel: Rund um die Geburt sind die Verletzungen der Vulva ein wichtiges Thema. Bei vielen Frauen gibt es hier sehr viel Angst, bis zu der Entscheidung, dass sie nicht gebären und lieber einen Kaiserschnitt haben wollen. Ist Ihnen das bei der Recherche auch begegnet?

Ulrike Zimmermann: Bei dem Kongress von GAERID, der Gesellschaft für ästhetische und rekonstruktive Intimchirurgie Deutschland, auf dem wir gefilmt haben, wurden die verschiedenen Operationsformen für Schönheitskorrekturen der Vulva gezeigt, die sich auf die angeblichen „Beeinträchtigungen" der Vagina durch Geburten beziehen. Unter anderem wird auch eine Laserbehandlung gezeigt, mit der die Vagina eingeschrumpft wird. Diese oder andere Operationen werden als Geschenk zum Hochzeitstag angeboten. Da spielt es überhaupt keine Rolle, wie sich dies für Frau anfühlt, sondern man geht davon aus, dass Männer es gut finden, wenn vaginale Öffnungen eng sind und dass sie es als Geschenk empfinden, wenn ihre Frau, die vielleicht drei Kinder geboren hat, eng ist. Frauen machen das angeblich gern und freiwillig und die Männer werden da gar nicht gefragt.

Angelica Ensel: Eine Hebammenkollegin hat beobachtet, dass Frauen aus anderen Kulturen untereinander teilweise viel offener darüber sprechen, wie sie aussehen. Haben Sie auch unterschiedliche Normen des Sprechens über die Vulva festgestellt?

Ulrike Zimmermann: Unser Publikum besteht gewöhnlich aus ziemlich vielen jungen Frauen und auch jungen Männern. Und die sind sehr irritiert, wenn sie diese alten Bücher sehen, so wie „Frauenkörper neu gesehen", im Original „our bodies, ourselves". Es wurde von einem Frauenkollektiv in Boston herausgegeben und seit den 70er Jahren kontinuierlich weiterentwickelt. Das hat ja auch ein sehr ältliches Erscheinungsbild. Die jungen Leute assoziieren mit dieser Ästhetik sofort ältere, humorlose Feministinnen. Ich glaube, das haben wir den – ich nenne sie jetzt mal körper- und lustfeindlichen und deshalb frauenfeindlichen – deutschen Altfeministinnen zu verdanken, dass wir so eine Kultur haben, dass wenn es ans Intime geht, die Assoziationen in eine staubige, dogmatische Richtung gehen. Wenn ich an die Selbstuntersuchungsgruppen der 70er und 80er Jahre denke, dann haben die sich in ihren Erkenntnissen nicht positiv vermittelt, sondern die Assoziationen sind negativ. Die jungen Frauen denken: „Oh je, wenn ich solche Themen anschneide wie die Frauen damals, dann bin ich auch so eine humorlose, doofe Feministin. Daran kann ich nicht anknüpfen. Ich muss einen anderen Weg finden. Ich möchte einen sexpositiven Weg finden. Ich möchte nicht mit ein paar anderen Frauen mit Spiegeln zusammensitzen und männerfeindliche Sprüche bringen." Diese Assoziationskette ist bei uns verbreitet und die daraus resultierende Sprachlosigkeit ist leider unser deutsches feministisches Erbe.

Angelica Ensel: Wie kommt Ihr Film an? Wie wird er gesehen?

Ulrike Zimmermann: Anfangs haben Frauen wie Männer Angst davor, ihn anzuschauen. Weil sie denken, wenn sie jetzt da hingehen, wird es peinlich und sie müssen hinterher darüber reden. Es ist weniger so, dass Männer mit Bildern konfrontiert werden, die sie nicht sehen möchten. Denn heterosexuelle Männer, die ein bisschen herumgekommen sind, haben viele Vulven gesehen und haben einen viel größeren Horizont als Frauen. Manche Frauen können sich gar nicht vorstellen, dass Männer ein sehr gelassenes Verhältnis zur Bandbreite von Vulvaästhetik haben. Das war für uns interessant. Wir hatten eigentlich immer ein sehr gemischtes junges Publikum. Es war für die meisten eine große Überraschung, dass es gar nicht weh tut, einen Film über Vulven im Kino anzusehen oder dass es auch witzig sein kann, und dass sie unerwartet neue Erkenntnisse haben. Es war immer so eine Mixtur aus Dankbarkeit, dass ihnen so ein Thema nah gebracht wurde, und Ärger darüber, dass es ihnen bisher vorenthalten wurde.

Angelica Ensel: War es Ärger auf ihre Eltern oder auf die Schule?

Ulrike Zimmermann: Die Ärztin Helga Seyler sagt das so schön: „Hier fehlen einfach die Frauen, die den Mädchen sagen, dass sie schön sind und dass alles in Ordnung ist." Das sagt keiner. Es ist entweder das Rumgezicke der Frauen untereinander oder das Tabu, überhaupt über die Vulva zu sprechen, oder unsere Vorstellungen von dem, was weibliche Sexualität ist. Dass die heteronormative Sexualität der Frau im Prinzip darauf reduziert ist, gut auszusehen, Männer an sich zu binden, in jeder Lebenslage Männern zu gefallen und Kinder in die Welt zu setzen. Da sind wir immer noch, oder wieder. Das ist erschreckend.

Angelica Ensel: Was hat Sie noch beeindruckt bei den Reaktionen im Publikum?

Ulrike Zimmermann: Besonders bewegend fand ich unsere Erfahrungen in Tel Aviv. Dort hatten wir zwei riesige ausverkaufte Vorstellungen, weil wir der Aufmacher im Kulturteil der Tageszeitung Haaretz waren. Deswegen kam ein ganz ungewöhnliches Publikum zu unserer Veranstaltung auf einem lesbisch-schwulen Filmfestival. Da waren sehr viele ältere jüdische Männer, die sich prinzipiell für die Kultur der Beschneidung interessieren. Und so hatten wir neben den Diskussionen, die wir normalerweise haben über Unwissen und Tabuisierung, Männer, die meinten: Also ihr Frauen, wir wissen doch eh, wie ihr ausseht, es ist doch Quatsch, Schönheitsoperationen zu machen. Ihr seid schön so wie ihr seid. Wie ist es denn mit dem Vergleich zur Männerbeschneidung? Für sie war es viel wichtiger, inwieweit weibliche genitale Modifikationen vergleichbar sind mit der rituellen Jungenbeschneidung.

Angelica Ensel: Haben sie noch andere kulturspezifische Eindrücke?

Ulrike Zimmermann: Wir haben den Film in Südamerika gezeigt, in Kanada, in Skandinavien. In den USA ist der Film noch nicht herausgekommen. Wir waren nicht bei allen Vorführungen dabei, aber es gibt meistens eine positive Reaktion. Die einzige negative Reaktion – da musste ich leider dabei sein – war in Brüssel bei einem Frauenfilmfestival der alten Schule. Hier erhielt ich unfreiwillig Dank dafür, wie gut wir gezeigt hätten, wie die männliche Gewalt auf Frauen wirkt. Da dachte ich, oh Gott, dazu kann ich auch nichts mehr sagen. Hier kam auch die Beschwerde, es seien ja nur männliche Experten im Film und sie hätten gern mehr Opfer gesehen. Denen kann ich dann nicht wirklich helfen.

Angelica Ensel: In den Kritiken wird Ihnen teilweise vorgeworfen, dass der Film keine These wagen würde.

Ulrike Zimmermann: Es gibt sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie ein guter Film aufgebaut sein sollte. Wir haben einen Dokumentarfilm und keine Reportage gemacht. Beim üblichen Fernsehformat stellt man eine These auf, befragt Menschen, die dann die These bestätigen und erklärt das Ganze dann noch mal für die, die nicht zugehört haben, mit Off-Text.

Angelica Ensel: Dabei wird den Zuschauenden immer auch eine Botschaft gegeben, was man nun denken soll.

Ulrike Zimmermann: Genau, und das ist nicht das Metier, in dem wir uns bewegen. Deshalb haben wir den Film auch nicht in Kooperation mit einem Fernsehsender gemacht. Er wäre in dieser assoziativen Form in Deutschland nicht akzeptiert worden. Im Allgemeinen wird im deutschen Fernsehen das Publikum unterschätzt und wir wären gezwungen worden, mit Off-Texten, Erklärungen, Tafeln zu arbeiten, um unmissverständlich zu sagen, was jetzt wovon zu halten sei. Diese Reportageform beleidigt meine Intelligenz und ich möchte dies auch unserem Publikum nicht zumuten. Wir lassen unsere ProtagonistInnen grundsätzlich ausreden, lassen Beiträge nebeneinander stehen und überlassen unserem Publikum, sich ein eigenes Bild zu machen

Angelica Ensel: Was denken Claudia Richarz und Sie denn, was Ihrem Film fehlt? Oder an welchen Themen arbeiten Sie zukünftig?

Ulrike Zimmermann: Wir sind oft gefragt worden, ob es denn einen ähnlichen Film über das männliche Genitale geben sollte. Die Antwort ist ja! Wir haben auch schon in dieser Richtung gearbeitet. Claudia und ich betreiben ein DVD-Label „lauramedia.de", in dem wir Lehr-DVDs zu sexological bodywork und Themen wie „G-Punkt Entdeckung" und „Der Penis" produzieren und vertreiben.

Unser aktuelles neues Kinoprojekt ist zum Thema „Stigma". Hier fragen wir danach, welches Verhalten von Frauen ist stigmatisiert – wann ist eine Frau eine Heilige und was macht sie zur Schlampe?

Angelica Ensel: Herzlichen Dank für diese spannenden Einblicke, Frau Zimmermann!

 

Die Filmemacherinnen

 

Ulrike Zimmermann macht seit den 1980er Jahren Filme („Die erregte Frau in der Videothek", „Venus 220 Volt"). Seit den 90er Jahren ist sie Produzentin kontroverser Arthaus Filme („Das Problem ist meine Frau", „Fremde Haut"). Sie und Claudia Richarz betreiben zusammen das Label lauramedia.de.

Kontakt: office@mmmfilm.de

Claudia Richarz ist Regisseurin. Sie realisiert seit vielen Jahren dokumentarische Formate. Sie erhielt 2000 den Grimme-Preis für „Abnehmen in Essen".

Kontakt: c.richarz@t-online.de

Rubrik: Kultur | DHZ 12/2014

Hinweis

„Vulva 3.0 zwischen Tabu und Tuning" kann für Veranstaltungen in Kinos gebucht werden und ist als DVD im Handel. Die aktuellen Kinotermine und Veranstaltungen sind auf der Website (www.lauramedia.de) oder auf facebook (www.facebook.com/vulva3.0) zu finden. Das Presseheft mit den Kontaktinformationen zu den Mitwirkenden des Films gibt es auch auf der Webseite zum Download unter www.vulva3.de/wp-content/uploads/2014/08/Presseheft_Dt_Vulva3.pdf.