Leseprobe: DHZ 01/2013
Wochenbett und neue Medien

Zwischen Tradition und Smartphone

Für die „Generation Smartphone“ sind Computer & Co. schon lange nicht nur Arbeitsgeräte, sondern hilfreiche und unterhaltsame Begleiter durch den Tag. Immer griffbereit und allzeit bereit zu kommunizieren, stehen zahlreiche Menschen damit fast pausenlos im Kontakt. Das gilt auch für die Lebensphase rund ums Elternwerden. Befindet sich die Gesellschaft bereits im permanenten Onlinemodus? Gelingt es überhaupt noch „abzuschalten“? Und was passiert, wenn unsere Hände nicht mehr frei sind, weil wir plötzlich ein Kind auf dem Arm tragen? Christiane Borchard,
  • Multitasking? Mütter sind Multitalente.

Ein altes Sprichwort aus dem ländlichen Emmental in der Schweiz lautet: „Eine faule Wöchnerin ist ein Segen für die Familie". Denn nur eine gut erholte und gesunde Bäuerin konnte nach der Geburt eines Kindes bald wieder ihre Arbeitskraft und Lebensfreude für das Wohlbefinden der Familie einbringen. Im traditionellen Wochenbett gaben der Zusammenhalt in der Familie und das soziale Umfeld praktische Hilfe und emotionale Unterstützung für die Mutter und ihr Neugeborenes. Im Idealfall hatte die Wöchnerin nur die eine Aufgabe, sich zu erholen und wieder zu Kräften zu kommen. Wir nennen das heute gern „Wellness".

 

Analoge Welt adé?

 

In meiner täglichen Arbeit nehme ich wahr, dass die Eltern die Zeit des Wochenbettes gerne in diesem Sinne nutzen würden. Doch praktisch erlebe ich häufiger eine ganz andere Situation: Die berufstätigen Väter planen „Home-Office" statt Babyurlaub. Die konkrete Unterstützung von Familie und Freunden beschränkt sich auf kurze Besuche, weil sie weit weg wohnen oder selbst beruflich eingebunden sind.

Zunehmend wird die Ankunft eines Kindes zu einem virtuellen „Happening" in einer „Wolke" voller Fotos. Manche Familien leben im Wochenbett mehr oder weniger isoliert. Nicht selten sind die Besuche der Hebamme der einzige reale Kontakt in den ersten Wochen nach der Geburt. Doch genügen virtuelle Trostworte statt einer gefühlten Umarmung während eines Stimmungstiefs im Wochenbett? Oder würde ein Wochenbett im abstinenten Offlinemodus erst recht Gefühle von Ausschluss und Isolation fördern? Die „analoge Welt" mit Großfamilienidylle gehört längst der Vergangenheit an. Unsere Realität sieht anders aus: zwischen Tradition im Herzen und Smartphone in der Hand; die neuen Medien gehören zum Alltag junger Familien. Und das Internet ist vielfach der erste „Ansprechpartner".

 

Mama-Blog

 

Es gibt zahlreiche Foren im weltweiten Netz, die junge Mütter zum Austausch nutzen. Neben vielen gut geführten Seiten, wo Fragen fachlich fundiert oder lebenspraktisch beantwortet werden und Webmaster ein wachsames Auge auf das Miteinander haben, gibt es auch Foren, die mit medizinischen Halbwahrheiten und dogmatischen Erziehungstipps gefüllt sind. Allen Quellen gemein ist in jedem Fall eine unüberschaubare Informationsflut, die junge Mütter oft mehr verunsichern als beruhigen. Hausbesuche, die mit den Worten „Ich habe da im Internet gelesen" beginnen, enden nicht selten mit der Erkenntnis: „Hätte ich dich mal zuerst gefragt".

Doch trotz aller Irrungen und Wirrungen, die solche Netzkontakte auslösen können, gilt das Surfen im Internet häufig als entspannendes Ritual. Im Wochenbett fällt die Zeit für solche Aktivitäten allerdings deutlich knapper aus und der Entspannungsfaktor sinkt. Denn alle Informationen aus dem Netz müssen gesammelt und bewertet werden.

Wie lebensnah ist da der reale Kontakt mit der Hebamme, deren Besuche helfen, die Übersicht zu behalten! Manche Wöchnerin versucht, die Zahl der virtuellen Kontakte auf ein überschaubares Maß zu reduzieren. Manche Wöchnerin reduziert diese auf ein gutes Maß, andere Mütter müssen erst belastende Erfahrungen machen, um zu begreifen, dass die neuen Medien auch Stress auslösen können. Eine 19-jährige Mutter hatte, nachdem ihre virtuellen „Freunde" anonym und in rüdem Ton der vermeintlichen „Rabenmutter" mal gründlich die Meinung gepostet hatten, ihren Zugang zum sozialen Netzwerk gelöscht. Nicht selten lösen unbedachte Äußerungen von Freunden Stimmungstiefs im Wochenbett aus. In diesem Fall habe ich allerdings erstmals reale Tränen wegen virtuellem Mobbing getrocknet.

 

Antiquierte Fantasie?

 

Unsere kleinen mobilen Helfer sind stets trendy gestylt, allzeit bereit, multitaskingmäßig zu arbeiten. Sie funktionieren scheinbar perfekt. Diese Eigenschaften scheinen auch dem Anspruch vieler Mütter an sich selbst zu entsprechen: Sie möchten Beruf und Familie vereinbaren, sich selbst trotz Kind verwirklichen, es nach den neuesten Erkenntnissen von Hirn- und Bindungsforschung umsorgen und als Chefin eines kleinen Familienunternehmens auch noch toll aussehen und in Form sein. Hormonelle Stimmungsschwankungen, Beziehungsstress und Schlafmangel stehen nicht auf der Agenda des modernen Wochenbettes. Wenn es das überhaupt noch gibt und nicht vielmehr eine Fantasie der Hebammen ist! Nachdenklich bin ich schon geworden, als mir neulich eine Mutter durchaus ernsthaft erklärte: „Ich bin nicht im Wochenbett, ich habe hormonelle Probleme." Danke für die Aufklärung. Dann bin ich wohl auch nicht in den Wechseljahren, ich habe lediglich einen Mangel an Hormonen. Alles eine Frage der Perspektive und der Definition.

Schon seit längerem bemerke ich eine Entwicklung, das Wochenbett völlig losgelöst von medizinischen Fakten und sozialen Anpassungsleistungen immer schneller und kürzer zu durchleben. Welche Mutter mag noch hören: „Neun Monate kommt der Bauch und neun Monate geht er"? Rund um das Wochenbett hat sich eine Dynamik entwickelt, die heute leider direkt nach einer Geburt im Krankenhaus beginnt. Stetig sinkt die Verweildauer, in der kürzeren Zeit werden aber im üblichen Umfang Anleitung, Information und Beratung erteilt. Zeitgleich erhöht sich die Zahl der Untersuchungen und Screenings bei den Neugeborenen. Da kollidiert dann auch schon mal das Hörscreening mit der Stillsprechstunde. Das Fotoshooting bei dem professionellen Fotografen möchten die Frauen auch nicht verpassen. Hauptsache das Kind ist gesund! Mit der Botschaft: „Sie sind eine gesunde junge Mutter …" kommen die Frauen dann mehr oder weniger erschöpft im häuslichen Wochenbett an. Von den sicherlich zahlreichen Informationen im Krankenhaus bleiben erfahrungsgemäß besonders die „Don’t do"-Botschaften in Erinnerung: „Legen Sie Ihr Kind zum Schlafen niemals auf den Bauch oder gar ins Ehebett" oder „Sie sollten mindestens sechs Wochen keinen Sex haben".

Nach einer monatelangen, intensiven, häufig interventionsreichen und zunehmend an der Gesundheit des Kindes orientierten Begleitung der Schwangerschaft und Geburt haben die Mütter dann endgültig ihren Fokus auf „Perfekte-Mutter-sein" gerichtet. Vielen Müttern fällt es zunehmend schwer, im Hier und Jetzt zu sein. Gedanklich sind sie oft schon viel weiter und planen den Wiedereinstieg in ihr Berufsleben, suchen nach der optimalen Versorgung und Förderung ihres gerade geborenen Kindes. Zwangsweise müssen sie das auch, denn die Betreuungsplätze sind knapp.

Was alles zum Goldstandard der Kinderbetreuung gehört, steht zumeist in einem direkten Zusammenhang mit den eigenen Messlatten und Zukunftsvisionen. Ob die bilinguale Krabbelgruppe „The brainy Baby" dem Kind in der Zukunft den beruflichen Einstieg in ein global orientiertes Wirtschaftsunternehmen bahnt, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich bin mir allerdings sicher, dass die heutigen Mütter besonders viel Aufmerksamkeit brauchen, um seelisch und körperlich in der Balance zu bleiben. Nicht umsonst gibt es ja den Begriff  Wellness, den viel gelobten Gegenspieler zum Multitasking-Modus. Denn was uns allen im Alltag gut tut, ist zeitweise abzuschalten, nicht erreichbar zu sein, sich zu erholen und neue Energie zu tanken. Nach dem Motto „Dein Smartphone muss doch auch an die Steckdose und wie kannst du deinen Akku im energiezehrenden Alltag mit dem Kind aufladen?", gelingt oft ein guter Einstieg für mehr Ruhe und Abschalten im Lebensabschnitt Wochenbett.

 

Ulla, Frank und Lucy richten sich ein

 

Eltern werden, ein Paar bleiben, zu diesem Thema hatten auch Ulla und Frank sich bereits vor der Geburt viele Gedanken gemacht. Um mit dem Kind ihre abendliche Kuscheleinheit vor dem überdimensionalen Fernseher fortsetzen zu können, wurde ein modernes Babyphone angeschafft. Bei der neuen Generation dieser Geräte ist sogar eine Kamera dabei, die lediglich mit dem Fernseher verbunden werden muss. Nach Stunden intensiver Installationsarbeiten teilten sich Baby Lucy und diverse Hollywoodgrößen endlich einen Bildschirm. Lucy war zwar farblich deutlich blasser, aber gestochen scharf in der rechten oberen Ecke des Bildschirmes angesiedelt. Ruhig verlief der Abend aber dennoch nicht. Ihr Vater konnte sich nämlich nicht sattsehen an ihr und wechselte ständig zwischen „Kanal Lucy" und Hollywood: „Ist die nicht süß, schau mal, sie zuckt mit dem Näschen, gleich wird sie wach, ich mach’ schon mal die Flasche." So ging es den ganzen Abend. Kuscheln wurde zur Nebensache, Babywatching war jetzt Hauptprogramm. Ungefähr drei Wochen lang ging alles glatt: Baby Lucy lag brav in ihrem Bettchen, drehte ihr Köpfchen dank des blinkenden Lichtes an der Kamera passend zur Linse. Die Stars hatten längst wieder die Hauptrolle übernommen, als Lucy nicht mehr allein einschlafen wollte. Die gute Nachricht war: Sobald sie neben den Eltern auf dem Sofa lag, schlief sie immer rasch ein. Ihre Mutter beichtete in diesem Zusammenhang, dass sie doch lieber Lesen statt Fernsehen würde. Und das könnte sie ja perfekt mit dem Kind im Elternbett tun. Ihr Vater jedoch war enttäuscht und fühlte sich in seiner eigenen Familie isoliert. Viele Diskussionen und ein paar Anschaffungen weiter, ergab sich folgende Lösung: Alle liegen gemeinsam auf dem XXL-Sofa, Mama liest in ihrem neuen eBook, Papa hört das Hollywoodgetümmel über Kopfhörer und dazwischen liegt Lucy und beobachtet die entspannten Gesichter ihrer Eltern im flackernden Licht des Fernsehers. Ein kompetentes Kind sucht nun mal die reale Nähe der Eltern!

 

Reales und Virtuelles verschmelzen

 

Während mein Handy im Lautlosmodus in der Tasche schlummert, nehme ich in meiner Umwelt bemerkenswerte Veränderungen wahr. Post einmal am Tag – das war mal. Heute klingelt der Postbote fast ständig. Eine Belohnung für die emsigen Aktivitäten in der virtuellen Parallelwelt. Ist das noch eine liebevolle Symbiose oder schon eher auslaugende Abhängigkeit? Früher sprang ein Anrufbeantworter an, derzeit scheint es eher gesellschaftfähig zu sein, mit einem kurzen entschuldigenden Blick das Gespräch anzunehmen. Warum allerdings der Anrufer heute einen anscheinend höheren Stellenwert hat als der reale Ansprechpartner gegenüber, war mir lange nicht klar … Bis der Sänger und Songwriter Tim Bendzko mit seinem Ohrwurm „Muss nur noch kurz die Welt retten und gleich danach bin ich wieder bei dir" mir eine verständliche Erklärung des „Handy-First-Syndroms" lieferte. Es geht gar nicht darum, einen Gesprächspartner zu bevorzugen! Vielen Menschen gelingt es einfach nicht mehr, sich auf einen Kommunikationskanal zu beschränken. Denn ähnlich wie unsere kleinen Helfer, sind wir ja auch erfolgreich dabei, fast zeitgleich mehrere Dinge zu erledigen. Ob und in welchem Umfang wir trotz emsiger Kommunikation Informationsverluste haben, lässt sich nur vermuten. Und ob wir nicht vor lauter Kommunikation die wirklich wichtigen Botschaften verspätet oder gar nicht wahrnehmen. Ich suche jedenfalls ungern mehrfach nach meinem roten Faden während eines Gespräches und bleibe lieber ohne Ablenkung im Kontakt. Und ich freue mich, wenn das von den Eltern bemerkt wird und sie ebenfalls ihre elektronischen Helfer lautlos in einer Ecke ruhen lassen. Gleichzeitig beginne ich zu verstehen, dass reales und virtuelles Leben zunehmend miteinander verschmelzen.

 

Beispiel aus dem Leben

 

Denn manche Wöchnerin fühlt sich einfach sicherer, solange sie im stündlichen SMS-Kontakt mit ihrem Mann steht. Ein Beispiel, wie ich es ganz ähnlich erlebt habe:

Mutter: Schatz, er hat die rechte Brust jetzt leer getrunken, hier scheint die Sonne.

Vater: Hier scheint auch die Sonne, schafft er die linke Brust auch noch?

Mutter: Der Kleine pupst so süß, schade, dass du nicht dabei warst. Habe alles aufgenommen, soll ich die Filmchen bei Youtube oder Facebook einstellen?

Vater: Ist privat, besser bei Facebook. Schade mit dem Pupser, klingt bestimmt bezaubernd.

Mutter: Jetzt hat er auch die linke Brust getrunken, rechts ist jetzt wieder so voll. Oder hat er vorhin doch links getrunken? Kann mir das echt nicht merken, welche Brust er zuletzt getrunken hat. Was hat die Hebamme nochmal gesagt, das mit dem Bändchen?

Vater: Bändchen am BH war der Tipp von der Wehenmutter. Wirklich charmant hinter der Zeit die graue Dame, das kannst du doch besser mit dem Organizer vom Handy, einfach mit dem Timer connecten und mündliche Ansage eingeben.

Rubrik: Wochenbett | DHZ 01/2013