Die U1 – mehr als eine körperliche Untersuchung

Hebammen und ÄrztInnen betrachten bei der U1 nicht nur die körperliche Gesundheit des Neugeborenen – sie können den Eltern in der Art ihrer Untersuchung auch ein Vorbild sein, wie sie später mit ihrem Kind umgehen. Prof. Dr. phil. Dorothea Tegethoff
  • Die Untersuchung und Betreuung des Neugeborenen ist Teil des Betreuungsbogens (zu Sayn-Wittgenstein 2007). Die Hebamme übernimmt in der postnatalen Zeit die Verantwortung für die Gesundheit des Kindes. In verschiedenen Kliniken wird die Erstversorgung des Neugeborenen, die U1, allerdings unterschiedlich gehandhabt: In vielen Häusern ist dies die Aufgabe der Hebammen, in anderen wird die U1 von KinderärztInnen durchgeführt. Ein Blick auf die rechtlichen Grundlagen kann hilfreich sein in der Frage, wer zuständig ist (siehe Kasten "Rechtliche Grundlagen"). Die Untersuchung des Neugeborenen nach der Geburt ist eine originäre Hebammentätigkeit, die in eigener Verantwortung durchgeführt wird (§ 1 Hebammenberufsordnung [HebBO] Berlin). Im Vergütungsverzeichnis für Hebammen erscheint die U1 unter den Ziffern 2400 bis 2402 (GKV-SV 2017). Gleichwohl befinden sich Hebammen hier in einem Überschneidungsbereich zu ärztlichen Tätigkeiten. In § 3 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern (Kinder-Richtlinie), die in der Rechtssystematik den von den Ländern erlassenen Berufsordnungen untergeordnet ist, wird die U1 als ärztliche Tätigkeit beschrieben, die nur in Abwesenheit eines Arztes oder einer Ärztin von Hebammen übernommen werden soll. Analog zu den Regelungen bei der Schwangerenvorsorge kann angenommen werden, dass die Hebamme die Untersuchung des Neugeborenen aus eigenem Recht durchführen kann. Bei eventuellen Haftungsfragen müssen dann die Angaben der Kinder-Richtlinie zur U1 als »Maßstab zur Beurteilung der Qualität« herangezogen werden (DHV 2005).

     

    Den richtigen Zeitpunkt finden

     

    Folgt man der Kinder-Richtlinie, dann hat die U1 möglichst in den ersten 30 Minuten nach der Geburt des Kindes zu erfolgen. Abgesehen davon, dass in dieser Zeit die Hebamme in der Regel mit der Leitung der Nachgeburtsperiode beschäftigt ist, ist ein derart früher Untersuchungszeitpunkt mit Blick auf den Beginn der Eltern-Kind-Beziehung wenig sinnvoll. Ann-Marie Widström und ihre KollegInnen vom Karolinska Institut in Stockholm, Schweden, beschreiben neun Phasen des Verhaltens von Neugeborenen, die während des ungestörten Hautkontaktes mit der Mutter unmittelbar nach der Geburt zu beobachten sind (Widström et al. 2011, 2019; siehe auch Seite 8ff.).

    Die AutorInnen gehen davon aus, dass es zu einer langfristig besseren Selbstregulation eines Kindes beiträgt, es die neun Phasen ungestört durchlaufen zu lassen. Die Bedeutung des ungestörten (Haut-)Kontaktes zwischen Eltern und Kind unmittelbar nach der Geburt ist vielfach belegt (Moore et al. 2016) und findet sich beispielsweise in den B.E.St. Kriterien für Babyfreundliche Einrichtungen (babyfreundlich 2019). Schritt 4 dieser Kriterien sieht vor, dass die Mutter für mindestens eine Stunde oder bis das Kind zum ersten Mal gestillt wurde, ununterbrochenen Hautkontakt mit ihm haben kann.

    Während dieser Zeit ist es die Pflicht der Hebamme, den Gesundheitszustand des Kindes zu überwachen und dabei im Sinne der Kinder-Richtlinie lebensbedrohliche Komplikationen und sofort behandlungsbedürftige Erkrankungen und Fehlbildungen zu erkennen sowie über die weitere Versorgung des Neugeborenen zu entscheiden (siehe Kasten). Das unauffällige Neugeborene aber beispielsweise zum Wiegen und Messen von den Eltern wegzunehmen, erscheint verfrüht. Die systematische körperliche Untersuchung des Kindes auf Körpermaße, Reifezeichen, Fehlbildungen, Traumata, Gelbsucht und Ödeme, die die Kinder-Richtlinie vorsieht, sollte erst später erfolgen. Die körperliche Untersuchung des primär unauffälligen Neugeborenen kann in unmittelbarer Nähe der Eltern, wenn möglich direkt am Geburtsbett erfolgen. Eine warme, von Zugluft freie Umgebung für die Untersuchung sowie ein vollständig mit austarierter Waage, Maßband, Stethoskop, Thermometer und einem Handschuh für die Untersuchung des Gaumens vorbereiteter Arbeitsplatz sollten selbstverständlich sein.

     

    Die Zeichen erkennen

     

    Während der körperlichen Untersuchung bekommt die Hebamme einen Gesamteindruck vom Kind. Wie ist die Hautfarbe? - In den ersten 24 Stunden ist ein Ikterus immer pathologisch (Ikterus praaecox). Wie ist der Muskeltonus? – Ein schlaffer Tonus kann beispielsweise ein Hinweis auf eine Hypoglykämie oder seltener einen fetalen Schlaganfall sein. Bei der körperlichen Untersuchung wird von oben nach unten und von vorne nach hinten vorgegangen. Im Einzelnen wird sich jede Hebamme ihre eigene Routine zurechtlegen. Als Körpermaße werden üblicherweise Körperlänge, Gewicht und Kopfumfang (Circumferentia fronto-occipitalis) erhoben.

    Zentral für die körperliche Untersuchung des Neugeborenen sind die Sinne der Hebamme, insbesondere das Sehen, Hören und Tasten. Schon während das Kind bei der Mutter liegt, kann die Hebamme sehen oder hören, ob das Kind frei atmet oder Zeichen einer Dyspnoe wie eine Zyanose, Nasenflügeln oder Stöhnen zeigt. Mit dem Stethoskop kann sie Rhythmus und Frequenz des Herzschlages sowie die Geräusche der Lunge abhören.

    Bei der Auskultation mit dem Stethoskop geht es nicht darum, eine genaue Diagnose für Herz oder Lunge des Neugeborenen zu stellen, sondern gegebenenfalls einen behandlungsbedürftigen Zustand zu erkennen und dann Ärztin oder Arzt hinzuzuziehen. So müssen die rasselnden Geräusche einer »nassen Lunge« erkannt werden. Die Körpertemperatur sollte in jedem Fall gemessen werden, auch wenn sie bei einem Kind, dass nach der Geburt im Hautkontakt bei der Mutter gelegen hat, wahrscheinlich unauffällig ist (Widström et al. 2019). Dennoch ist es wesentlich, eine zu niedrige Temperatur auszuschließen, da zahlreiche kurz- und langfristige Gesundheitsprobleme des Kindes mit einer Hypothermie assoziiert sind (McCall et al. 2018).

    Die Hebamme berücksichtigt bei der körperlichen Untersuchung gegebenenfalls auch geringfügige Abweichungen, wenn sie Hinweise auf ein Syndrom sein können. Für sich genommen ist eine Vier-Finger-Furche unbedeutend, in Kombination mit einem schlaffen Tonus, einer Sandalenlücke der Zehen und einer auffälligen Lid-Achsen-Stellung kann sie auf ein Down-Syndrom hinweisen. Dass die Ergebnisse der Untersuchung in der Geburtsakte und im gelben Heft dokumentiert werden, sollte sich von selbst verstehen.

     

    Die Bedeutung der Anamnese

     

    Die britische Pflegewissenschaftlerin L. Bloomfield und ihr multidisziplinäres Team nennen die Erhebung der Anamnese, die körperliche Untersuchung, aber auch Gesundheitsbildung und Beruhigung der Eltern als wesentliche Bestandteile der Erstuntersuchung (Bloomfield et al. 2003).

    Tatsächlich nimmt die Anamnese den größten Teil der Dokumentation der U1 im gelben Untersuchungsheft für Kinder ein. Da es sich in den meisten Fällen um persönliche Daten der Mutter handelt, ist es angemessen, ihr Einverständnis zu erbitten, bevor die Daten in das Untersuchungsheft ihres Kindes eingetragen werden. Dies wird beispielsweise bei »besonderen psychischen Belastungen« oder »Abusus« deutlich. Solche Daten können nicht einfach ungefragt aus dem Mutterpass in das Kinderuntersuchungsheft übernommen werden.

    Die Schwangerschaftsanamnese und vor allem die Geburtsanamnese können die Aufmerksamkeit bei der körperlichen Untersuchung lenken: So ist es geboten, dass die Hebamme bei einem unklaren errechneten Geburtstermin den Reifezeichen besondere Aufmerksamkeit widmet oder nach einer Schulterdystokie die Schlüsselbeine sorgsam untersucht und sich der symmetrischen Bewegungen der Arme vergewissert. Gibt es in den Familien der Eltern Hüftdysplasien, so sollte sie, vor allem bei einem neugeborenen Mädchen, besonders auf die Symmetrie der Gesäßfalten und die gleiche Länge beider Beine achten. Auch die Kenntnis von Häufigkeiten bestimmter Besonderheiten kann die Untersuchung lenken. Beispielsweise ist eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte mit einer Inzidenz von 1:500 bis 1:700 recht häufig (Sader 2009), während eine anorektale Fehlbildung mit 1:3.000 bis 1:5.000 eher selten ist (Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie 2013).

     

    Einfache Regeln und »Bauchgefühl« beachten

     

    Oft geht es für die Hebamme bei der körperlichen Untersuchung um die Entscheidung: Muss ich einen Arzt oder eine Ärztin hinzuziehen oder ist das überflüssig? Der Psychologe Gerd Gigerenzer, ehemals Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, empfiehlt für solche Entscheidungen, bei denen niemals alle notwendigen Informationen zur Verfügung stehen, sich an einfachen Regeln zu orientieren, statt immer weitere Informationen zu suchen (Gigerenzer 2007, Haksöz et al. 2018). Er empfiehlt auch die oftmals geschmähten »Bauchentscheidungen«, die auf unbewussten Faustregeln beruhen. Also reicht im Zweifel das Bauchgefühl, dass mit einem Neugeborenen »etwas nicht stimmt«, um eine erfahrene Kollegin oder den Arzt beziehungsweise die Ärztin hinzuzuziehen.

     

    Vorbild sein

     

    Die Art, wie die Hebamme mit dem Neugeborenen umgeht, ist ein Vorbild für die Eltern. Behandelt sie es behutsam und respektvoll, spricht sie es beispielsweise an, bevor sie es anfasst, und berücksichtigt sie die Maßgaben des Kinaethetics Infant Handling, dann gibt sie den Eltern damit wichtige Orientierung für ihr eigenes Handeln (Maietta & Hatch 2011). Es bietet sich an, die Eltern beispielsweise am Ende der Untersuchung beim Anziehen der Windel einzubeziehen.

    Während die Hebamme das Kind untersucht, kann sie die Befunde kontinuierlich berichten. Oder sie weist von Anfang an darauf hin, dass sie das Kind in Ruhe beobachten und erst nach der Untersuchung das Ergebnis mitteilen wird. In jedem Fall muss sie auf eine verständliche Sprache achten, die Eltern nicht mit unnötigen Details überschütten oder sie durch mögliche Abweichungen erschrecken. Das Mitteilen von Krankheitsdiagnosen ist Ärzten und Ärztinnen vorbehalten. Die Hebamme muss, wenn sie bei einer Routineuntersuchung einen Grund findet, ärztliche Hilfe hinzuzuziehen und abwägen, wie ausführlich sie ihre Verdachtsdiagnose den Eltern mitteilt. Bei einigen Besonderheiten muss ein Arzt oder eine Ärztin nicht hinzugezogen werden, wie bei einem kurzen Zungenbändchen. Die Hebamme kann die Eltern aber auf mögliche Konsequenzen – hier beim Stillen – hinweisen und vorsorglich dazu beraten.

    Im Zusammenhang mit der U1 wird gemäß der Kinder-Richtlinie auch die Prophylaxe mit Vitamin K gegen die seltene, möglicherweise aber lebensbedrohliche Vitamin-K-Mangel-Blutung angeboten und durchgeführt. Während die britischen NICE-Guidelines (2015) und auch die WHO (2018) die i.m.-Injektion von 1 mg Vitamin K empfehlen, sieht die Kinder-Richtlinie die orale Gabe von jeweils 2 mg Vitamin K bei der U1, der U2 und der U3 vor. Auch zu diesem Vorgehen berät die Hebamme die Eltern. Wenn sie zustimmen, bekommt das Neugeborene das Präparat.

     

    Rechtliche Grundlagen

     

    Hebammenberufsordnung, beispielsweise im Land Berlin

    § 1

    Aufgaben und Pflichten

    (1) Hebammen und Entbindungspfleger dürfen folgende Tätigkeiten in eigener Verantwortung ausüben:

    (…)

    8. Untersuchung, Überwachung und Pflege des Neugeborenen; Einleitung und Durchführung der erforderlichen Maßnahmen in Notfällen; Durchführung von Prophylaxe-Maßnahmen und Information an die Sorgeberechtigten über weitere Untersuchungen im Rahmen des Neugeborenen- Screenings, über die Notwendigkeit kinderärztlicher Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten und über Schutzimpfungen

    (…)

    Anlage 1.3 zum Hebammenhilfevertrag zwischen den Hebammenverbänden und dem GKV-Spitzenverband

    Ziffern 2400, 2401 und 2402: Erstuntersuchung des Neugeborenen (U1)

    Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern (Kinder-Richtlinie)

    § 3 U1

    (1) Die U1 soll unmittelbar innerhalb der ersten 30 Minuten nach der Geburt des Kindes durchgeführt werden. Als Geburtszeitpunkt gilt hier die Geburt des Kindes selbst und nicht erst das Ende des Geburtsvorganges mit der Geburt der Plazenta. Falls bei der Geburt keine Ärztin oder kein Arzt anwesend ist, aber eine Hebamme oder ein Entbindungspfleger, soll die Hebamme oder der Entbindungspfleger die Untersuchung durchführen.

    (2) Folgende Ziele und Schwerpunkte werden gesetzt:

    a) Erkennen von lebensbedrohlichen Komplikationen

    b) Erkennen von Geburtstraumata

    c) Erkennen von sofort behandlungsbedürftigen Erkrankungen und Fehlbildungen

    d) Erfassung prä-, peri- und postnataler Risikofaktoren

    e) Entscheidung über die weitere Versorgung des Neugeborenen.

    (3) Die Untersuchungsinhalte umfassen die Anamnese, die eingehende körperliche Untersuchung sowie die im Folgenden unter »Sonstiges« aufgeführten Inhalte.

    1. Anamnese

    a) Schwangerschafts- und Geburtsanamnese

    Die Angaben aus dem Mutterpass (sowie ergänzende Dokumentation soweit vorliegend) mit Bedeutung für die Gesundheit und Entwicklung des Kindes sind zu berücksichtigen und zu dokumentieren:

    aa) Schwangerschaftsanamnese – Diabetes – Dauermedikation – besondere psychische und/oder soziale Belastungen – Mehrlingsschwangerschaft – (Poly-)Hydramnion – Oligohydramnion – Gestationsdiabetes – Abusus – Antikörpersuchtest positiv – akute oder chronische Infektion in der Schwangerschaft – GBS-Status der Mutter

    bb) Geburtsanamnese – Geburtsdatum – Geschlecht – vollendete Schwangerschaftswoche (SSW) Angabe in Wochen und Tagen (zum Beispiel 39+4 SSW) – Geburtsmodus: spontan, Sectio, vaginale Operation: Vakuum, Forceps – Kindslage: Schädellage, Beckenendlage, Querlage – pH-Wert, Base excess (Nabelarterie) – soweit vorhanden, Befunde einer pränatalen Diagnostik

    b) Familienanamnese – unter anderem behandlungsbedürftige Hyperbilirubinämie bei einem vorausgegangenen Kind

    2. Körperliche Untersuchungen

    a) Reguläre Kreislauf-/Atemfunktion: Apgar-Wert 5‘/10‘

    b) Körpermaße: Gewicht, Körperlänge

    c) Reifezeichen

    d) Fehlbildungen

    e) Traumata

    f) Gelbsucht

    g) Ödeme

    3. Sonstiges

    Information zur Vitamin-K-Prophylaxe und wenn nötig durchführen.

    Rubrik: Ausgabe 10/2019

    Erscheinungsdatum: 23.09.2019

    Literatur

    Babyfreundlich: 10 Schritte zur babyfreundlichen Einrichtung. 2019. https://www.babyfreundlich.org/fachkraefte/fachinformationen/10-schritte.html

    Berle P: Die Inzidenz von Geburtsverletzungen Neugeborener in Abhängigkeit des Geburtsgewichtes. Eine Analyse in der Hessischen Perinatalerhebung. Geburtshilfe Frauenheilkd 1995. 55(1): 2-327. DOI: 10.1055/s-2007-1022768

    Berufsordnung für Hebammen und Entbindungspfleger (HebBO): vom 9. November 2010. zuletzt geändert durch Artikel V des Gesetzes vom 17. Dezember 2009. GVBl. S. 875

    Bloomfield L, Rogers C, Townsend J, Wolke D, Quist-Therson E: The quality of routine examinations of the newborn performed by midwives and SHOs; an evaluation using video recordings. J Med Screen 2003. 10(4):176–80

    Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie: Anorektale Fehlbildungen. Leitlinie der Dt. Gesellschaft für Kinderchirurgie 2013. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/006-002l_S1_Anorektale_Fehlbildungen_2013-abgelaufen...

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