Gewalt unter der Geburt hat System

In Wissenschaft, Politik und Recht wächst das Verständnis dafür, wie vielfältig, alltäglich und folgenschwer Gewalt in der Geburtshilfe in aller Welt bis heute ist. Aufgrund der Istanbul-Konvention verpflichtet sich auch Deutschland, Respektlosigkeit und Gewalt gegen Frauen zu verhüten und zu bekämpfen. In der Geburtshilfe sind alle Beteiligten mit in der Verantwortung. Dr. phil. Tina Jung
  • Gewalt in der Geburtshilfe ist ein globales Phänomen im Gesundheitssystem, eine systematische Form von Gewalt gegen Frauen und gebärende Personen. (Ich spreche im Folgenden – soweit nicht Dokumente im Wortlaut zitiert werden – von »Frauen und gebärenden Personen«, weil neben cis-Frauen auch lesbische, bisexuelle, nicht-binäre, trans und intergeschlechtliche Personen schwanger werden und gebären). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellte hierzu 2014 fest: »Viele Frauen erleben in geburtshilflichen Einrichtungen auf der ganzen Welt einen geringschätzigen und missbräuchlichen Umgang. Dieser Umgang verstößt nicht nur gegen das Recht der Frauen auf eine respektvolle Versorgung, sondern kann darüber hinaus deren Recht auf Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit und das Recht auf ein Leben ohne Diskriminierung verletzen.« (WHO 2015).

    Inzwischen liegen weltweit und auch für Deutschland zahlreiche Berichte und Studien über das Vorkommen und die Formen von Gewalt in der Geburtshilfe vor (Limmer et al. 2021, 2020; Leinweber et al. 2021). In der internationalen Forschungsliteratur sind unterschiedliche Begriffe für das Phänomen gebräuchlich, darunter obstetric violence, disrespect & abuse sowie mistreatement. Diese werden zum Teil synonym verwendet, teilweise tragen sie unterschiedlichen Analyseperspektiven und politischen Kontexten Rechnung.

    Im Folgenden beziehe ich mich begrifflich und konzeptionell auf den Terminus »Gewalt in der Geburtshilfe« (obstetric violence). Er wurde vor allem durch die zuerst lateinamerikanischen, dann global werdenden Kämpfe von feministischen Bewegungen, Nicht-Regierungs­organisationen sowie anderen Akteur:innen für reproduktive Gerechtigkeit und Menschenrechte in der Geburtshilfe populär. In fünf lateinamerikanischen Staaten oder Regionen ist der Begriff obstetric violence inzwischen mit einer eigenen Rechtsnorm verbunden: Venezuela, Argentinien, Bolivien, Panama und Mexico City. Das heißt, es gibt dort Gesetze zur Bekämpfung von Gewalt in der Geburtshilfe. Gemeinsam ist ihnen, dass Gewalt in der Geburtshilfe verstanden wird als eine Verbindung von geschlechtsspezifischer Gewalt auf der einen Seite, Missbrauch und Gewalt im Gesundheitssystem auf der anderen Seite (Williams et al. 2018).

    Das erste Gesetz dieser Art ist 2007 in Venezuela in Kraft getreten. Im »Gesetz auf das Recht von Frauen auf ein gewaltfreies Leben« werden 19 Formen von Gewalt gegen Frauen und gebärende Personen behandelt. In Artikel 15 wird Gewalt in der Geburtshilfe definiert als »...die Aneignung der Körper und der reproduktiven Prozesse von Frauen durch das geburtshilfliche Personal, die sich in entmenschlichender Behandlung, im Missbrauch von Medikalisierung, in der Pathologisierung natürlicher Prozesse, in einem Verlust von Autonomie und im Verlust der freien Entscheidungsmöglichkeiten der Frauen über ihre Körper und Sexualität zeigen und in insgesamt negativen Auswirkungen auf ihre Lebensqualität münden.« (Pérez D’Gregorio 2010, eigene Übersetzung)

     

    Internationale Begriffe klären

     

    In der internationalen Forschungsliteratur zu Gewalt in der Geburtshilfe gibt es keine einheitliche Definition des Begriffs. Aber es lassen sich verschiedene Schlüsselkonzepte entziffern, die mit obstetric violence verbunden sind, zum Teil im Unterschied zu disrespect & abuse und mistreatment.

    In der Debatte um obstetric violence wurde die Definition von Gewalt, wie sie die WHO im »Weltbericht Gewalt und Gesundheit« vorgenommen hat, weiterentwickelt (WHO 2003). Hier war im Wortlaut der WHO-Definition von einem »absichtliche[n] Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft (…)« die Rede. Gewalt in der Geburtshilfe indessen kann absichtliches und unabsichtliches Handeln und Unterlassungen beinhalten.

    Der Terminus obstetric violence betont die Perspektive der Frauen und Gebärenden als Betroffene. Er begründet sich weniger in der Intention der Gewaltausübenden, sondern in der Thematisierung des (potenziellen) Schadens für die Gewaltbetroffenen. Gewalt in der Geburtshilfe wird hinsichtlich seines vergeschlechtlichten, sexistischen, systemischen Charakters und als Teil der geschlechtsspezifischen Macht- und Ungleichheitsverhältnisse in (patriarchalen) Gesellschaften reflektiert. Gender-Aspekte werden als Einflussfaktoren von Gewalt in der Geburtshilfe aufgezeigt und anerkannt (Betron et al. 2018).

    Ob und inwieweit die Verwendung des Begriffs »Gewalt« auch abschreckende Wirkung für Geburtshelfer:innen und Akteur:innen des Gesundheitssysteme haben kann, wird durchaus kritisch diskutiert. Dennoch werden in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung die entscheidende Rolle und die Verantwortung für die Verhütung und Bekämpfung von Gewalt in der Geburtshilfe bei den Geburtshelfer:innen, Akteur:innen des Gesundheitswesens und der (Regierungs-)Politik gesehen (Lévesque/Ferron-Parayre 2021).

     

    Gewalt gegen Frauen und gebärende Personen in Europa bekämpfen

     

    Es gibt eine Reihe von Rechtsnormen, die für die Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und gebärende Personen von Bedeutung sind. Dazu zählen internationale Menschen- und Frauenrechtsnormen wie die UN-Frauenrechtskonvention und die sogenannte Istanbul-Konvention, das Grundgesetz der BRD und das Patientenrechtegesetz. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Vorgaben des Europarats und deren Tragweite für das deutsche Gesundheitswesen.

    Seit dem 1. Februar 2018 ist in Deutschland das »Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen« unmittelbar geltendes Recht – besser bekannt als Istanbul-Konvention. Dies ist ein völkerrechtlicher Vertrag von 2011, der in Deutschland den Status eines Bundesgesetzes hat. Darin sind umfassende Vorgaben und Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt formuliert; Deutschland unterliegt einer Berichts­pflicht gegenüber einem unabhängigen Kontroll-Gremium, der sogenannten GREVIO (Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence). Gewalt in der Geburtshilfe ist in der Istanbul-Konvention zwar nicht explizit erwähnt, jedoch heißt es in Art. 2 Abs. 1: »Dieses Übereinkommen findet Anwendung auf alle Formen von Gewalt gegen Frauen«.

    Gewalt in der Geburtshilfe stellt eine solche Form von Gewalt dar. 2019 hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats eine eigene Resolution zu gynäkologischer und geburtshilflicher Gewalt verabschiedet, die Resolution 2306. Gewalt in der Geburtshilfe wird hier im Kontext geschlechtsspezifischer Gewalt (gender-based violence) gerahmt. In der Resolution wird festgestellt, dass gynäkologische und geburtshilfliche Gewalt eine Verletzung der Menschenrechte und eine Form geschlechtsspezifischer Diskriminierung ist, die langfristige Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen haben. Unter Punkt 2 wird formuliert: »Gewalt in Geburtshilfe und Gynäkologie ist eine Form von Gewalt, die seit langem verborgen ist und immer noch zu oft ignoriert wird. In der Privatsphäre der ärztlichen Beratung oder der Geburt sind Frauen Opfer von Praktiken, die gewalttätig sind oder als solche wahrgenommen werden können. Dies schließt nicht-adäquate oder nicht-konsensuelle Handlungen, etwa ohne Einverständnis durchgeführte Episiotomien und vaginale Untersuchungen, Kristeller [fundal pressure] oder schmerzhafte Interventionen ohne Schmerzbehandlung ein. Es wurde zudem über sexistisches Verhalten im Rahmen medizinischer Beratung berichtet.« (PACE 2019, eigene Übersetzung).

    Aus Sicht des Europarats ist Gewalt in der Geburtshilfe und Gynäkologie Ausdruck einer noch immer gesellschaftlich vorherrschenden patriarchalen Kultur, die auch das Gesundheitswesen betrifft. Demgegenüber werden die Förderung von Geschlechtergerechtigkeit und die Bekämpfung jedweder Formen von Gewalt gegen Frauen und gegen gebärende Personen bekräftigt – einschließlich der Bekämpfung von Gewalt in Gynäkologie und Geburtshilfe.

    In Bezug auf die Istanbul-Konvention sind die Europarats-Mitgliedsstaaten aufgefordert, umfassende Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt in der Geburtshilfe zu vollziehen. Unter anderem wird der Deutsche Bundestag aufgerufen, Gewalt in der Geburtshilfe mit Blick auf den Schutz von Patient:innenrechten zu diskutieren und so zur öffentlichen Verständigung und zum Abbau von Tabus beizutragen (PACE 2019, Punkt 9).

     

    Konkrete Formen von Gewalt benennen

     

    Im Juli 2019 hat die UN-Sonderbericht­erstatterin zu Gewalt gegen Frauen, Dubravka Šimonović, der UN-Generalversammlung einen Bericht über geburtshilfliche Gewalt vorgelegt (UN General Assembly 2019). Der Bericht stellt zugleich einen frauen- und menschenrechtsbasierten Ansatz zur Bekämpfung von Gewalt in der Geburtshilfe dar. Er zeigt, dass es bei Geburten innerhalb und außerhalb von Kliniken zu einer systematischen Verletzung von Menschenrechten kommt. Als Ursachen für Gewalt in der Geburtshilfe werden strukturelle Einschränkungen im Gesundheitssystem (darunter Arbeitsbedingungen und Ressourcenmangel), geschlechtsstereotype Diskriminierung, institutionelle Machtverhältnisse und die missbräuchliche Behauptung medizinischer Notwendigkeit als Legitimation für gewaltvolle Praktiken identifiziert.

    Es werden konkrete Formen von Gewalt benannt, über die in mehr als 130 Eingaben und regionalen Reporten aus aller Welt berichtet worden ist. Sie sind in den Bericht an die UN-Generalversammlung eingeflossen – einer davon aus Deutschland, eingereicht von der Bundeselterninitiative Mother Hood e.V.

    Zu den berichteten Formen von Gewalt gegen Frauen und gebärende Personen in der Geburtshilfe zählen körperliche und verbale Verletzungen, demütigendes oder erniedrigendes Verhalten, nicht-notwendige, erzwungene oder ohne Einwilligung durchgeführte medizinische Interventionen wie etwa Episiotomie, Kristeller-Handgriff, Kaiserschnittentbindung, Einsatz von synthetischem Oxytocin und vaginale Untersuchungen, Verletzung der Vertraulichkeit und Privatsphäre, fehlendes Einholen der informierten Einwilligung, Nicht-Gewährleistung der Autonomie der Gebärenden und mangelnde Aufklärung über mögliche Alternativen, Festhalten oder Festbinden der Gebärenden, Vorenthalten von Schmerzmitteln, absichtsvoll zu enges Nähen nach Dammriss oder Episiotomie (»husband-stitch«), Verweigerung der stationären Aufnahme oder Entlassung, Nichtbeachtung oder Vernachlässigung während der Geburt, Inkaufnahme von potenziell lebensbedrohlichen und/oder vermeidbaren Komplikationen sowie sexistisches Verhalten des geburtshilflichen Personals.

    Diese Formen von Gewalt und Verletzungen der Patient:innenrechte wurden auch in Deutschland berichtet. Vor dem Hintergrund eigener empirischer Befunde (Jung 2020) sind weitere zu ergänzen: die Nicht-Ermöglichung von Gesprächen mit verantwortlich entscheidenden Ärzt:innen, keine Herausgabe von/fehlende Möglichkeit der Einsichtnahme in geburtshilfliche Dokumente durch die Patient:innen, medizinisch nicht notwendige Trennung von Mutter und Neugeborenem, Handlungen am Neugeborenen ohne Aufklärung und Einwilligung der Eltern sowie rassistisches und klassistisches Verhalten des geburtshilflichen Personals. Die Berichte zeugen davon, dass Gewalt in der Geburtshilfe keine Randerscheinung ist, sondern eine vielfach in Alltagsroutinen, institutionelle und systemische Logiken eingelassene Form von Gewalt.

     

    Mehrdimensionalität von Gewalt in der Geburtshilfe

     

    So relevant die Auflistungen berichteter Formen von Gewalt in der Geburtshilfe zweifellos sind, so bilden sie die Gewalt zunächst einmal weitestgehend ohne Entstehungs- und Wirkzusammenhänge ab. Gewalt in der Geburtshilfe wird unmittelbar zwischen Menschen und gebunden an konkrete Situationen wirksam. Das gilt, wenn Formen von Gewalt als personale Gewalt von den beteiligten Personen direkt verantwortet werden muss; dies gilt aber auch dann, wenn die Entstehung von gewaltsamen Verhältnissen nicht direkt von den beteiligten Personen im Sinne der Verursachung der Situation zu verantworten ist.

    Abbildung 1 zeigt die verschiedenen Struktur-, Norm- und Handlungsebenen, in die einzelne Geburtssituationen eingebunden sind.

    Der innerste Kreis bezeichnet eine konkrete, historisch, räumlich und kulturell verkörperlichte und vergeschlechtlichte Situation im Kreißsaal: Gebärende und Geburtshelfer:innen treffen als Menschen mit unterschiedlichen biografischen und beruflichen Vorerfahrungen, Werten und Ressourcen zusammen. Dieses Aufeinandertreffen findet in einer bestimmten räumlichen Ordnung (Kreißsaal) und unter spezifischen institutionellen Bedingungen (innerhalb einer Klinik) statt. Die Geburtshelfer:innen agieren nach professionellen Handlungs- und Deutungsroutinen und nach der »Kultur des Hauses«. Diese institutionellen Aspekte fußen auf strukturellen Rahmenbedingungen, die durch (Gesundheits-)Politik und Ökonomie reguliert werden und nationale sowie internationale Rechtsnormen wie Patient:innenrechte, Grund- und Menschenrechte gewährleisten müssen.

    All dies ist Teil von Gesellschaft, von gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen, Normen und Diskursen – und als solche jeweils von Menschen gemacht und somit auch veränderbar. Die Handlungsfähigkeit, -macht und -reichweite sind dabei jedoch verschieden, wie die Pfeile am rechten Rand der Darstellung zeigen sollen: Kollektive Akteur:innen (wie Berufsverbände und Gewerkschaften) können berufs- und/oder gesundheitspolitische Interessen vertreten und/oder sich für Frauen- und Menschenrechte einsetzen. Als Hebamme im Kreißsaal in einer Geburtssituation ist die Handlungsmacht und -reichweite jedoch auf die individuelle beziehungsweise teambezogene Ebene beschränkt.

    Aus dieser Situation heraus kann nicht ad hoc verändert werden, was eventuell an problematischen Strukturbedingungen negativ auf die konkrete Situation einwirkt (personelle Unterbesetzung, mehrere Geburten gleichzeitig, überfüllte Kreißsäle). Aber auch, wenn Defizite und Gewaltpotenziale auf gesellschaftlicher oder struktureller Ebene entstehen und als solche nicht von der einzelnen Hebamme in einer konkreten Geburtssituation ursächlich zu verantworten sind, kann sich die einzelne Hebamme nicht aus der Verantwortung für die Gestaltung dieser konkreten Situation herausnehmen.

    In berichteten Fällen von Gewalt in der Geburtshilfe zeigte sich, dass sich bereits in einer einzigen Situation verschiedene Ebenen von Gewalt in der Geburtshilfe wirksam sind; beispielsweise sowohl direkte personale Gewalt als auch strukturelle Gewalt: Abbildung 2 zeigt, dass und wie sich auf allen bereits in Abbildung 1 eingeführten Ebenen Gewalt manifestieren kann.

    In der konkreten Interaktion, hier dargestellt als der innerste Kreis, kann direkte personale Gewalt seitens der Geburtshelfer:innen in Form von psychischer, physischer und/oder sexualisierter Gewalt ausgeübt werden. Auf der institutionellen Ebene können die Handlungslogiken und Routinen zum Beispiel des Kreißsaals zu mehr oder minder subtil ausgeübtem Zwang und Gewalt führen. Und auf der strukturellen Ebene kann Gewalt beispielsweise in Form von Vernachlässigung und Unterlassung durch Personalmangel entstehen. Gewalt kann sich weiter als Verletzung von Rechtsnormen zeigen sowie in stereotypen und diskriminierenden gesellschaftlichen Geschlechternormen (beispielsweise darüber, wie ein:e »gute:r Gebärende:r« sich zu verhalten hat). Hier kommt sogar noch eine Dimension von Gewalt hinzu, in der Abbildung 2 links am Rand eingezeichnet, die quer zu allen anderen liegt: die symbolische Gewalt.

    Symbolische Gewalt zielt darauf ab, die in den Kreisen von Abbildung 2 benannten Formen von Gewalt als Gewalt unkenntlich zu machen oder zu legitimieren und sie so für die Gesellschaft akzeptabel zu machen. Eine solche Form von Gewalt ist beispielsweise die fälschliche oder überzeichnete Behauptung medizinischer Notwendigkeit, um Einverständnis für bestimmte geburtshilfliche Praktiken/Interventionen seitens der Gebärenden zu erzielen.

    Symbolische Gewalt ist auch ein maßgebliches Mittel, um Gewalt – und die Wahrnehmung von Gewalt – zu normalisieren und sodann unsichtbar zu machen. Normalisierung bedeutet, dass gewaltsame Praktiken, die zunächst (etwa von werdenden Hebammen bei den ersten Praxiseinsätzen im Kreißsaal) durchaus noch als genau solche erkannt und wahrgenommen werden, nach und nach als »normaler« und akzeptabler Teil professioneller Deutungs- und Handlungspraktiken integriert und dann mitunter selbst weiter ausgeführt werden. Eine Hebamme formuliert es so: »Das waren halt oft wie so Vergewaltigungsszenen, bei denen man halt dabei ist und dadurch auch Teil davon wird. Und im Prinzip so dieses Grenzüberschreitende einfach immer, dass die Meinung der Frau nichts wert ist. Ich finde, das kriegt man da [im Ausbildungskreißsaal] sehr beigebracht.«

     

    Resümee

     

    Die Aufgabe, für die es unter anderem mit der Istanbul-Konvention und der daran anschließenden Resolution des Europarats zu geburtshilflicher und gynäkologischer Gewalt eine politische und gesetzliche Grundlage gibt, liegt eben darin: Die gewaltvollen Verhältnisse nicht zu reproduzieren, sondern ihnen aktiv entgegenzutreten. Notwendig dafür ist, die Komplexität von Gewalt in der Geburtshilfe noch besser zu verstehen und Lösungsansätze zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt in der Geburtshilfe auf allen Ebenen anzusetzen, auf denen sich Gewalt in der Geburtshilfe zeigen kann. Das bedeutet, nicht zu vereinseitigen: weder in individualisierende Ansätze, die nahelegen, ausreichend Kommunikations- und Achtsamkeitstraining für Hebammen und andere Berufsgruppen allein würden zu einer Bekämpfung von Gewalt in der Geburtshilfe führen. Noch ist der Verweis auf unzureichende Struktur- und Rahmenbedingungen oder die notwendige Forderung nach einer kontinuierlichen Eins-zu-eins-Begleitung unter der Geburt alleine ausreichend, um Gewalt in der Geburtshilfe zu bekämpfen. Gewalt in der Geburtshilfe auch als eine Form von Gewalt gegen Frauen und gebärende Personen zu verstehen, bedeutet überdies, sexistische und misogyne Einstellungen in den Blick zu nehmen, Verhaltensmuster sowie Abwertungen aufgrund sexueller Orientierung und Geschlechtszugehörigkeit, Herkunft, Religion oder Gesundheitsstatus und die tief ins System eingelassene »Normalisierung« von Gewalt zu problematisieren und abzubauen.

     

     

     


    Anmerkung

    Der Artikel wurde auf Grundlage des Vortrags »Formen, Folgen und Vermeidung von Gewalt in der Geburtshilfe« im gleichnamigen Fachforum der AG Hebammen des AKF am 11. Mai 2022 geschrieben, den die Autorin beim 16. Kongress des Deutschen Hebammen Verbands hielt.

    Die eigenen empirischen Befunde, auf die verwiesen wird, sind Ergebnisse des Forschungsprojekts »Gewalt gegen Frauen während der Geburt in geburtshilflichen Einrichtungen (GFGE). Begriff, Entstehung, Ursachen«, das 2018–2019 vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst an der Justus-Liebig-Universität Gießen gefördert wurde.

    Rubrik: Ausgabe 03/2022

    Erscheinungsdatum: 24.02.2022

    Literatur

    Betron ML et al.: Expanding the agenda for addressing mistreatment in maternity care: a mapping review and gender analysis. In: Reproductive Health 2018. 15:143

    Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarats vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Auszug aus dem Bundesgesetzblatt Jahrgang 2017 Teil II Nr. 19, ausgegeben zu Bonn am 26. Juli 2017.

    Jung T: Gewalt gegen Frauen während der Geburt in geburtshilflichen Einrichtungen. Projektbericht, JLU Gießen. 2020

    Leinweber J, Jung T, Hartmann K, Limmer C: Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe – Auswirkungen auf die mütterliche perinatale psychische Gesundheit. In: Public Health Forum 2021. 29(2):97–100

    Lévesque S, Ferron-Parayre A: To Use or Not to Use the Term »Obstetric Violence«: Commentary on the Article by Swartz and Lappeman. In: Violence Against Women 2021. 1–10

    Limmer CK, Vedam S, Leinweber J, Gross M: Measuring Disrespect and Abuse During...

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