Die Reichshebammenführerin

Nanna Conti

Die Hebamme Nanna Conti (1881 bis 1951) war in der Zeit des Nationalsozialismus die Leiterin der Reichshebammenschaft, erste Präsidentin der International Confederation of Midwives (ICM) und Schriftleiterin der Allgemeinen Deutschen Hebammen-Zeitung. Die „Mutter für die Hebammen“ nutzte ihre Rolle im Sinne der Rassenideologie als „einsatzbereite Kämpferin für den NS“. Eine Biografie. Dipl.-Pflegewirtin Anja K. Peters
  • „Freiluftunterricht in Alt Rehse“, ist dieses Bild aus der Zeitschrift der Reichsfachschaft Deutscher Hebammen 1936, Seite 504, betitelt. Nanna Conti vermittelt Hebammen nationalsozialistisches Gedankengut an der „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“.

  • „Die Teilnehmerinnen an dem Hebammen-Kongreß in Riga", lautet die Bildunterschrift in der Zeitschrift der Reichsfachschaft Deutscher Hebammen 1935, Seite 541: Nanna Conti sitzt in der zweiten Reihe, dritte von rechts.

  • Nanna Conti wurde am 21. April 1881 in Uelzen als Tochter des Sprachwissenschaftlers und Schulrektors Dr. Carl Eugen Pauli und seiner Frau Anna geboren. Im Elternhaus war die Freimaurerei ein prägendes Element. Die Uelzener Loge gehörte zu den nationalkonservativen preußischen Logen. Die Freimaurerei wies von Anfang an esoterische Züge auf. Pauli und seine Tochter praktizierten Spiritismus, wie sich Nanna Contis Tochter Camilla später erinnerte: „Im Häuschen meiner Mutter in Mellensee existierte ein großer Blechkasten, angefüllt mit lauter dicken Kladden mit den von meinem Großvater geschriebenen Sitzungsberichten. […] Das alles gehörte meiner Mutter, aber ich durfte darin lesen, was ich mehrmals getan habe. Die Berichte waren z. T. ganz erstaunlich. Er sowohl wie meine Mutter waren fest davon überzeugt, daß sie wirklich in Verbindung standen mit den Geistern der Verstorbenen, z.B. dem kleinen Bruder Paul meiner Mutter, der mit 12 Jahren gestorben war." (Privatarchiv der Verfasserin)

    Im März 1884 geriet die Familie in große Not, da der Vater seine Anstellung in Uelzen verlor. Während Anna Pauli mit den Kindern zu Verwandten nach Zoppot bei Danzig (heute Sopot) zog, ging Carl Pauli nach Leipzig. Seinem Sohn zufolge bewahrten ihn lediglich Darlehen seines Verlegers und Zuwendungen seines Schwagers in Stettin vor dem Hungern. Ab September 1884 wohnte die gesamte Familie in Leipzig, wo Pauli als Lehrer arbeitete.

    Im März 1898 heiratete Nanna Pauli mit 16 Jahren den 25-jährigen Schweizer Silvio Conti. In den folgenden fünf Jahren brachte sie mehrere Kinder zur Welt, von denen drei überlebten: 1899 wurde ihr Sohn Silvio geboren. Er amtierte ab 1933 als Landrat in Prenzlau, wo er sich 1938 erschoss. Im Sommer 1900 wurde Leonardo geboren. Er machte später parallel zu seiner Mutter als Arzt Karriere im NS-Gesundheitswesen und fungierte ab 1939 als „Reichsärzte- und -gesundheitsführer". Leonardo Conti tötete sich 1945 im Gefängnis in Nürnberg. Die Tochter Camilla kam 1902 in Oetzsch bei Leipzig – bereits nach der Trennung der Eltern – zur Welt. Alle vier behielten ihr Schweizer Heimatrecht, besaßen also die doppelte Staatsbürgerschaft. Diese Tatsache wurde von 1933 bis 1945 nach außen nie thematisiert. Nanna Conti heiratete nicht wieder und zog ihre Kinder alleine groß.

     

    Hebamme, Mutter und Berufspolitikerin

     

    Ab Oktober 1903 absolvierte Nanna Conti an der Hebammenlehranstalt Magdeburg einen sechsmonatigen Hebammenkurs. Die Kinder lebten während dieser Zeit bei Bekannten in München. Sie bestand die Hebammenprüfung mit „sehr gut". Anschließend zog sie mit ihren Kindern nach Charlottenburg und arbeitete als niedergelassene Hebamme. Bis 1908 unterstützte Nanna Contis Mutter Anna ihre Tochter in der Betreuung der Kinder. Wie sie später Familie und Beruf miteinander verband, ist nicht bekannt. Der Verleger der Deutschen Hebammen Zeitschrift (DHZ, ab 1949), Kurt Zickfeldt senior (1901–1985), in dessen Elwin Staude Verlag auch die Vorgängerinnen Zeitschrift der Reichsfachschaft Deutscher Hebammen (ZdRDH, 1933–1939) und Die Deutsche Hebamme (DDH, 1939–1945) erschienen, erinnerte sich 1983 in einer Radiosendung an eine große Praxis und eine kleine Hinterhofwohnung (WDR 1983).

    Contis Neffe aus den USA besuchte die Familie 1922 und beschrieb später seine Tante: „(…) My aunt Nana [sic] was an energetic woman, a leading midwife (then an honored profession in Germany) who also ran her household and atrociously spoiled her sons. (…) After a strenuous day‘s work, Nanna would have to tend the house, assisted by her daughter Camilla, possibly interrupted by a nightcall. Her sons meanwhile sat around like lords of the manor and were waited on." (Privat­archiv der Verfasserin)

    Es gibt wenige Berichte über Nanna Contis geburtshilfliche Arbeit. In einem Artikel für die Allgemeine Deutsche Hebammen-Zeitung (ADHZ), wie die Verbandszeitschrift 1885 bis 1933 hieß, schrieb Nanna Conti 1926, sie habe etwa 2.000 Geburten geleitet. Andererseits legte sie in einem früheren Beitrag für die ADHZ 1925 Wert darauf, in den letzten Jahren zu weniger als 60 Geburten pro Jahr gerufen worden zu sein im Gegensatz zu circa 95, die der genannten Gesamtzahl zugrunde liegen würden. Die Parteien und Hebammenverbände in der Weimarer Republik rangen um eine reichseinheitliche Struktur und Gesetzgebung für die Hebammen. Diejenigen, die eine starke staatliche Reglementierung und Arbeitszeitregelungen beziehungsweise Geburtenbeschränkungen befürworteten, standen denjenigen, die einen freien Wettbewerb unter den Hebammen bevorzugten, unversöhnlich gegenüber (Szász 2006). Nanna Conti gehörte zur Fraktion derer, die vehement gegen die Einbindung der Hebammen in das staatliche Gesundheitswesen waren. Möglicherweise passte sie ihre Zahlen den argumentativen Notwendigkeiten an: 1925 wollte sie klarstellen, dass es ihr im Kampf gegen die Geburtenzahlenbeschränkung auf 60 Geburten pro Hebamme im Jahr nicht um ihren eigenen finanziellen Vorteil gehen würde – mehr Geburten bedeuteten mehr Einnahmen. Sie begründete ihren Widerstand mit der Arbeitsfreudigkeit der Hebammen und der Wahlfreiheit der Mütter, die durch eine Geburtenbeschränkung reduziert würde. Andererseits verteidigte sie 1930 in der ADHZ Hebammen, die deutlich höhere Zahlen angaben (bis zu 6.000 in 50 Jahren), mit den höheren Geburtenraten früherer Jahre. Auch seien Hebammen, die zu so vielen Geburten gerufen würden, „besonders lebenssprühend, gesund und leistungsfähig", was ihre große Beliebtheit und physische Leistungsfähigkeit begründen würde (Peters 2014).

     

    NSDAP-Mitglied ab 1928

     

    Conti gab in einem Artikel über „Missbildungen bei Neugeborenen in jüdischen Familien" in der ZdRDH 1934 an, dass 20 bis 30 Prozent ihrer Patientinnen jüdisch gewesen seien (Conti 1935). Sie müsste grob geschätzt 300 bis 500 jüdische Kinder entbunden haben. Was sie wohl dabei empfand, dass vermutlich die meisten Opfer der Shoah wurden?

    Nanna Conti gehörte ab 1919 verschiedenen rechtsextremen Parteien und Organisationen an. Anlässlich ihres 40-jährigen Berufsjubiläums 1944 hieß es in der DDH: „Das starke politische Interesse führte Frau Conti schon im Jahre 1928 in die Reihen der NSDAP, und sie war neben ihrer Arbeit als Hebamme und für die Berufsschwestern eine einsatzbereite Kämpferin für den Nationalsozialismus. Schon seit 1918 war sie jedoch in den damals entstehenden ‚Bünden’ und dann in der ‚Völkischen Freiheitsbewegung’ tätig." (y, 1944, Anmerkung: Anonyme Beiträge waren in der Hebammenzeitschrift üblich.) Am 1. September 1930 trat Nanna Conti der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) mit der Mitgliedsnummer 297074 bei.

     

    Konflikte in der Weimarer Republik

     

    Wahrscheinlich war Nanna Conti bereits vor 1918 Mitglied im Preußischen Hebammenverband, einem Teilverband der Vereinigung Deutscher Hebammen (VDH). Während der Weimarer Republik brachen in den Hebammenvereinen partei- und gesellschaftspolitische Konflikte aus, die ab 1920 zu mehreren Spaltungen führten. Unter anderem bildete sich 1922 der Allgemeine Deutsche Hebammenverband (ADHV) unter erheblicher Einflussnahme des Verlegers Rudolf Zickfeldt (Vater von Kurt Zickfeldt senior). Dem ADHV gehörte auch der preußische Verband an. Die Hebamme und Ärztin Nora Szász hat diese Zeit 2006 in der DHZ ausführlich dargestellt (Szász 2006).

    Nanna Conti wurde 1921 erstmalig in der ADHZ erwähnt, als der preußische Vorstand vehemente Kritik an ihrer Agitation gegen ein geplantes Hebammengesetz übte, mit dem der sozialdemokratisch und gewerkschaftlich geprägte Flügel der Hebammenverbände dafür sorgen wollte, dass die Hebammen fest angestellt werden: „Sie [Frau Klöpfer, Vorsitzende des Frankfurter Hebammenvereins] übt diesen [Verrat an der Sache der Hebammen] aus unter der Gefolgschaft der Frau N a n n i [sic] C o n t i in Berlin, die in den Zeitungen einen Aufsatz in Umlauf gesetzt hat, in dem sie sich u. a. nicht entblödet, die Teilnehmerinnen an der letzten Tagung in Berlin t o b e n d e  F r a u e n zu nennen und die Wahrheit entstellende Angaben zu machen. Ja, sie bezeichnet die Anstellung als eine
    P r ä m i e  d e r  F a u l h e i t und versucht, unser in 30jähriger Tätigkeit geschaffenes Werk zu vernichten. (…) Diese Frauen Frau Klöpfer und Frau Conti, die anscheinend kein Gefühl für die b i t t e r e  N o t so vieler Berufsschwestern haben, müssen es auf ihr G e w i s s e n nehmen, daß eine große Anzahl unserer ältesten Kolleginnen, die auf das Gesetz ihre ganzen Hoffnungen gesetzt haben, in ihren letzten Tagen weiterhin dem
    H u n g e r  u n d  E l e n d preisgegeben bleiben." (Vorstand des Preußischen Hebammenverbandes 1921)

    Mit welchem Mandat Nanna Conti hier handelte, kann derzeit nicht nachvollzogen werden. Ihre Charlottenburger Ortsgruppe des Berliner Hebammenverbands ahndete ihr eigenmächtiges Handeln jedenfalls mit zeitweiligem Ausschluss. Es ist nicht klar, ob Conti als Verbandsfunktionärin agierte oder im Rahmen parteipolitischer Berufspolitik tätig war. Es scheint eine kleine Gruppe offen rechtsradikaler Hebammen im Preußischen Hebammenverband gegeben zu haben, deren Vormachtstellung aber bis 1933 von den anderen politischen Gruppen verhindert wurde (Peters 2014). Letztlich verhinderten diese Auseinandersetzungen innerhalb der Hebammenschaft in der Weimarer Republik ein gemeinsames Agieren für ein Hebammengesetz.

     

    Nanna Contis Aufstieg

     

    Seit August 1928 war Nanna Conti Schriftführerin des Neupreußischen Hebammen-Verbandes, der als Landesverband dem ADHV angehörte. Der Aufstieg Nanna Contis als Verbandsfunktionärin über Preußen hinaus aber entstand nicht aus dem ADHV heraus, sondern infolge ihrer Ernennung zur Fachschaftsleiterin 1933 durch das Reichsinnenministerium – zunächst gemeinsam mit der bisherigen ADHV- und sächsischen Landesvorsitzenden Emma Rauschenbach und der hannoverschen Hebamme Caroline Einstmann. Nanna Contis offizieller Titel lautete „Leiterin der Reichsfachschaft Deutscher Hebammen" (ab 1939 Reichshebammenschaft). Sie selbst führte den Titel einer „Führerin" nicht. Dennoch setzte er sich so weit durch, dass er sowohl innerhalb als auch außerhalb der Reichshebammenschaft und sogar von staatlichen Stellen wie der Reichschrifttumskammer in Zeitungsartikeln und Briefen benutzt wurde.

    Im Hintergrund rumorte deutlich mehr Widerstand, als Organisation und Leiterin zugaben. Nicht alle Landesfachschaften nahmen es widerstandslos hin, dass verdiente Vorstandsmitglieder entlassen wurden. Allerdings blieben diese Proteste verhalten und drangen nicht bis in die Fachzeitschrift ZdRDH vor. Sie finden sich heute als kurze Anmerkungen in den wenigen erhaltenen Sitzungsprotokollen (Peters 2014).

    Nanna Conti verdrängte Emma Rauschenbach schrittweise aus der Verbandsöffentlichkeit, bis diese 1939 ohne Angabe von Gründen abgesetzt wurde. Vermutlich war Rauschenbach eine Konkurrentin, da sie nicht nur elf Jahre lang dem ADHV vorgestanden hatte, sondern vor allem seit 1919 den einflussreichen und aktiven Bund Sächsischer Hebammen-Vereine leitete, dem Conti selbst 1934 bescheinigte, „immer führend vorangegangen" zu sein. Die sächsische Landesfachschaft, wie der Bund seit 1934 hieß, hatte das Potenzial, innerhalb der Reichsfachschaft zur Opposition gegenüber der Zentrale in Berlin und der Reichsfachschaftsleiterin zu werden (Sauer-Forooghi 2004). Dass es auch Widerstand gegen die „gute Mutter Conti" gab, ging jedoch im kollektiven Gedächtnis der deutschen Hebammen verloren (Peters 2014). Zeitgleich wurde Nanna Conti zur preußischen Landesfachschaftsleiterin ernannt. Zudem stand sie dem Großberliner Hebammenverband vor. Außerdem trat sie 1933 in die Schriftleitung des Verbandsorgans ZdRDH ein.

     

    Leiterin der Reichsfachschaft

     

    Spätestens ab 1934 wurde nicht mehr der Anschein erweckt, als hätten die Verbandsmitglieder ein Mitspracherecht. Die Umwandlung der früheren Verbände in die Reichsfachschaft und die untergeordneten Landesfachschaften wurde zwar 1933 nominell auf Mitgliederversammlungen bestätigt, war jedoch von den Innenministerien angeordnet worden. Die Landesfachschaftsleiterinnen wurden nicht mehr gewählt, sondern von Nanna Conti bestimmt und bestimmten ihrerseits Kreisleiterinnen. Die Reichsfachschaft war eine nationalsozialistische Führerorganisation mit straffer Struktur von oben nach unten, mit Nanna Conti an der Spitze.

    Nanna Contis Arbeitspensum war enorm. Kurt Zickfeldt senior erzählte später in der oben zitierten Radiosendung von ihrem „außergewöhnlichen Organisationstalent" und der „fast schon unheimlichen Arbeitskraft": „Von früh bis spät arbeitete sie entweder für den Verband oder schrieb mit kleiner, präziser Handschrift Artikel für die Hebammenzeitschrift. (…) Abends und nachts ging sie in- und ausländische Fachliteratur durch, prüfte Statistiken und rezensierte Veröffentlichungen in der Gynäkologie aus der Sicht der Hebammen" (WDR 1983). Zusätzlich zu ihren Aufgaben in der Reichsfachschaft nahm sie an Sitzungen diverser Komitees und Ausschüsse teil, denen sie angehörte. In der 1936 gegründeten „Vereinigung zur Förderung des Hebammenwesens" (einer Art Förderverein) war sie seit 1937 Beiratsmitglied. 1939 wurde Nanna Conti in den Sachverständigenbeirat für Volksgesundheit berufen.

    Ihr Einsatz blieb nicht ungewürdigt: Am 24. Dezember 1939 verlieh Reichsinnenminister Wilhelm Frick Nanna Conti das „Ehrenzeichen für Volkspflege", 1941 wurde sie mit dem „Volkspflegeabzeichen 2. Klasse" ausgezeichnet. Innerhalb der deutschen Hebammenschaft wurde sie 1943 geehrt durch die Benennung des Wohnheims für Hebammenschülerinnen in Insterburg, dem heutigen Cernâhovsk in Russland, das den Namen „Nanna-Conti-Haus" erhielt.

     

    Reisen und internationale Tätigkeit

     

    Unmittelbar nach ihrem Amtsantritt 1933 begann Nanna Conti durchs In- und Ausland zu reisen. Conti behielt ihre Visitationen im ganzen Reich auch während des Kriegs bei und verschaffte sich ein umfassendes Bild von der Situation vor Ort. Nicht zuletzt trug diese wahrgenommene Omnipräsenz zum Bild der fürsorglichen „Mutter" der Hebammen bei.

    Ihren ersten internationalen Auftritt hatte sie während des Kongresses der International Midwives Union (IMU, heute ICM) 1934 in London. Der Londoner Kongress legte den Grundstock für ein Netzwerk aus freundschaftlichen und beruflichen Beziehungen über ganz Europa, das Nanna Conti in den folgenden Jahren pflegte und nutzte.

    Den Höhepunkt ihrer internationalen Arbeit setzte der Hebammenkongress im Juni 1936 in Berlin, der gleichzeitig die Grundlage für ihr internationales Renommee legte. Über 1.000 Hebammen und Gäste nahmen daran teil. Die deutschsprachigen Teilnehmerinnen besuchten auch die Jahrestagung der Reichsfachschaft, die ausschließlich nationalsozialistische Vorträge im Programm hatte. Nanna Contis Sohn, der Arzt und Politiker Leonardo Conti, erläuterte die „Nürnberger Gesetze", die den Antisemitismus in Deutschland zementierten, und unterstrich seine Erklärungen mit persönlichen Erlebnissen: „(…) Meine Erkenntnis, daß diese Mischlinge unerfreuliche Typen sind, hat sich nur von neuem gefestigt und gestärkt. Meistens ist dies auch vom Lebensschicksal aus erkennbar, das alles andere als schön ist. Das äußert sich in mehrfachen Ehescheidungen in größerer Zahl, Vorbestrafungen, Kriegsdrückebergerei. Alles findet sich darunter. D i e s e  M i s c h j u d e n  s i n d i n  d e r  R e g e l  n i c h t  b e s s e r  a l s  d i e  J u d e n. Ich habe sogar den deutlichen Eindruck sie sind in der Regel schlechter als die Juden." (Anonym in der ZdRDH 1936) Zumindest die deutschsprachigen Kongressteilnehmerinnen mussten sich spätestens nach diesem Tag über das Wesen der Reichsfachschaft im Klaren sein.

    Der Kongress beschloss, dass die Kongresspräsidentin gleichzeitig bis zur Eröffnung des nächsten Kongresses Präsidentin der IMU sein sollte. Somit war Nanna Conti die erste Präsidentin und oberste Repräsentantin der IMU. Ihr Name steht bis heute eingraviert auf der Amtskette, die die jeweilige ICM-Präsidentin immer noch bei Eröffnungen und Abschlussfeiern von Kongressen trägt.

    Die Geschäftsstelle befand sich weiterhin wie seit der Gründung des Weltverbands um 1919 in Gent (Belgien). Am 18. Mai 1942 übernahm Nanna Conti das Amt der Generalsekretärin der IMU und somit die faktische Leitung von dem belgischen Gynäkologen Prof. Frans Daels. Eine Wahl fand nicht statt. Nach der Übergabe der Geschäftsführung verlegte Nanna Conti hinter dem Rücken der amtierenden Präsidentin Clémence Mosse aus Frankreich die Geschäftsstelle der IMU von Gent nach Berlin und stahl de facto die Unterlagen des Weltverbands: „Die nominelle Vorsitzende der internationalen Hebammenvereinigung ist leider Mlle. Mossé, Paris, eine Jüdin, die jetzt zur katholischen Kirche übergetreten ist. Ich möchte sie in Paris nicht sehen und sie auch nicht wissen lassen, dass ich das General-Sekretariat nach Berlin bringe. Wahrscheinlich machen wir es so, dass Prof. Daels es mir schriftlich vertretungsweise übergibt." (Brief von Nanna Conti vom 1. Mai 1942) Die IMU wurde somit von 1942 bis 1945 aus dem nationalsozialistischen Deutschland heraus geleitet.

    Ende August 1943 wurde die nach Berlin verlegte Geschäftsstelle der IMU einschließlich des Archivs durch einen Bombenangriff zerstört. Damit endete die Tätigkeit der International Midwives Union bis zu ihrer Neugründung 1949. Formell blieb Nanna Conti bis dahin Generalsekretärin der IMU.

     

    Die Contis und die Euthanasie

     

    1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" (GzVeN) eingeführt, das die zwangsweise Sterilisation von Menschen aufgrund fragwürdiger Diagnosen wie „angeborenem Schwachsinn", „vererbbares Irresein", „erbliche Fallsucht (Epilepsie)", Blindheit, Taubheit und „schwere erbliche Körpermißbildungen" festschrieb. Damit wurden die deutschen Hebammen in die eugenische Bevölkerungspolitik des Deutschen Reichs eingebunden. Hebammen meldeten „missgebildete" Neugeborene (siehe Seite 46ff.) und assistierten bei Zwangssterilisationen. Der Rücklauf an Meldungen behinderter und kranker Kinder durch Hebammen war jedoch offensichtlich nicht zufriedenstellend. Leonardo Conti wies in seiner Funktion als Reichsgesundheitsführer die Hebammen deshalb ausdrücklich an, ihrer Meldepflicht nachzukommen. Es steht zu vermuten, dass die gemeldeten Kinder größtenteils ermordet wurden (Peters 2014).

    Aus den Akten kann nicht geschlossen werden, ob sich die Hebammen der Konsequenzen ihrer Meldungen voll umfänglich bewusst waren. Nanna Conti schrieb 1946 über ihren Sohn und die Euthanasie: „Ich nehme an, daß man meinem Sohn die Euthanasie, auf ausdrücklichen Befehl von Adolf Hitler durchgeführt, aber auch seiner eigenen Überzeugung entsprechend, als ‚Massenmord‘ anrechnete und, da auch einige russische Geisteskranke getötet oder erlöst [sic] waren, Rußland als Ankläger auftrat. Vielleicht sollte er auch nach Rußland ausgeliefert werden. Etwa am 1. Okt. war das ‚Urteil Hadamar‘. Da sagte ich mir: ‚Mein armer Junge! Das ist auch dein Todesurteil!‘" Allerdings kann sie auch nicht völlig unwissend gewesen sein, wie ein weiterer Abschnitt desselben Briefes belegt: „Mein Sohn nahm es im übrigen mit der Schweigepflicht sehr genau; er sprach nicht mit mir über solche Dinge, ausgenommen die letzte große Aussprache im April unter vier Augen, als er sein ganzes Herz ausschüttete. Aber andere sprachen mit mir über alles, vielleicht in der Meinung, daß ich ohnehin unterrichtet wäre." (Privatarchiv der Verfasserin) Wenn sie aber, wie hier angedeutet wird, von den Morden wusste und dennoch die Einbindung der Hebammen darin durch die Meldepflicht unterstützte, muss sie als Reichshebammenführerin nach ihrem eigenen Amtsverständnis für die daraus resultierenden Verbrechen mitverantwortlich gemacht werden. Kurt Zickfeldt senior berichtete 1983: „Nur ganz am Schluß des Krieges, im Frühjahr 1945, hat Frau Conti einmal anklingen lassen, dass sie um ihren Sohn, den Reichsärzteführer Leonardo Conti, Angst habe. Aber auch, dass viele Dinge, die sie von ihm erfahren hatte, so schrecklich waren, dass sie sie lieber nicht erzählen wollte und auch lieber nicht daran denken wollte." (WDR 1983)

    Im Februar 1945 berichtete Die Deutsche Hebamme, dass seit September 1944 keine Anträge auf Sterilisation mehr eingereicht werden müssten und alle gesammelten Unterlagen „luftschutzmäßig sichergestellt" würden. Damit endete die Spitzeltätigkeit der Hebammen für das nationalsozialistische Regime.

     

    Nanna Contis Sohn an Euthanasie-Morden beteiligt

     

    Leonardo Conti, Sohn von Nanna Conti und während der NS-Diktatur Reichsgesundheitsführer und Chef der Reichsärztekammer, gehörte zu dem Personenkreis, dem im Januar 1940 im Alten Zuchthaus Brandenburg die Tötung von Menschen in einer Gaskammer und zu Vergleichszwecken die Tötung mit Injektionen vorgeführt wurde. Leonardo Conti soll dabei selbst Injektionen vorgenommen haben. Diese sogenannte „Brandenburger Probevergasung“ war Teil der Vorbereitungen der Aktion T4, der massenhaften Tötung von Kranken und Behinderten, benannt nach der institutionellen Zuständigkeit in der Berliner Tiergartenstraße 4. „Er war mitverantwortlich für Zwangssterilisationen, Schwangerschaftsunterbrechungen und Euthanasie. Unbestritten ist auch seine Beteiligung an Menschenversuchen.“, schreibt Dr. Ernst-Alfred Leyh, der sich in seiner Dissertation mit Conti befasst hatte.
    (gedenkort-t4.eu; archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/3669/1/Diskprom.pdf)

     

    Das Reichshebammengesetz

     

    Das 1938 beschlossene Reichshebammengesetz (RHG) war Ausdruck einer Entwicklung seit 1933, die die Historikerin Kirsten Tiedemann (2004) als einen „Prozess tiefgreifender Umstrukturierungen des Berufes" beschrieb, den sie als „nationalsozialistisch modifizierte Form einer an bürgerlichen Berufen orientierten Professionalisierung" bezeichnete: Der Arbeitsbereich der Hebamme wurde auf Beratungstätigkeiten und die Meldepflicht, also eine diagnostische Tätigkeit, erweitert, ihre Ausbildung reichseinheitlich festgelegt, Fortbildungen verpflichtend. Eine rudimentäre Berufsethik wurde im RHG verankert und mit dem Tätigkeitsmonopol wurden eindeutige Vorbehaltstätigkeiten definiert. Ein weiteres wesentliches Element war die Verknüpfung der Niederlassungserlaubnis mit der Mitgliedschaft in der mittlerweile in „Reichshebammenschaft" umbenannten Berufsorganisation. In der sechsten Durchführungsverordnung zum RHG wurde 1941 eine Altersgrenze von 35 Jahren für die Ausbildung eingeführt. Diese Maßnahme sollte vor allem die Zahl der neu ausgebildeten Hebammen begrenzen, um den Wettbewerb zu entlasten. Die politische Zuverlässigkeit der Schülerin konnte überprüft werden.

    Das Gesetz sicherte jeder Frau im Deutschen Reich Hebammenhilfe während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zu. Es verpflichtete die Hebammen zur Hilfeleistung unabhängig von Zahlungsfähigkeit und Stand der Schwangeren, der Gebärenden oder Wöchnerin und deren Kind. Gleichzeitig bestimmte § 3, dass jede Schwangere oder Kreißende und auch ein hinzugezogener Arzt oder eine Ärztin eine Hebamme zur Geburt rufen musste, wobei nach § 4 nur ausgebildete Hebammen mit Niederlassungserlaubnis oder in Anstellung Geburtshilfe leisten durften. Damit war das Tätigkeitsmonopol der deutschen Hebammen gesichert, wie es heute noch existiert.

    Während die Hinzuziehungspflicht in Deutschland heute nur noch für Ärztinnen und Ärzte gilt, ist sie in Österreich auch für die Gebärende noch gültig. Zwar wurde das RHG in Österreich 1947 außer Kraft gesetzt und das österreichische Hebammengesetz von 1925 wieder für gültig erklärt. Der Paragraf zur Hinzuziehungspflicht stammte jedoch aus dem RHG, was aber bis heute nicht thematisiert wurde. Auf die weitere Entwicklung des Hebammengesetzes in der BRD geht Marion Schumann in dieser Ausgabe ein (siehe Seite 52ff.).

    Bis heute wird das RHG von zahlreichen Hebammen vor allem mit der positiv besetzten Hinzuziehungspflicht verbunden. Eine der wenigen Hebammen, die sich mit allen Aspekten des RHG kritisch auseinandergesetzt hat, war Christa Schüürmann 1997 in der DHZ: „Seitdem [1938] gelten die vorbehaltenen Tätigkeiten für die Hebamme sowie ihre Hinzuziehungspflicht bei der Geburt. Dies gilt bis heute als eine große Errungenschaft, dennoch sollte nicht vergessen werden, daß das Gesetz in seinem autoritären Charakter und in Hinblick auf das generelle Berufsverbot für jüdische Hebammen zugleich auch ein menschenverachtendes Gesetz war. (…) Die Hinzuziehungspflicht war für die Nazis ein weiteres Instrument, jede Gebärende zu kontrollieren." (Schüürmann 1997)

     

    Geburtshilfe bei Jüdinnen

     

    Nanna Conti stellte die Geburtshilfe bei Jüdinnen durch nichtjüdische Hebammen 1939 in einem Artikel zum RHG unterschwellig in Frage. Nichtsdestotrotz waren die Hebammen zur Geburtshilfe bei jüdischen Frauen verpflichtet, worauf sie auch hinwies. Es mutet absurd an, dass das RHG als ein genuin nationalsozialistisches Gesetz in den Konzentrationslagern, dem Inbegriff des Nazi-Terrors, zigtausendfach gebrochen wurde, indem jüdischen und anderweitig verfolgten Gefangenen, die dort ihre Kinder zur Welt brachten, Hebammenhilfe verweigert wurde. Das kann zum Beispiel in der Ausstellung im ehemaligen Frauen-KZ Ravensbrück nachvollzogen werden. In Gefängnissen und Zwangsarbeiterinnenlagern wurden hingegen Hebammen gerufen (Tollmien 2004; Frewer et al. 2004). Sie waren Zeuginnen und Beteiligte im Rahmen der Ausbeutung „fremdvölkischer" Frauen. Da Nanna Conti in die Vorgänge selbst der kleinsten Gliederungen der Reichshebammenschaft eingebunden war, muss sie auch von diesen Einsätzen sowie der Misshandlung der Frauen als Versuchsobjekte für die Ausbildung von Hebammen und ÄrztInnen und der Beteiligung von Hebammen an Zwangsabtreibungen bei Zwangsarbeiterinnen gewusst haben (Lisner 2006).

    Offensichtlich gab es immer wieder Hebammen, die sich der Zwangsmitgliedschaft in der Reichshebammenschaft widersetzten oder zumindest ihre Beiträge nicht entrichteten. So wurden beispielsweise die württembergischen Gesundheitsämter darauf hingewiesen, dass sie die säumigen Hebammen anhalten sollten, ausstehende Beiträge zu bezahlen und sie auf die Konsequenzen hinzuweisen hätten.

    Im Zuge der Neustrukturierung der Reichshebammenschaft infolge des RHG, ihrer Professionalisierung und der Einbettung in die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik war es an der Zeit, ein reichsweites Hebammenlehrbuch herauszugeben, zumal das alte vergriffen war. Allerdings wurde das neue Buch, das 1943 erschien, nicht völlig neu konzipiert. Benno Ottow und weitere namhafte Gynäkologen griffen auf das 1928 unter der Ägide von Sigfrid Hammerschlag erschienene preußische Lehrbuch zurück und erweiterten es um erb- und rassenbiologische sowie weltanschauliche Inhalte. Die Verdienste des ehemaligen ärztlichen Direktors der Landesfrauenklinik Berlin-Neukölln und ärztlichen Schriftleiters der Hebammenzeitung Hammerschlag um die Entwicklung des ursprünglichen Buches wurden nicht erwähnt. Hammerschlag wurde 1933 aus allen Ämtern entlassen, weil er jüdischer Herkunft war. Er überlebte im Exil.

    Theoretisch sollte jede deutsche Hebamme das neue Lehrbuch erhalten. Tatsächlich wurde ein Großteil der Auflage bei einem Bombenangriff zerstört, so dass nur einige tausend verkauft werden konnten.

     

    Der „Lebensraum" im Osten

     

    Mit dem Anschluss des Sudetenlands 1938, der Besetzung Tschechiens, der erzwungenen Rückgabe des Memellands und dem von Deutschland provozierten Kriegsbeginn 1939 wuchsen auch die Begehrlichkeiten der Reichshebammenschaft in Richtung Osten. Nanna Conti ernannte Fachschaftsleiterinnen für die eroberten Gebiete: Charlotte Kehle im Sudetenland, Greta Beyer im Memelland, Margarete Jancke für Danzig-Westpreußen, Dr. Prehn im Warthegau im besetzten Polen.

    Im November 1939 trat das RHG im Sudetenland in Kraft. Charlotte Kehle bedankte sich ausdrücklich bei Nanna Conti für ihre Unterstützung. Inwieweit das Gesetz auch für tschechische Hebammen und Schwangere galt, ist unklar. Einerseits war „Deutschblütigkeit" Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Reichshebammenschaft und die Niederlassungserlaubnis; andererseits war die Hinzuziehungspflicht das für Nanna Conti nicht verhandelbare Herzstück des Gesetzes.

    Bereits 1940 nahm Nanna Conti personelle Veränderungen vor und entsandte Charlotte Kehle in den Warthegau, während Emma Reiter die Leitung im Sudetenland übernahm. Im „Protektorat Böhmen und Mähren" vertrat Hildegard Prinzing die Reichshebammenschaft; für das „Gouvernement" im besetzten Polen war Luisa Skoda vorgesehen. Die Hauptaufgabe der Berufsorganisation in den besetzten Gebieten im Osten bestand in der Bereitstellung von Hebammen aus dem „Altreich" für die umgesiedelten Bessarabien-, Wolhynien-, Dobrudschadeutschen, für die Angehörigen der ursprünglichen deutschen Minderheiten in diesen Gebieten und die Familien der Besatzungsarmee. Da die niedergelassenen deutschen Hebammen laut Conti von der Versorgung der „Streudeutschen" nicht leben konnten, wurden sie zumindest im „Generalgouvernement" von der „NS-Volkswohlfahrt" angestellt.

    Nachdem sich 1939 auf deutschen Druck hin die Slowakei zum eigenständigen Staat erklärt hatte, streckte die Reichshebammenschaft ihre Fühler auch in den Vasallenstaat aus. Im Mai 1943 wurde in Anwesenheit Nanna Contis feierlich eine „Deutsche Hebammenschaft in der Slowakei" gegründet. Ebenso gründete Conti im September 1943 eine „Deutsche Hebammenschaft des Generalgouvernements" im besetzten Polen.

    Angeblich baten im besetzten Polen auch polnische Frauen um Betreuung durch deutsche Hebammen. Ob dies nun dem Vertrauen in die Qualifikation deutscher Hebammen entsprang oder ob man die nächste erreichbare Hebamme hinzurief, bleibt unklar. Conti sprach sich im Hebammen-Kalender 1944 dafür aus, dass die deutschen Hebammen auch bei Polinnen Geburtshilfe leisten sollten. Allerdings begründete sie ihren Vorstoß nicht mit Fürsorge für polnische Schwangere, sondern allein aus deutscher Interessenlage heraus: Die deutschen Hebammen sollten angesichts der wenigen Geburten deutscher Frauen in einigen Gegenden nicht aus der Übung kommen und außerdem den politischen Einfluss polnischer Hebammen unterbinden. Durch die Steuerung der Hebammeneinsätze vor allem in Osteuropa und der Ausbildung deutscher Hebammen für die besetzten Gebiete trug die Reichshebammenschaft unter Nanna Conti aktiv zur Kolonisation und Inbesitznahme der annektierten Länder bei. Sie waren ein wichtiger Bestandteil des Gesundheitswesens der Besatzungsmacht.

     

    Ein Vermögen für die Hebammen

     

    Im Frühling 1940 kaufte Nanna Conti im Namen der Reichshebammenschaft ein Haus mit Garten in Berlin-Südende. Conti informierte die Leiterinnen der untergeordneten Ebenen, dass das Geld hierfür ein Geschenk der NSDAP war. Die Villa wurde offiziell als „Haus der Hebammen“ bezeichnet. Die Reichshebammenschaft hatte jedoch nicht lange Freude an dem schönen Haus. In der Nacht vom 23. auf den 24. August 1943 wurde die Geschäftsstelle während eines Luftangriffs völlig zerstört.

    Das Vermögen der Reichshebammenschaft wurde 1945 zunächst vom Haupttreuhänder für NSDAP-Vermögen sichergestellt. Im Verfahren um die Rückübertragung betonten die Nachkriegsverbände, dass das Haus mit Vermögen der 1933 aufgelösten Vereinigungen gekauft worden wäre. NSDAP-Vermögen war nämlich von der Rückgabe ausgeschlossen.

    Die zuständige Kommission verteilte das Vermögen der Reichshebammenschaft auf die westdeutschen Hebammenverbände. Zwar waren die Kommissionsmitglieder davon überzeugt, dass es sich bei der Reichshebammenschaft um eine nationalsozialistische Organisation gehandelt hatte. Da aber keine Vermögensunterlagen der Reichshebammenschaft vorlagen, verfügte die Kommission die Rückübertragung aller vorhandenen Werte.

    Mit Luise Zipp und Käthe Hartmann waren seit 1952 zwei Frauen in das Verfahren involviert, die eng mit Nanna Conti zusammengearbeitet hatten und über das Geldgeschenk der NSDAP zum Kauf des Hauses informiert waren. Sie hätten die Kommission davon in Kenntnis setzen müssen. Die Rückübertragung des Verbandsvermögens beruhte also auf Täuschung.

    Das Grundstück wurde später verkauft. Käthe Hartmann schätzte, dass dem Bund Deutscher Hebammen (BDH) aus dem Erlös jährlich Zinsen von circa 3.500 Deutsche Mark zur Verfügung stehen würden. Der BDH bezog 1982 in Karlsruhe ein Haus, in dem sich bis heute die Geschäftsstelle befindet. Der Vorstand schrieb hierzu Anfang 1983: „Der BDH hat in Karlsruhe nun wieder ein eigenes Domizil (ein eigenes Haus in Berlin war 1944 den Flammen zum Opfer gefallen, und das Grundstück war 1959 verkauft worden) und einen festen Wohnsitz.“ Damit setzte sich der BDH eindeutig in direkte Nachfolge der Reichshebammenschaft, ohne diese zu nennen oder die Frage nach „kontaminiertem Geld“ zu stellen. Inwieweit der BDH vom Geschenk der NSDAP bis heute profitiert, konnte ich nicht klären.

    Ausführliche Details finden sich in Anja Peters Dissertation.

     

    Flucht gen Westen und letzte Lebensjahre

     

    Im März 1945 gab es Pläne, in der Heil- und Pflegeanstalt Mühlhausen in Thüringen eine Ausweichstelle der Reichshebammenschaft einzurichten. Dazu kam es aber nicht mehr.

    Nanna Conti beschrieb die Umstände ihrer Flucht 1946 umfänglich in einem Brief: „Mein Sohn [Leonardo] und ich hatten nie die Absicht zu fliehen. Wir wollten in unseren Ämtern ausharren und – wenn nötig – sterben. Am 19.4., wie ich glaube, Geheimbefehl von Himmler. Ob dieser sich nur auf meinen Sohn bezog, weiß ich nicht; ich möchte fast annehmen, daß wir alle fort sollten. Wenn ich auch fort sollte, so war dies wegen einer russischen Rundfunksendung, wohl März 45. Ich sollte schuld daran sein, daß russische Arbeiterinnen 3 Tage nach der Geburt schon wieder arbeiten mußten. (…) Also, im R.d.I. [Reichsministerium des Innern] sah man auch mich für sehr gefährdet an. Einer der Herren sagte mir damals: ‚Frau Conti, das ist Ihr Todesurteil. Es fragt sich nur, ob man es vollstrecken kann.‘ Am 20. April 45, Hitlers Geburtstag, war ich in Mellensee, wo ich das Häuschen hatte. (…) Gegen Abend, den 20.4., Anruf meines Sohnes, ich solle am 21.4. früh ins R.d.I. zu einer Besprechung kommen, meine Tochter mit 4 Kindern zu ihm in die Privatwohnung. (…) Am 20.4. war es in Mellensee schon sehr schlimm, Tiefflieger den ganzen Tag, die auch auf unsere Kinder im Garten schossen; (…) kein elektrischer Strom, kein Rundfunk mehr. Meine Tochter konnte kaum das Telephon erreichen vor Bomben und Tieffliegern. Am nächsten Morgen, 21.4., keinerlei Verbindung mehr, Panzersperren geschlossen, die Bevölkerung verzweifelt hin- und herflutend, Russen auf allen Anmarschstraßen, auch von Süden und Westen (unter Umgehung des Spreewaldes), wo man Amerikaner erwartet hatte. Telephonanruf meiner Tochter bei meinem Sohn glückte nicht, beim R.d.I. glückte er. 1 1/2 Stunden später kam mein Sohn persönlich mit kleinem Viersitzer – auf allerhand Umwegen und durch Sumpf – und holte uns heraus, 8 Personen, einer auf dem Schoß des anderen (die kleine russische Hausangestellte, deren Bruder auf deutscher Seite kämpfte, nahmen wir mit) und, wie Sie sich denken können, nur wenig Gepäck. (…) Ab Mittag hatten wir uns bei meinem Sohn bereitzuhalten für weitere Flucht. Der uns geschickte Wehrmachtswagen kam aber erst abends. (…) Nachts durch eine Lücke der russischen Einschließung (also 21.-22.4.) in Richtung Oranienburg heraus, rechts und links schon brennende Stadtteile! 2 Tage in Hohenlychen, 2 in Alt Rehse, immer die Russen und die Schlachten hinter uns! (…) Eine Nacht im Freien bei Güstrow! 28.4. hier gelandet! Die Schwiegertochter blieb in Segeberg, wir anderen kamen nach Stocksee, 20 km von Segeberg." (Brief an den französischen Arzt Le Lorier vom 26.6.1946, Privatarchiv der Verfasserin)

    In einem Brief schrieb sie 1950 über Himmlers Befehl zur Flucht: „(…) Mein Sohn bekam in letzter Stunde Befehl von Himmler als Innen-Minister, noch eine Zweigstelle des R.M.I. in Schlesw.-Holst. einzurichten. Niemand der Familie u. Sippe durfte in u. um Berlin bleiben. Himmler wußte, daß die Russen uns nach dem Leben trachteten. Er war pers. treu und anständig." (Brief an Frau Zwirner vom 20.4.1950) Heute lässt sich nicht nachvollziehen, ob es tatsächlich einen sowjetischen Befehl zur Liquidierung von Leonardo und Nanna Conti gab oder dieser Fluchtbefehl Himmlers auf der allgemeinen Gräuelpropaganda über die sowjetischen Truppen beruhte.

     

    Keine Entnazifizierung

     

    Nanna Conti war ab dem 27. April 1945 in Stocksee gemeldet. Anscheinend gab es von Anfang an Konflikte mit der vermietenden Familie, die Conti wahrscheinlich nicht freiwillig aufnahm und angesichts der heranrückenden Alliierten vielleicht auch wenig begeistert war, eine prominente Nationalsozialistin zu beherbergen. So beklagte sich Conti 1946, dass sie „eine ganz abscheuliche Wirtin" habe und nie Rundfunk hören könne. Ihr Urteil über die Menschen um sie herum war insgesamt harsch und von geradezu rassistischer Herablassung: „Hier ist eine seltsame, uns innerlich völlig fremde Bevölkerung. Ich sagte immer: ‚Sie haben eine andere Seele.‘ Ein Flüchtlingswort sagt: ‚Hohl der Kopf, das Herz von Stein – das ist Holstein!‘ (Nordische Edelrasse! Jeder Franzose oder Belgier steht mir näher." (Brief an den französischen Arzt Le Lorier vom 26.6.1946, Privatarchiv der Verfasserin)

    Gegen Ende der 1940er Jahre verschlechterte sich Nanna Contis Gesundheitszustand zunehmend. Nach einem Schlaganfall lebte sie ab Juni 1951 bei ihrer Schwiegertochter in Bielefeld. Sie starb am 30. Dezember 1951. Nanna Conti wurde auf dem Sennefriedhof in Bielefeld beerdigt. Das Grab existiert heute nicht mehr.

    Es kann nicht eindeutig festgestellt werden, wie stark Nanna Conti sich ab Mai 1945 in der Reorganisation des Hebammenverbandes engagierte. Offensichtlich gab es die Auffassung – die Conti zumindest eingeschränkt teilte –, dass sie nach wie vor im Amt wäre. Wie Marion Schumann 2006 erstmals darstellte, wurden nach dem Krieg massive Vorwürfe wegen Unterschlagung gegen Conti erhoben. Trotzdem wurde offensichtlich nie gegen Nanna Conti ermittelt. Sie musste sich wahrscheinlich auch nie einem Entnazifizierungsverfahren unterziehen.

     

    Verklärung und Kritik

     

    Zu Jahresbeginn 1952 erschien in der im Elwin Staude Verlag neugegründeten Deutschen Hebammen Zeitschrift (DHZ) ein erster Nachruf von Schriftleitung und Verlag: „Nach langem schweren Leiden ist Frau Nanna Conti am 30.12.1951 im Hause ihrer Schwiegertochter in Bielefeld im 71. Lebensjahr durch den Tod erlöst worden.

    Frau Conti war von 1933 bis 1945 Leiterin der Gesamtorganisation der Deutschen Hebammen (…) und zugleich Schriftleiterin der Fachzeitschrift ‘Die Deutsche Hebamme‘.

    Die Gerechtigkeit verlangt anzuerkennen, daß Frau Conti in der Zeit ihres Wirkens sich in erster Linie und mit ihrer ganzen Kraft dafür eingesetzt hat, ihrem geliebten Berufsstand die Anerkennung und das Ansehen zu verschaffen, die er aufgrund seiner Leistungen für Mutter und Kind verdient.

    In der Nachkriegszeit hat es nicht an Anschuldigungen und Verdächtigungen gefehlt. Wer aber diese aufrechte und in ihren Zielen hochherzige Frau genau gekannt hat, wird wissen, daß sie niemals Unrecht getan oder geduldet hat und ihr das Wohl der Hebammen über alles ging.

    Mit ihr ist eine Frau von großem Wissen und Können dahingegangen, der auch Andersdenkende eine achtungsvolle Erinnerung bewahren werden." (Schriftleitung und Verlag, DHZ 1952)

    In Deutschland setzte allmählich eine Amnesie ein. Bis Mitte der 1970er Jahre war ein Großteil der ehemaligen „Führerinnen", die teilweise in der BRD als Landes- und Bundesvorsitzende des Bundes Deutscher Hebammen (BDH) – heute Deutscher Hebammenverband (DHV) – amtierten, verstorben oder im Ruhestand. Im Frühling 1974 beging der BDH sein 25-jähriges Jubiläum. Zwar wurde das RHG nach wie vor als wesentlicher Bezugspunkt berufspolitischen Handelns genannt; gleichzeitig wurde 1949 nun als Stunde Null definiert. Somit war es nicht notwendig, die NS-Vergangenheit der Aufbauheldinnen Elfriede Krauß, Luise Zipp und Käthe Hartmann und auch nicht der RHG-Ikone Nanna Conti zu thematisieren. Eine kritische Sicht auf Nanna Conti, ihre Mitarbeiterinnen und die Berufsorganisation wurde vermieden. In der Erinnerung der deutschen Hebammen blieb bis Mitte der 2000er Jahre – so sie ihre Geschichte überhaupt hinterfragten – lediglich die Persönlichkeit Nanna Contis und das mit ihr verbundene RHG präsent.

     

    Unter dem Hakenkreuz

     

    War Nanna Conti nun in erster Linie Hebamme oder Nationalsozialistin? Muss man zuerst ihr engagiertes, wenn auch in Bezug auf die nachhaltige Absicherung der Hebammen nur bedingt erfolgreiches Eintreten für die Hebammen betrachten oder die Tatsache, dass sie eine unbelehrbare Anhängerin einer menschenverachtenden Doktrin war? Nanna Conti beantwortete diese Frage selbst eindeutig anlässlich der Wiedereingliederung des Saarlands in das Deutsche Reich 1935: „Die Berufsschwestern der Saar werden beglückend empfinden, daß die Fachschaft Hebammen heute nicht eine Interessenvertretung im früheren Sinne ist, sondern daß die Hebammen als begeisterte Künderinnen des Dritten Reiches heute zunächst zu fragen haben: ‚Mein Volk, mein Staat, was gebe ich dir?‘, dann erst: ‚Mein Volk, mein Staat, was ist für den Stand notwendig?‘" (Conti 1935:171)

    Was immer Nanna Conti von 1933 bis 1945 leistete – die umfassende Repräsentanz im In- und Ausland, den erfolgreichen internationalen Kongress in Berlin, die Vertretung der deutschen Hebammen in der IMU, die Arbeit am und für das RHG – stand unter dem Zeichen des Hakenkreuzes. Ihre Biografie kann somit nur als die einer nationalsozialistischen Funktionsträgerin geschrieben und gelesen werden.

    Rubrik: Ausgabe 04/2016

    Erscheinungsdatum: 30.12.2020

    Hinweis

    Dieser Text ist eine stark gekürzte Zusammenfassung der Dissertation der Autorin unter dem Titel: „Nanna Conti (1881-1951) – Eine Biographie der Reichshebammenführerin" aus dem Jahr 2014. Die vollständige Fassung einschließlich der Kapitel über die Eingliederung der österreichischen Hebammen, des Verhältnisses zum „Lebensborn" und die jüdischen Hebammen im Nationalsozialismus ist zu finden unter http://ub-ed.ub.uni-greifswald.de/opus/frontdoor.php?source_opus=1948.

    Literatur

    Anonym [wahrsch. Thomas, Alma]: Frau Nanna Conti sechzig Jahre alt. Die Deutsche Hebamme 1941. 56. Jg. 103–104

    Anonym: Die Haupttagung der Reichsfachschaft Deutscher Hebammen am 10. Juni 1936 in Berlin. Zeitschrift der Reichsfachschaft Deutscher Hebammen 1936. 4. Jg. (alte Folge 51. Jg.) 346–355

    Archives Nationales: Brief von Nanna Conti an Herrn Oberstabsarzt Dr. Holm vom 1. Mai 1942. Paris

    Conti N: Mißbildungen bei Neugeborenen in jüdischen Familien. Zeitschrift der Reichsfachschaft Deutscher Hebammen 1934. 2. Jg. (alte Folge 49. Jg.). 534

    Conti N: o. T. [zur Wiedereingliederung des Saarlands]. Zeitschrift der Reichsfachschaft Deutscher Hebammen 1935. 3. Jg. (alte Folge 50. Jg.). 171

    Frewer A, Schmidt U, Wolters C: Hilfskräfte, Hausschwangere, Untersuchungsobjekte. Der Umgang mit Zwangsarbeiterinnen in der Universitätsfrauenklinik Göttingen. In: Frewer A & Siedbürger G (Hrsg.): Medizin und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Einsatz und Behandlung...

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