Nützliche Killersubstanz: HAMLET

Zwei Stoffe in der Muttermilch verschmelzen im Magen des Säuglings zu einem Stoffkomplex und werden dabei zur Waffe: HAMLET kämpft gegen Krebszellen und macht Bakterien, die gegen fast alle Antibiotika resistent sind, sogenannte Superbugs, wieder angreifbar. HAMLET wird intensiv erforscht, um es pharmazeutisch in vielfältiger Weise zu nutzen. Birgit Heimbach
  • Prinz Hamlet aus der Tragödie von William Shakespeare wurde in Dänemark geboren und kämpfte im tintenschwarzen Wams gegen ein Meer von Plagen. Und in einem Labor in Schweden wurde erstmals HAMLET entdeckt: ein Protein, das seine Entdecker als kämpferischen »Schwarzarbeiter« bezeichnen: Human Alpha-lactalbumin Made LEthal to Tumor cells.

  • Die Professorin für Klinische Immunologie Catharina Svanborg und ihr Team an der Lund Universität in Schweden untersuchten vor rund 20 Jahren die antibakteriellen Eigenschaften von Muttermilch. Gesucht wurde nach Molekülen, die die Adhäsion von Streptococcus pneumoniae an Epithelzellen der Atemwege verhindern. 1995 fügten sie Muttermilch, deren pH-Wert bei Experimenten dafür gesenkt wurde, nicht nur Bakterien, sondern auch Kultur aus Lungengewebe mit Tumorzellen hinzu. Der damalige Doktorand und heutige Professor Anders Håkansson bemerkte, dass in der Lösung erstaunlicherweise nicht nur Bakterien daran gehindert wurden, sich an die Zellen zu binden und schließlich abgetötet wurden, sondern auch Krebszellen. Die chemische Analyse des Stoffes ergab: Die Sub­stanz war zusammengesetzt aus einem Protein und einer Fettsäure, die beide in der Muttermilch vorkommen: Alpha-Lactalbumin und Ölsäure.

     

    Zwei Stoffe im Zusammenspiel

     

    Das Alpha-Lactalbumin stellt mit 20 bis 30 % die größte Fraktion der Haupteiweiße der Muttermilch dar. Es ist hauptverantwortlich in einem Enzymkomplex, der abhängig vom Prolaktin-Wert die Synthese von Milchzucker (Lactose) reguliert. Daher wird es als Zuckerprotein (Glykoprotein) bezeichnet. Und weil zu seinem Komplex ein Calcium-Ion gehört, gilt es auch als sogenanntes Metalloprotein. Die Ölsäure (Oleinsäure) ist in der Muttermilch der häufigste Vertreter der einfach ungesättigten Fettsäuren, eine Omega-9-Fettsäure. Die Verbindung der beiden Stoffe, die Svanborg bei den Versuchen fand, befindet sich offensichtlich noch nicht in der aus der Brust strömenden Milch, sondern wird erst im sauren Milieu des Babymagens »gemacht«, Enzyme aus der Milch helfen dabei. Svanborg meint, dass die Substanz den Sinn haben könnte, das Mutationsrisiko des schnell wachsenden Säuglingsbauches zu senken und somit Krebsbildungen im Frühstadium zu unterbrechen. Tatsächlich ist offenbar bei gestillten Babys das Risiko für einige Krebserkrankungen niedriger. Bereits in den 1980er Jahren hätten Wissenschaftler der amerikanischen Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC) entdeckt, dass Kinder, die gestillt werden, deutlich seltener an Krebs erkrankten als Kinder, die mit Babynahrung oder anderen unnatürlichen Nahrungsmitteln gefüttert wurden. Svanborg und ihr Team interessierten sich besonders für die Wirkung auf Krebszellen. Die ebenfalls beteiligte Biologin Prof. Sara Linse erfand daraufhin den Namen HAMLET: Human Alpha-lactalbumin Made LEthal to Tumor cells. HAMLET bewirkt den programmierten Zelltod (Apoptose) von Tumorzellen. Ausdifferenzierte gesunde Zellen werden dagegen nicht attackiert.

    Håkansson: »Alpha-Lactalbumin ist gewissermaßen ein Protein mit Nebenbeschäftigung: Neben seiner Tätigkeit als Lactose-Produzent reguliert es im Darm des Kindes die bakterielle Mikroflora und das Zellwachstum.«

     

    Verwandlung zur Waffe

     

    Der niedrige pH-Wert im Magen bewirkt, dass Alpha-Lactalbumin seine Molekularstruktur ändert: Es entfaltet sich partiell, entlässt das Calcium-Ion, wo es sich nun an die von den Milchtriglyceriden gelöste Ölsäure stabilisierend anbindet. Dadurch kann es als HAMLET in die durchlässig gemachte Zellmembran von Krebszellen eindringen und den Ionenfluss über die Membran beeinflussen. Anschließend gelangt der Komplex in die Zelle, wo es etwa mit den Mitochondrien interagiert. Im Zellkern verändert es die DNA. All diese Maßnahmen führen zum Zelltod in der Krebszelle.

    HAMLET erwies sich als extrem wirksam gegenüber fast jeder Krebszellenart, die die schwedischen WissenschaftlerInnen testeten – und das waren über 40 verschiedene. Svanborg war so überzeugt vom therapeutischen Effekt, dass sie 35 Patente für die Produktion und Anwendung von HAMLET anmeldete, sowie für weitere Studien eine Firma gründete, in der der Stoff in größeren Mengen künstlich im Labor hergestellt wird: unter anderem aus dem Milchzucker von Kuhmilch und der Ölsäure bestimmter Pflanzen. In der ersten Form hieß das Stoffgemisch zunächst all-ALA und nun in zweiter Generation Alpha1H, was eine kleinere Version von HAMLET ist, wobei nur die Hälfte eines Proteins mit der Ölsäure zusammengebracht wird. Derzeit werden Studien bei 20 PatientInnen mit Blasenkrebs durchgeführt, denen das Mittel in die Blase injiziert wurde. Getriggert wurde dabei die Ausscheidung von Tumorfragmenten in den Urin.

     

    MRSA und Superbugs

     

    Dass HAMLET Bakterien zerstört, fesselt Håkansson weiterhin. Er hat sich auf diesen Zweig spezialisiert und ist inzwischen in Lund selbst Professor für Experimental Infection Medicine. Die Funktionsweise von HAMLET ist teils ähnlich wie bei den Tumorzellen, erklärt er: »Es bindet sich an Bakterien und initiiert eine Kette chemischer Reaktionen, die die natürliche Fähigkeit des Immunsystems aufgreifen, Bakterienzellen zur Selbstzerstörung zu veranlassen, etwa durch einen Zustrom von Calcium.« Gestoppt werde so auch der Ionenfluss in und aus den Zellen und es würden zwei Enzyme blockiert, die Bakterienzellen verwenden, um Energie zu erhalten. Diese wären so geschwächt, dass sie zerreißen. Die Mechanismen in Krebszellen sind noch komplexer.

    Håkansson konnte in seinem Labor zeigen, dass HAMLET auch multiresistente Bakterien wieder empfindlich für inzwischen wirkungslose Antibiotika machen kann, selbst sogenannte Superbugs, die gegen die meisten Antibiotika resistent sind. Håkansson: »Das Brustmilchprotein ist damit einer der ersten Stoffe, bei denen diese Wirkung als gesichert gilt, etwa bei dem Tuberkuloseerreger und dem Pneumokokken-Bakterium.« Auch der Penicillin-resistente Streptococcus pneumoniae und der Methicillin-resistente Staphylococcus aureus (MRSA) wurden offenbar wieder empfindlich gegenüber Antibiotika, so Håkansson.

    Im Gegensatz zu synthetischen Drogen hat der Stoff keine toxischen Nebenwirkungen. Bakterien, die mit HAMLET behandelt wurden, scheinen auch über mehrere Generationen hinweg nicht in der Lage, Resistenzen zu entwickeln und sterben in großer Zahl. In Studien wurden Tiere mit Erregern infiziert und dann mit HAMLET plus Antibiotika behandelt. Wenn die Ergebnisse so positiv wie erwartet sind, rechnet Håkansson damit, dass schon in drei bis vier Jahren die ersten Menschen damit behandelt werden können. Håkansson: »Ob die Effekte auf Resistenzen vorhanden sind, wenn ein Baby gestillt wird, ist noch nicht ganz gesichert. Wir wissen, dass die Komponenten für HAMLET vorhanden sind und ebenso die Bedingungen, so ist es sehr wahrscheinlich, dass Stillen hilft, die Anzahl resistenter Organismen im Darm und möglicherweise in der Lunge zu limitieren.«

    Rubrik: Ausgabe 02/2020

    Erscheinungsdatum: 24.01.2020

    Literatur

    Alamiri F et al.: HAMLET, a protein complex from human milk has bactericidal activity and enhances the activity of antibiotics against pathogenic Streptococci. Antimicrobial Agents and Chemotherapy 2019

    Håkansson AP et al.: Apoptosis-like Death in Bacteria induced by HAMLET, a human Milk Lipid-Protein Complex. PLoS One 2011. 6(3):e17717

    Ho JCS, Nadeem A, Svanborg C: HAMLET – A Protein-Lipid Complex with broad tumoricidal Activity. Biochem Biophys Res Commun 2017. Jan 15;482(3):454–458. doi: 10.1016/j.bbrc.2016.10.092

    Marks LR, Clementi EA, Håkansson AP: Sensitization of Staphylococcus aureus to Methicillin and other Antibiotics in Vitro and in Vivo in the Presence of HAMLET. PLOS ONE 2013. 8 (5): e63158. doi:10.1371/journal.pone.0063158. PMC 3641093. PMID 23650551

    Mossberg AK, Hou Y, Svensson M, Holmqvist B, Svanborg C: HAMLET treatment delays Bladder Cancer Development. J. Urol 2010. 183 (4): 1590–7. doi:10.1016/j.juro.2009.12.008. PMID 20172551

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