Angeborene Stoffwechselstörungen beim Kind

(Teil-)Stillen ist generell möglich

Gerade Kinder mit angeborenen Stoffwechselstörungen profitieren von den Eigenschaften der Muttermilch und sollten so altersentsprechend wie möglich ernährt werden. Wie für alle Säuglinge gilt auch für diese Kinder die Empfehlung der WHO, für ein optimales Gedeihen in den ersten sechs Lebensmonaten mit Muttermilch ernährt zu werden. Wie kann Stillen altersentsprechend eingesetzt und unterstützt werden? Univ.-Prof. Dr. Daniela Karall | PD Dr. Dipl. oec. troph. Sabine Scholl-Bürgi

Alle Kinder mit angeborenen Stoffwechselstörungen können gestillt beziehungsweise zumindest teilweise mit Muttermilch ernährt werden. Über die Menge an Muttermilch, die gegeben werden kann, entscheidet die zugrundeliegende Stoffwechselstörung. Einzige Ausnahme ist die klassische Galaktosämie – ein Mangel beim Enzym Galaktose-Uridyl-Transferase –, bei der Stillen beziehungsweise die Ernährung mit Muttermilch nicht möglich ist.

Aktuell sind etwas mehr als 1.600 verschiedene angeborene Stoffwechselstörungen bekannt (Ferreira, 2020). Immer noch weitere werden entdeckt. Je nach Land werden bis zu etwa 30 Stoffwechselstörungen in Neugeborenenscreening-Programmen erfasst (siehe beispielsweise: > www.neugeborenenscreening.at).

Angeborene Stoffwechselstörungen zählen im Allgemeinen zu den seltenen Erkrankungen (Inzidenz < 1:2.000), als Gruppe sind sie jedoch nicht so selten (Ramoser, 2021). Kumulativ gesehen ist etwa jedes 500. Neugeborene von solch einem Defekt betroffen, so dass eine nicht unerhebliche Zahl von Menschen davon unmittelbar betroffen ist. Das bedeutet beispielsweise für Österreich mit etwa 80.000 Geburten pro Jahr eine Gruppe von etwa 150 Kindern jährlich.

Definition

 

Angeborene Stoffwechselstörungen

 

Als angeborene Stoffwechselstörungen werden erbliche Störungen in der Biosynthese oder im Abbau von Substanzen innerhalb von Stoffwechselwegen zusammengefasst. Es handelt sich dabei um Krankheiten, die durch den Verlust oder anderweitige Störungen von Enzymen und Kofaktoren – und auch Transportproteinen – verursacht werden. In der Regel sind sie monogen erblich, also auf Mutationen in einzelnen Genen zurückzuführen. Symptome entstehen typischerweise durch den Anstau von nicht verstoffwechselten Substraten beziehungsweise toxischen Metaboliten oder dem Mangel eines Produktes (siehe Abbildung 1). Die klinischen Effekte sind variabel.

Nicht zu den angeborenen Stoffwechselstörungen im engeren Sinne gehören Störungen von Strukturproteinen, Membrankanälen oder anderen Membranproteinen (außer bei primärer Funktion in einem Stoffwechselweg), primäre Störungen der intra- oder interzellulären Übermittlung von Signalen zur Zell-zu-Zell-Kommunikation, Störungen von Transkriptionsfaktoren (dem Ablesen der DNA), sowie primäre Endokrinopathien beziehungsweise Störungen der Hormonbiosynthese.

 

Blockaden im Stoffwechsel

 

Eine angeborene Stoffwechselstörung liegt vor, wenn im Aufbau, Umbau oder Abbau von Kohlenhydraten, Eiweißen oder Fetten einer der benötigten Schritte (Enzyme) nicht angelegt ist. Der Stoffwechsel ist also an einer Stelle »blockiert« (Stoffwechselblock = fehlendes Enzym).

Es kommt im Wesentlichen zu drei Folgen (siehe Abbildung 1):

  1. Das Substrat vor dem Stoffwechselblock staut sich an.
  2. Das Produkt hinter dem Stoffwechselblock ist nicht in ausreichender Menge vorhanden.
  3. Das angestaute Substrat wird alternativ in andere (evtl. toxische) Substanzen umgewandelt.

 

Klinische Bilder

 

Um in der Vielfalt der angeborenen Stoffwechseldefekte – der menschliche Organismus hat etwa 22.000 Gene – in Bezug auf die Klinik von Patient:innen einen Überblick zu bekommen, bewährt es sich, die Patient:innen in die folgenden klinischen Bilder einzuteilen (Sperl, 1992).

»Neurodegeneration und Speicherung«

Erkrankungen aus diesem Formenkreis betreffen meist den Stoffwechsel großer, biochemisch nicht aktiver Moleküle (Sperl, 1992). Kinder mit Diagnosen aus diesem Formenkreis können ad libitum gestillt beziehungsweise mit Muttermilch ernährt werden, da diese Erkrankungen keiner Ernährungstherapie (»Diät«) bedürfen. Meist gibt es keine ursächliche Therapie, so dass sie meist nur symptomatisch begleitet werden können.

In einigen wenigen Fällen stehen Medikamente oder eine Enzymersatztherapie zur Verfügung. Die Herausforderungen sind bei diesen Kindern oft vorliegende neurologische Symptome, die eventuell das Stillen (Saugen, Schlucken) erschweren. Beim Stillen muss bei hypotonen Kindern darauf geachtet werden, dass neben einer guten Stillposition der Unterkiefer gestützt wird und der Mundinnenraum durch leichten Druck auf die Wangen verkleinert wird (siehe Abbildung 2). Bei Kindern mit muskulärer Hypertonie soll ebenfalls auf eine gute Stillposition geachtet werden, mit Vermeiden von Druck auf den Hinterkopf, weil das zu einer Überstreckung führen kann. Geeignet kann Stillen im Hoppe-Reiter-Sitz sein (siehe Abbildung 3).

 

 

Abbildung 2: DanCer Hold: Diese besondere Stillposition wurde von Sarah Coulter Danner, Direktorin der Lactation Clinic in Cleveland, zusammen mit dem Pädiater Prof. Edward R. Cerutti entwickelt.

Entnommen aus: »Breastfeeding and Human Lactation«, © Jan Riordan (2014)

 

 

 

Abbildung 3: Skizze Hoppe-Reiter-Sitz: Das Stillen in aufrechter Position ist als Unter­stützung für Säuglinge mit einer muskulären Hypertonie gedacht. Durch das Vermeiden des Haltens am Hinterkopf des Säuglings vermeidet man die reflektorisch Überstreckung und durch etwas Abstand kann er besser andocken und die Brust auch halten und entleeren.

Abbildung: © Daniela Karall

 

»Energiedefizienz und Intoxikation«

Erkrankungen aus diesem Formenkreis betreffen meist den Stoffwechsel kleiner, biochemisch aktiver Moleküle (Sperl, 1992). Bei Kindern mit Diagnosen aus diesem Formenkreis ist oft eine Ernährungstherapie (»Diät«) Teil der Therapie, daher können sie nicht zu 100 % mit Muttermilch ernährt werden.

Teilstillen/teilweise Ernährung mit Muttermilch ist möglich und jedenfalls vorteilhaft, so dass sie unbedingt unterstützt und angeboten werden sollte. So wie gesunde Neugeborene sollten sie zehn bis zwölf Mahlzeiten in 24 Stunden erhalten. Die notwendige Spezialformula kann in unterschiedlichen Regimes gefüttert werden, ideal ist eine Zufütterung an der Brust, also beispielsweise über Brusternährungsset (BES/Guoth-Gumberger, 2014). Ziel ist es, den Anteil an Muttermilch so hoch wie möglich zu halten und dabei, wie erforderlich, zu adaptieren. Da diese Erkrankungen bei guter Therapie meist keine oder wenige neurologische Symptome zeigen, können diese Kinder normal (teil-)gestillt werden.

Bei Kindern mit neurologischen Auffälligkeiten kann die Stillposition unterstützt werden; mit dem DanCer Hold bei muskulärer Hypotonie und mit Stillen in Hoppe-Reiter-Sitz bei muskulärer Hypertonie (siehe Abbildungen 2. und 3).

 

Von der Planung in die Praxis

 

Variationen der praktischen Umsetzung erarbeiteter Ernährungspläne, die Stillen/Ernährung mit Muttermilch und Zufütterung einer Spezialformula kombinieren:

  • Stillen nach Verlangen ohne Zusätze im Wechsel mit der entsprechenden Formulanahrung (flaschengefüttert)
  • Von Vorstufen freie Formulanahrung per Flasche vor manchen Stillmahlzeiten mit anschließendem freiem Stillen
  • Stillen mit Brusternährungsset mit von Vorstufen freier Formulanahrung (Vorteil: Zufütterung erfolgt an der Brust, daher zunehmend bevorzugte Methode)
  • Füttern mit abgepumpter Muttermilch, der die anderen notwendigen Supplemente beigemengt werden.

 

 

Fallgeschichte: Patientin mit Propionazidämie

 

In diesem Fall handelt es sich um ein Beispiel für Erkrankungen aus dem klinischen Bild-Paar »Energiedefizienz –Intoxikation«.

C. war als erstes Kind von gesunden Eltern ein zunächst unauffälliges Neugeborenes. Nach einigen Lebenstagen trank sie zunehmend schlechter und reagierte nicht mehr gut. Sie wurde im Alter von vier Tagen mit einer Bewusstseinsstörung und einem beginnenden Koma in die Neugeborenenintensivstation aufgenommen. Spezialisierte Stoffwechselanalysen zeigten, dass C. aufgrund einer genetischen Veränderung bestimmte Säuren nicht richtig abbauen kann, und es wurde die Diagnose Propionazidämie gestellt (u.a. Abbaustörung der Aminosäuren Valin, Isoleucin, Methionin und Threonin).

Die eiweißdefinierte Ernährungstherapie wurde unmittelbar begonnen. Die Vorgaben waren folgendermaßen: 1 g natürliches Eiweiß pro kg Körpergewicht (in Form von Muttermilch), 0,8 g synthetisches Eiweiß in Form einer Formulanahrung, die frei von Valin, Isoleucin, Methionin und Threonin ist, pro kg Körpergewicht, altersentsprechende Flüssigkeitszufuhr, 100 kcal pro kg Körpergewicht. Die Vorgaben blieben im Wesentlichen gleich, nur die Menge wurde dem jeweiligen Gewicht angepasst. Mit dieser »Spezialdiät« (= eiweißdefinierten Ernährung), die das ganze Leben eingehalten werden muss, können Vergiftungserscheinungen verringert oder vermieden werden. In akuten Situationen, beispielsweise im Rahmen von Infekten, ist bei der nun 14-jährigen immer wieder eine intensive Behandlung in der Klinik nötig.

 

 

Abbildung 4: Patientin mit Propionazidämie im Alter von 13 Jahren

Foto: © Daniela Karall

 

 

Therapie und Stillhilfen

 

Bei etwa der Hälfte der Patient:innen mit angeborenen Stoffwechselstörungen erfolgt die Diagnose im Neugeborenenalter. Bei den Kindern mit angeborenen Stoffwechselstörungen, die im Neugeborenenscreening auffallen (siehe www.neugeborenenscreening.at), kann und wird – wenn es die Stoffwechselstörung erfordert – unmittelbar die Ernährungstherapie (»Diät«) begonnen.

Im ersten Schritt wird gemäß der vorliegenden endgültigen Diagnose ermittelt, ob Muttermilch-Ernährung ad libitum möglich ist. Ist das der Fall, wird die Mutter entsprechend angeleitet und unterstützt. Wenn aufgrund der vorliegenden Stoffwechselstörung keine »Diät« erforderlich ist, kann das Neugeborene altersentsprechend ernährt und die Mutter im Stillen entsprechend angeleitet werden – wie bei gesunden Neugeborenen auch. Wenn aufgrund der vorliegenden Stoffwechselstörung eine »Diät« erforderlich ist, kann die Mutter nicht ausschließlich stillen. Sie sollte dann in den Möglichkeiten des Teilstillens mit Zufütterung angeleitet werden. Wichtig ist auch, dass sie im Pumpmanagement gut angeleitet wird, um eine gute Milchbildung zu erhalten.

Liegt eine Stoffwechselstörung vor, bei der eine Ernährungstherapie erforderlich ist, wird mit den Spezialist:innen für angeborene Stoffwechselstörungen ermittelt, in welcher Form diese erfolgen kann. Aus der Kenntnis der Zusammensetzung der Nährstoffträger in Muttermilch kann ermittelt werden, wie viel Menge das Neugeborene und Baby stillen kann und wie viel Menge an vorstufenfreier Nahrung zugefüttert werden soll.

 

Praktische Beispiele

 

Neugeborenes mit Phenylketonurie (PKU)

Vorgabe ist, die Aminosäure Phenylalanin in der Menge so zuzuführen, dass die Plasma-Phenylalanin-Konzentration im Bereich von 2–6 mg/dl eingestellt ist. Der Phenylalanin-Bedarf ist im Neugeborenenalter etwa 70 mg Phenylalanin pro kg Körpergewicht. Bei 3,5 kg Geburtsgewicht also 3,5 kg x 70 mg Phenylalanin = 245 mg Phenylalanin pro Tag. Muttermilch enthält 45 mg Phenylalanin pro 100 ml, also sind 245 mg Phenylalanin in etwa 540 ml Muttermilch enthalten. Diese Menge entspricht etwa zwei Drittel der Nahrungsmenge eines Neugeborenen, später etwa der Hälfte. Die restliche Menge wird als vorstufenfreie – im Fall der Phenylketonurie frei von Phenylalanin – Formula gegeben. Praktisch gesehen können Neugeborene mit PKU etwa zu zwei Drittel frei gestillt werden und erhalten das restliche Drittel der Nahrung in Form einer phenylalaninfreien Formulanahrung.

Da aufgrund der vorliegenden PKU die Mutter nicht ausschließlich stillen kann, muss sie in den Möglichkeiten des Teilstillens mit Zufütterung angeleitet werden (siehe Kasten). Wichtig ist auch, dass sie im Pumpmanagement gut angeleitet wird, um eine gute Milchbildung zu erhalten.

Neugeborenes mit Harnstoffzyklus-Defekt

Vorgabe ist, die Zufuhr von Eiweiß so zu bemessen, dass kein »Überschuss-Eiweiß« entsteht, das im Harnstoffzyklus entgiftet werden müsste, da dieser ja nicht funktioniert und daher toxisches Ammoniak entstehen würde. Der Bedarf an Eiweiß ist im Neugeborenenalter etwa 1,8 g pro kg Körpergewicht. Bei 3,5 kg Geburtsgewicht also 3,5 kg x 1,8 g Eiweiß = 6,3 g Eiweiß pro Tag. Muttermilch enthält 1 g Eiweiß pro 100 ml, also sind 6,3 g Eiweiß in etwa 630 ml Muttermilch enthalten. Diese Menge entspricht etwas mehr als zwei Drittel der Nahrungsmenge eines Neugeborenen, später etwas mehr als der Hälfte. Die fehlende Menge wird als Formula gegeben, die kein Eiweiß, sondern maximal essenzielle Aminosäuren enthält. Praktisch gesehen können Neugeborene mit Harnstoffzyklusdefekten – sofern sie klinisch und metabolisch stabil sind – etwa zu zwei Drittel frei gestillt werden und erhalten das restliche Drittel der Nahrung in Form einer proteinfreien Formula. Da aufgrund des vorliegenden Harnstoffzyklusdefektes die Mutter nicht ausschließlich stillen kann, muss sie in den Möglichkeiten des Teilstillens mit Zufütterung angeleitet werden (siehe Kasten). Wichtig ist auch, dass sie im Pumpmanagement gut angeleitet wird, um eine gute Milchbildung zu erhalten.

 

Zusammenfassung

 

Stillen beziehungsweise die Ernährung mit Muttermilch gehört bei Kindern mit angeborenen Stoffwechselstörungen dazu. Bei Erkrankungen wie der Phenylketonurie ist sie Teil der Standardbetreuung, bei anderen angeborenen Stoffwechselstörungen etabliert sie sich zunehmend auch in dieser Richtung (Pichler, 2017). Da auch Kinder mit angeborenen Stoffwechselstörungen von allen Vorteilen von Stillen und Muttermilchernährung profitieren, sollte es Ziel sein, diesen Standard überall zu etablieren.

Rubrik: Ausgabe 10/2022

Erscheinungsdatum: 22.09.2022

Literatur

Ferreira, C.R., van Karnebeek, C.D.M., Vockley, J., Blau, N. (2019). A proposed nosology of inborn errors of metabolism. Genet Med, 21: 102–106.

Greve, L.C., Wheeler, M.D., Green-Burgeson, D.K., Zorn, E.M. (1994). Breast-feeding in the management of the newborn with phenylketonuria: a practical approach to dietary therapy. Journal of the American Dietitians Association, 94: 305–309.

Guóth-Gumberger, M. (2014). Stillen mit dem Brusternährungsset. Laktation und Stillen, 3. https://www.stillunterstuetzung.de/shop/infoblatt-stillen-mit-brusternaehrungsset-marta-guoth-gumberger.

Huner, G., Baykal, T., Demir, F., Demirkol, M. (2005). Breastfeeding experience in inborn errors of metabolism other than phenylketonuria. Journal of Inherited Metabolic Diseases, 28: 457–465.

MacDonald, A. Depondt, E., Evans, S., Daly, A., Hendriksz, C., Chakrapani, A.A., et al. (2006). Breast feeding in IMD. J Inherit Metab Dis 2006, 29:299–303.

Pichler, K., Michel, M., Zlamy,...

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