Tubuläre Brüste

Hat eine Brust wenig Drüsengewebe und eine längliche Form, wird sie als tubuläre Brust bezeichnet. Körperliche Beeinträchtigungen haben die Frauen nicht, bis auf eine teilweise verminderte Milchproduktion. Ist das der Fall, kann die Hebamme die Frau darin bestärken, nicht abzustillen, sondern gekonnt und nach Bedarf zuzufüttern. Gudrun von der Ohe
  • Normale Brust: Die Brustumschlagsfalte (submammäre Falte) begrenzt die Brust zur Brustwand nach unten. Zur genaueren Diagnosestellung wird jede Brust in vier Quadranten unterteilt: unten mittig, oben mittig, unten seitlich, oben seitlich

  • Tubuläre Brust (Grad III): Großer Abstand zwischen den Brüsten, deren Basis vom Umfang reduziert ist, geschwollene Areola, es fehlen die unteren beiden Quadranten und weil zusätzlich das subareolare Hautsegment kurz ist (auch hohe Brustumschlagsfalte genannt), sind die Mamillen nach unten gerichtet, die Brüste sehen eher schlaff aus.

  • Tubuläre Brust (Grad IV): Sehr kleine Brustbasis, alle vier Quadranten sind erheblich reduziert, geschwollene, in der Größenrelation sehr große Areola.

  • Unter tubulären Brüsten versteht man eine geringe Ausbildung der Brust beziehungsweise der Brustdrüse. Man spricht auch von einer »Schlauchbrust«. Allerdings sollte dieser Begriff oder der Begriff »Rüsselbrust« nicht verwendet werden, da er für betroffene Frauen verletzend klingen kann. Die Brustform stellt für Betroffene oft eine große Beeinträchtigung dar, da ein BH selten gut sitzt und die Brustform optisch auffällt. Sie kann unter Umständen ein medizinischer Grund für eine operative Angleichung sein.

     

    Aufnahme in die ICD-10

     

    Wenn auch die tubuläre Brust eine eher seltene Ausprägung ist, ist sie unter den »Fehlbildungen« der Brust die am häufigsten vorkommende. In der Literatur wird die Inzidenz der tubulären Brust unterschiedlich angegeben, meist mit 5 %. Bei asymmetrischen Brüsten wird die Häufigkeit einer tubulären Brust mit bis zu 88,8 % angeführt. 1976 wurde sie zum ersten Mal als Krankheitsbild beschrieben, seit 2014 ist sie in der »Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme« (ICD-10) aufgenommen und als Krankheit anerkannt.

    Die tubuläre Brust ist angeboren. Sie entsteht im Embryonalstadium. Die Entwicklung der Brust (Mammogenese) beginnt bereits in der fünften bis sechsten Schwangerschaftswoche aus dem Ektoderm, dem äußeren Keimblatt, das im Bereich der späteren Brust in das darunterliegende Mesoderm einwächst. Bei einer tubulären Brust läuft diese Entwicklung nicht korrekt ab. Die Entwicklungsstörung kann einseitig oder beidseitig auftreten. Die genaue Ursache dafür ist noch unklar, eine Studie von 2011 deutet jedoch auf einen genetischen Zusammenhang hin.

    Während der Pubertät wird aufgrund der Genese die weitere korrekte Brustentwicklung behindert: Die Brüste bleiben unvollständig. Wichtig zu wissen ist, dass die Veränderung nicht auf eine starke Gewichtsabnahme der Frau zurückzuführen und auch von einer Unterentwicklung der Brust abzugrenzen ist. Auch liegt diese Veränderung nicht an einer Rückentwicklung des Brustdrüsengewebes nach dem Abstillen.

     

    Diagnostik aufgrund der Erscheinungsform

     

    Die tubuläre Brust wird aufgrund ihrer Erscheinung diagnostiziert. Die Auswirkungen auf das Aussehen der Brust können variieren. Zu den typischen Merkmalen gehören eine vergrößerte, geschwollene Areola, ein ungewöhnlich großer Abstand zwischen den Brüsten, minimales Brustgewebe, schlaffes Aussehen und eine hohe Brustumschlagsfalte sowie eine schmale Basis der Brust an der Brustwand.

    Man unterscheidet vier Grade, abhängig von der Ausprägung:

    • Grad 1: Einer der unteren Quadranten fehlt.
    • Grad 2: Der Hautmantel ist ausreichend vorhanden, aber beide untere Quadranten fehlen.
    • Grad 3: Das subareolare Hautsegment ist kurz, beide untere Quadranten fehlen, dadurch sind die Mamillen nach unten gerichtet.
    • Grad 4: Alle vier Quadranten sind deutlich gering ausgeprägt oder fehlen.

    Das Aussehen der tubulären Brust lässt sich ausschließlich durch eine Operation behandeln. Diese kann, wenn die Frau es sich wünscht, mit Vollendung des Brustwachstums durchgeführt werden. Bei gut ausgebildetem Subkutan- und Drüsengewebe kann ein Implantat in Verbindung mit Reduktion der zu großen Areola ausreichen. Bei sehr wenig Brustgewebe sind komplexere Operationen notwendig. Dazu stehen verschiedene Operationsmethoden zur Verfügung, die abhängig von den anatomischen Voraussetzungen der Brust gewählt werden, wie beispielsweise eine Vergrößerung auf der einen Seite, eine Bruststraffung auf der anderen. Ziel der Operation ist es, ein gutes kosmetisches Ergebnis mit zwei gleichgroßen Brüsten zu erreichen.

     

    Auswirkungen für die Praxis und das Stillen

     

    Die Besonderheit bezieht sich ausschließlich auf die Brust und hat keinen Einfluss auf die Fruchtbarkeit oder die Schwangerschaft. Allerdings kann es, je nach Ausprägung des Brustdrüsengewebes, zu Stillschwierigkeiten kommen.

    Die Frage nach Brustoperationen sollte während der Schwangerschaft zum Standard in der Anamnese gehören. Eine genaue Erfragung, was der Hintergrund der Operation war, ist notwendig, um herauszufinden, ob als Grund eine tubuläre Brust die Ursache war. Die Frau kann erzählen, wie die Brust vor der OP aussah.

    Zusätzlich kann die Schwangere den OP-Bericht anfordern, wenn die OP nicht mehr als zehn Jahre zurückliegt. Auch wenn nur wenig funktionsfähiges Brustdrüsengewebe vorhanden ist, wird Kolostrum gebildet. Darüber und über die Möglichkeit des Teilstillens sollten die Frauen informiert werden.

    Grundsätzlich sollten alle Frauen die Information erhalten, dass zwar die Schwangerschaft, nicht aber das Stillen und Abstillen die Brust und das operative Ergebnis auf Dauer verändern. Ein verbreitetes Gerücht ist, dass Stillen die Brust verändern oder zu hängenden Brüsten führen könnte. Hatten Frauen in ihrer Anamnese eine Korrekturoperation der Brust vor der Schwangerschaft, kommt gegebenenfalls zusätzlich die Sorge hinzu, dass das kosmetische Ergebnis negativ verändert werden und deshalb aufgrund des Stillens eine erneute Operation erforderlich sein könnte.

     

    Nach der Geburt

     

    Das Kind kann in der unmittelbaren Bondingzeit selbst die Brust finden. Möchte die Frau nicht stillen, kann sie ihrem Neugeborenen per Hand entleertes Kolostrum füttern und danach primär abstillen. Möchte sie stillen, wird sie je nach Ausprägung des Brustdrüsengewebes mehr oder weniger Milch haben. Wenn es nötig ist, kann sie Formula-Nahrung über ein Brusternährungs-Set oder mit der Flasche zufüttern.

    Wichtig ist eine individuelle Betreuung und die Stärkung der Frauen ihn ihrem Muttersein. In unserer Gesellschaft, in der die Großmuttergeneration wenig Unterstützung zum Stillen bekommen hat, haben es Frauen, die teilstillen, besonders schwer. Häufig hören Sie: »Das lohnt doch nicht, so viel Aufwand für so wenig. Still doch ganz ab, mit der Flasche werden die Kinder auch groß.« Stillgruppen können gerade diese Frauen in ihrem individuellen Weg unterstützen. Jede Frau sollte die Hilfe bekommen, die sie in ihrer individuellen Situation braucht und die Bestärkung, ihren eigenen Weg gehen zu können, ohne sich von anderen beeinflussen zu lassen.

    Rubrik: Ausgabe 11/2019

    Erscheinungsdatum: 22.10.2019

    Nachgefragt

    Birgit Heimbach: Die tubuläre Brust wird in der Literatur als Fehlbildung beschrieben, die als Krankheit anerkannt ist. Immerhin sind scheinbar fünf Prozent der Frauen betroffen. Gibt es Frauen, die vor allem bei einer leichteren Form lieber von einer »besonderen« Brustform sprechen würden, um sich nicht »unvollkommen« zu fühlen?

    Gudrun von der Ohe: Die tubuläre Brust ist eine angeborene und seltene Fehlbildung der Brust und abzugrenzen von besonderen Brustformen. Es gibt bei Brüsten verschiedene Formen und keine Norm – das ist damit allerdings nicht gemeint. Die tubuläre Brust ist als Krankheit anerkannt, Frauen leiden darunter und da es optisch auffällt und kaum ein BH richtig sitzt, wird meist eine Operation durchgeführt. Den Frauen zu sagen, es sei »nur« eine besondere Brustform, wird ihrem Empfinden nicht gerecht.

     

    Birgit Heimbach: Was empfehlen Sie Hebammen konkret für die Betreuung in der Stillzeit?

    Gudrun von der Ohe: Generell sollte zur Anamnese schon in der Schwangerschaft die Frage nach Brustoperationen gestellt werden und die beiden Brüste sowie die Mamillen angeschaut werden. Alle Schwangeren sollten eine Information über die Bedeutung des Stillens sowohl für das Kind als auch für sie als Frau bekommen. Nach Operationen kann nie genau gesagt werden, wie es sich mit der Milchmenge verhält. So sollten die Frauen informiert werden, dass der Stillbeginn davon unabhängig ist, das Neugeborene Kolostrum und Nähe braucht und die Gewichtsentwicklung beobachtet werden sollte. Bei entsprechender Indikation kann auch schon in der Schwangerschaft über die verschiedenen Möglichkeiten des Zufütterns gesprochen werden.

     

    Birgit Heimbach: Könnte auch Teilstillen eine Option sein?

    Gudrun von der Ohe: Ja, dies sollte ganz klar unterstützt werden. Jeder Tropfen Muttermilch hat Wert – Teilstillen über eine längere Zeit ist besser, als sehr viel Aufwand zum vollen Stillen zu betreiben und dann das Gefühl des Schweiterns zu haben. Es bedarf immer einer feinfühligen und individuellen Beratung.

    Literatur

    Erseida, Di Tommaso, Luca: Tuberous breast: Morphological study and overview of a borderline entity. Canadian Journal of Plastic Surgery 2011. 19 (2): 42–44

    Gehl B, Worseg A: Die tubuläre Brust – Teil 1, Anatomische Grundlagen und die daraus resultierenden Behandlungskonzepte; sowie Teil 2, Die tubuläre Brust –Behandlungskonzepte; Ästhetik; Face 4/2014:32 ff sowie 4/2016: 4ff

    Lawrence R, Lawrence R: Breastfeeding. A Guide for the Medical Profession. 8. Edition Maryland Heights, Missouri. Elsevier Mosby Inc 2016 (Chapter 2; 34ff)

    Walker M: Breastfeeding Management for the Clinician. Using the Evidence. 4. Auflage. Sudbury: Jones and Bartlett 2017 (Chapter 2, 95ff)

    Wilson-Clay B, Hoover K: The Breastfeeding Atlas. 3. Edition 2005

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