Gewalt in der Hebammenausbildung

Wissende Zeuginnen

Laut einer Befragung im Rahmen einer Masterarbeit an der Fachhochschule Salzburg erleben sich werdende Hebammen in ihrer Ausbildung als ohnmächtige, beistehende und verbündete Zeuginnen von Gewalt, als (Mit-)Täterinnen und auch selbst als Opfer. Das hat weitreichende Folgen. Margarete Sommer
  • Die praktische Ausbildung von Hebammen im deutschsprachigen Raum findet überwiegend in Krankenhäusern statt. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) erfahren viele Frauen weltweit in Geburtshilfe-Einrichtungen körperliche, psychische und verbale Gewalt, Vernachlässigung und unter Zwang oder ohne Zustimmung vorgenommene medizinische Eingriffe. Es wird die Schweigepflicht gebrochen, Schmerzbehandlung verweigert und die Intimsphäre grob verletzt (WHO 2015). Bei der derzeitigen Umsetzung der Ausbildungsreform muss deshalb die Situation der werdenden Hebammen und die erlebte Gewalt an ihren Praxisorten kritisch hinterfragt werden. Das Umfeld, in dem gelernt wird, hat einen entscheidenden Einfluss auf die Prägung der Auszubildenden. Wird ein Einordnen und Reflektieren versäumt, kann es passieren, dass Gewalt einfach hingenommen oder akzeptiert wird (Kruse 2018; Salman & Kizilhan 2018).

     

    Interview zum Gewalterleben

     

    In meiner Masterarbeit im Studiengang Salutophysiologie für Hebammen in Salzburg habe ich untersucht, ob Hebammen in ihrer Ausbildung Gewalt erleben und ob Gewalterleben während der Hebammenausbildung Auswirkungen auf die Prägung praxisleitender Affekte haben kann (Sommer 2020). Dazu habe ich Daten von 604 Hebammen ausgewertet, die 2017 und 2018 während oder nach ihrer Ausbildung an einer Internet-Umfrage zum Gewalterleben während der Ausbildung teilgenommen hatten (WeHen-Belastungstest). Anschließend wurden die Ergebnisse in einem Interview mit einer Expertin für Psychotraumatologie diskutiert, das sich auf die Auswirkungen von Gewalterleben fokussierte.

    Die Ergebnisse des WeHen-Belastungstests zeigen deutlich, dass Hebammen in ihrer Ausbildung strukturelle, seelische, körperliche und sexuelle Gewalt erfahren, bezeugen und verüben. Die Zahlen sind nicht repräsentativ, da viele sich teilweise nicht sicher sind, welche Erlebnisse als Gewalt einzuordnen sind. Es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.

     

    Grafik 1: Diese Situationen haben Hebammen erlebt oder beobachtet bei Lehrenden gegenüber Auszubildenden

    In insgesamt 85 Kommentaren zu den Beobachtungen in Grafik 1 betonen mehrere Kolleg:innen, dass es stets Rückhalt, Wertschätzung und Unterstützung von Seiten der Schule gegeben habe und diese Situationen ausschließlich in Praxiseinsätzen, vor allem im Kreißsaal geschehen seien. Allerdings wird auch von Lehrerinnen für Hebammen berichtet, die den WeHen Erlebnisse mit Gewalt in der Praxis nicht glaubten. Sexuelle Übergriffe von ärztlichen Kolleg:innen sind mancherorts üblich und Hilfe durch die Schule manchmal nicht gegeben. WeHen werden in der Praxis belächelt, wenn sie Fragen stellen, es gibt Augenrollen, Bloßstellung, Beschämung, Beleidigung und bewusste Schwächung des Selbstwertgefühls und Selbstvertrauens. Manche, die die Prüfungen am Ende der Ausbildung nicht bestanden haben, geben als Ursache starke psychische Belastung an, verursacht durch Ausbilder:innen oder den Umgang im Team mit den WeHen. Studierende beschreiben Anfeindungen und Herabsetzung ihrer Fähigkeiten wegen ihres akademischen Hintergrundes. Eine Hebamme erklärt, den WeHen sei von einer Hebamme mehrfach »auf die Finger gehauen« worden, was sie aber nicht als Schlagen wertet und deshalb diesen Punkt nicht ankreuzt.

     

    Grafik 2: Was Auszubildende untereinander erlebt oder beobachtet haben

    • In einigen der 22 Kommentare zum Verhalten untereinander (Grafik 2) wird erklärt, guter Zusammenhalt gab oder gebe Kraft, die Ausbildung durchzuhalten. In anderen werden Mobbing, Konkurrenzkampf und »Lästereien« ergänzend zu den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten genannt.
    • Zur Frage nach Gewalt gegenüber Klient:innen (Grafik 3) gab es 73 Kommentare mit Beispielen und Ergänzungen wie:

             -  übermäßiges und unsachgemäßes »Kristellern«
             -  Festhalten oder Fixieren
             -  vaginale Untersuchungen unter Vollnarkose zum Üben ohne Wissen der betroffenen Frau
             -  routinemäßige Brust- und vaginale Untersuchungen ohne Indikation bei allen Klientinnen/Patientinnen durch bestimmte Personen des Teams
             -  als gewaltsam erlebte Saugglocken- Geburten
             -  Dammschnitte und Fruchtblasenaufstechen ohne Erklärung oder Einwilligung oder gegen den deutlich erklärten Willen der Gebärenden
             -  Festschnallen einer verängstigten ausländischen Klientin
             -  Rassismus
             -  Ignorieren von Sprachbarrieren
             -  Suggestivfragen, Ausnutzen von Macht, unzureichende oder falsche Informationen über Medikamente oder Eingriffe,
                Drohungen und Erpressung zu Erreichen von Einwilligungen für Eingriffe
             -  Schnitt in die Bauchdecke bei
             -  Bewusstsein der Gebärenden, bevor Narkosemittel wirkten

    (Sommer 2020)

     

    Grafik 3: Gewalt gegenüber Klient:innen, die werdende Hebammen beobachtet oder an der sie selbst mitgewirkt haben

     

    Angst, Trauer und Wut

     

    10,9 % der Teilnehmenden sind erstaunt über ihre Antworten, 13,7 % schämen sich und 13,9 % geben Schuldgefühle an. 30,5 % der Hebammen sind deprimiert und etwa genauso viele (31,1 %) erleichtert, dass es ihnen vergleichsweise gut geht. Mehr als jeweils 60 % der Teilnehmenden werden beim Nachdenken über die Gewalt traurig oder wütend über das, was sie erleben oder beobachten müssen und mussten.

    Einige Hebammen beschreiben ihr Empfinden so:

    • Angst davor abzustumpfen, gewalttätig zu werden »und es selbst nicht mehr zu merken«
    • Angst vor den Folgen des Miterlebens von Gewalt für die eigene Gesundheit
    • schockiert, überrascht oder ungläubig über das Ausmaß der Gewalt
    • Erleichterung/Freude/Dank/Entlastung, dass es erfragt wird
    • Gefühl, sich »anzustellen«, weil es anderen schlechter geht
    • Ohnmacht
    • froh über die eigenen Stärken anhand derer sie/er es überstanden hat
    • in eigener Wahrnehmung bestätigt durch die Umfrage
    • psychische Langzeitfolgen
    • als Selbst-»Täterin« alleingelassen worden sein
    • fehlende theoretische Ausbildung zu struktureller Gewalt, Sexismus, Bewältigungsstrategien
    • Trauer über eigenes Unvermögen, darüber zu sprechen oder etwas zu ändern

    (Sommer 2020)

     

    Berufliche und gesundheitliche Folgen

     

    Bei extremer Gewalt oder wenn Menschen lange Gewalt und chronischer Belastung ausgesetzt sind, sind negative Auswirkungen auf Gehirn und Nervensystem möglich, was wiederum die Reaktionen in späteren stressvollen Momenten beeinflusst. Bei sogenannten Affekthandlungen, die zu solchen Reaktionen gehören, ist die bewusste Steuerung des Verstandes und des Körpers beeinträchtigt. Affekte, die in bestimmten, besonders stressreichen Situationen auftreten, werden so gespeichert, dass sie in vergleichbaren Situationen automatisch das Lernen beeinflussen (Stangl 2019; Levine 2019; Hantke & Görges 2012; Huber 2012; Ciompi 2011).

    So kann sich Gewalt als Stress-Antwort, als Belastungsreaktion und vermeintliche Bewältigungsstrategie, als praxisleitender Affekt in unreflektierten geburtshilflichen Routinen und Ritualen transgenerational fortsetzen. Es ist daher unbedingt nötig, die Diskussion über Gewalt in der Geburtshilfe durch die Auseinandersetzung mit dem Erleben von Gewalt in der Hebammenausbildung zu erweitern.

    Gewalterleben während der Ausbildung hat Folgen – sowohl beruflich als auch persönlich und gesundheitlich. Mehr als jede zehnte Hebamme hat durch die Ausbildung gesundheitlich Schaden erlitten, ist traumatisiert oder retraumatisiert. Bei 15,6 % kommt es vor, dass sie sich dabei ertappen, unreflektiert etwas zu tun, was man eigentlich auch als Übergriff oder sogar Gewalt bezeichnen könnte. 34,3 % haben Angst, keine gute Arbeit zu machen (Sommer 2020).

    An den Ergebnissen der Umfrage ist zu sehen, dass viele Hebammen im Laufe ihrer Ausbildung und danach vermehrt Belastungssymptome an sich beobachten. Dazu gehören für mehr als 70 % Unruhe, Schlafprobleme und/oder übermäßiges Grübeln. Jede zweite bis dritte Hebamme beschreibt eine Zunahme von unbestimmter Angst, Konzentrationsschwierigkeiten, Minderwertigkeits- und/oder Schuldgefühlen, Zukunftsangst, Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit, innere Leere und/oder Problemen im Alltag. Zunehmende Gefühllosigkeit und/oder in einen dissoziativen Zustand zu verfallen, hat jede dritte bis vierte Hebamme einmal oder öfter ausbildungsbedingt an sich bemerkt. Jede zehnte Hebamme hat während ihrer Ausbildung mindestens einmal daran gedacht, ihr Leben zu beenden (Sommer 2020).

    All diese Phänomene gehören zum Symptombild von posttraumatischen Stress­regulationsstörungen (Benecke et al. 2008; Huber 2012).

     

    Psychosomatische Symptome

     

    Etwa jede:r zehnte Teilnehmende zeigt sich erstaunt über die eigenen Antworten auf die Fragen zum Gewalterleben, schämt sich und/oder zeigt Schuldgefühle.

    Schuld- und Schamgefühle sind physiologische Reaktionen auf das Erleben von potenziell traumatisierenden Erlebnissen. Werden sie nicht reflektiert und bearbeitet, können sie einen wesentlichen Einfluss auf den Umgang mit späteren Stresssituationen, auf die Arbeit und auf Lehrmethoden haben. Sie können zu Gefühlen wie Angst oder Wut führen, mit psychosomatischen Symptomen wie Herzrasen, Schweißausbrüche, Zittern, Kopfschmerzen, Bluthochdruck. Es gibt viele Strategien, mit denen Menschen versuchen, Scham abzuwehren– oft unbewusst. So kann es passieren, dass Betroffene besonders arrogant auftreten und andere permanent abwerten. Manche geben sich dagegen sehr bescheiden und beugen so möglicher Beschämung vor. Andere kompensieren durch Scham entstandene Minderwertigkeitsgefühle durch Perfektionismus (Stangl 2021).

    Scham und Schuld werden wie Stolz den sogenannten »sozialen Gefühlen« zugeordnet. Sie gelten als sozial konditionierte Gefühle, die bestimmte Verhaltensweisen anerziehen sollen. Besonders das von Kolleginnen beschriebene öffentliche Beschämen von WeHen soll sicher eine solche Wirkung erzielen. Schamgefühle in Verbindung mit empfundener Sprachlosigkeit können zu vermehrtem Grübeln führen und andere Belastungssymptome hervorrufen, die wiederum zu Affekthandlungen in existenziellen oder stressreichen Situationen beitragen könnten. Da mehr als jede zehnte Hebamme mit Schamgefühlen an ihre Ausbildung zurückdenkt, wäre interessant, dies in Bezug auf die transgenerationale Weitergabe von Gewalt in der Hebammenausbildung genauer zu untersuchen.

    Schuldgefühle folgen bewusst oder unbewusst auf etwas, das als Fehlverhalten eingeordnet wird. Schuld als Begriff aus dem Umgang mit Geld steht für etwas, das bezahlt oder ausgeglichen werden muss. Als Bestandteil religiöser Ordnungen wird Schuld über »Sünden« definiert mit entsprechenden Ritualen zur Abbitte. Das Gefühl, schuldig oder mitschuldig zu sein, kann das Gefühl sein, etwas versäumt zu haben, etwas »schuldig geblieben« zu sein oder Schuld zu übernehmen für etwas, das andere getan haben (Huber 2015). Amerikanische Sozialpsycholog:innen haben herausgefunden, dass Menschen, die besonders zu Schuldgefühlen neigen, scheinbar vertrauenswürdiger wirken und oft mehr Verantwortung übernehmen. Das kann jedoch auch anfällig machen für Manipulationen durch andere. In der Geburtshilfe und auch in der Hebammenausbildung werden Schuldgefühle oft als Druckmittel und zur emotionalen Erpressung eingesetzt: Wird eine Intervention hinterfragt oder eine Routine angezweifelt, wird Schuld an einer möglichen Gefährdung des Kindes angedroht. Oft führt das zu einer lang andauernden emotionalen Belastung (Stangl 2021).

     

    Umgang mit Belastungen

     

    Regelmäßig oder bei Bedarf Supervision gehört für 92,5 % der WeHen und Hebammen nicht zum Konzept der Institution, für die sie arbeiten. 95,9 % zahlen auch nicht privat für Supervision. 6,8 % helfen sich im weitesten Sinn selbst mit Medikamenten, Alkohol, einer Essstörung, Zwängen, Selbstverletzung, Drogen oder ähnlichem. 18,7 % der Teilnehmenden geben an, es gehe ihnen gut mit der Situation. 3,2 % finden es in Ordnung, solange sie niemanden körperlich verletzen. 32,5 % der Teilnehmenden waren oder sind beunruhigt darüber, dass ihre ausbildungsbedingte Belastung negative Auswirkungen auf ihr Umfeld hat. 32,2 % versuchen, daran zu arbeiten, und beobachten Besserung. 23,5 % bemühen sich um Veränderung, schaffen diese aber nicht. 6,3 % wünschen sich, es würde jemand helfen, es in den Griff zu bekommen (Sommer 2020, 34–35).

    Im Generationen-Vergleich nimmt die Toleranz von Gewalt als Bestandteil von Geburtshilfe zu, je weniger Berufserfahrung eine Hebamme hat. Deutlich mehr WeHen als Hebammen bejahen, dass eine gute Hebamme alles Erdenkliche aushalten müsse (8,2 % WeHen zu 2,6 % Hebammen), und dass eine Hebamme »nicht zimperlich sein« dürfe (14,2 % zu 5,3 %). 69,7 % derer, die finden, wer gut genug ist, halte alles aus, sind WeHen (Sommer 2020, 45).

     

    WeHen sind Zeug:innen von Gewalt

     

    Viele Hebammen und werdende Hebammen sehen sich nicht als Opfer von Gewalt, obwohl sie ihr direkt und indirekt ausgesetzt sind. In den Ergebnissen des WeHen-Belastungstests und in der Arbeit mit WeHen wird deutlich, wie viele sich schämen und schuldig fühlen. Es ist erschreckend, wie wenig das thematisiert wird – und mehr noch: Dass vielen nicht bewusst ist, wie es ihnen geht. Manche werden nie darauf angesprochen. WeHen sind Zeug:innen von Gewalt, vor allem im Kreißsaal. Sie nehmen sich als mindestens mitschuldig daran wahr. Wie prägend und belastend das ist, vor allem wenn es unbearbeitet bleibt, merken wir erst, wenn wir miteinander ins Gespräch kommen und uns damit beschäftigen. Tun wir das nicht, nehmen wir in Kauf, dass die Gewalt und die Traumatisierungen, die sie hinterlässt, weiterleben und weitergegeben werden.

    Stattdessen sollten wir einander und vor allem werdende Hebammen ermutigen, zu spüren und darüber zu sprechen, wie es uns geht. Wir sollten sehen, wie elend sich manche fühlen, und bemerken, wenn sie verstummen. Wir dürfen uns nicht zu Kompliz:innen schlechter Bedingungen machen (lassen). Wir müssen alarmiert sein, wenn werdende Hebammen, wir selbst und andere Kolleg:innen nicht mehr berührt sind von dem, was geschieht — weder positiv noch negativ. Wir müssen darüber sprechen, dass Gewalt passiert, und uns mit den Betroffenen solidarisieren. Wir müssen hinsehen, wenn relativiert, kompensiert, ritualisiert wird. Denn wie die Psychotherapeutin und Supervisorin Michaela Huber nicht müde wird zu zitieren: »Wer ein Trauma nicht realisiert, ist gezwungen, es zu wiederholen oder zu reinszenieren« (Huber 2015; Pierre Janet 1902).

    Rubrik: Ausgabe 07/2021

    Erscheinungsdatum: 23.06.2021

    Literatur

    Baumann U: Erbsünde? Ihr traditionelles Verständnis in der Krise heutiger Theologie. Freiburg: Verlag Herder 1970

    Benecke C, Vogt T, Bock A, Koschier A, Peham D: Emotionserleben und Emotionsregulation und ihr Zusammenhang mit psychischer Symptomatik – A Self Report Questionnaire for the Assessment of Emotional Experience and Emotion Regulation, in: Psychotherapie Psychosomatik Medizinische Psychologie 2008. 58, S. 33–35

    Cohen D: Schuld. In Lexikon der Psychologie. München: Heyne Verlag 1990

    Hantke L, Görges H-J: Handbuch Traumakompetenz. Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik. Paderborn: Junfermann 2012

    Huber M: Trauma und die Folgen. Paderborn: Junfermann 2003

    Huber M: Trauma und Schuld. Aspekte einer schwierigen Beziehung. Folien einer Fortbildung vom 4.1.2015. https://michaela-huber.com/wp-content/uploads/2021/03/trauma-und-schuld-1-michaela-huber-2014-07.pdf

    Kruse M: Traumgeburt oder Geburtstrauma. In: Deutsche Hebammenzeitschrift...

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