Anthropologische Studie aus Dänemark

Zeit mit dem totgeborenen Kind

  • Verwaiste Eltern benötigen vor allem Zeit und Unterstützung für den Übergang in diese besondere Form der Elternschaft.

  • Viele Eltern verbringen nach der Geburt eines totgeborenen Kindes Zeit mit ihrem Kind. In diesem Zeitraum können unterschiedliche Handlungen und Rituale stattfinden. Das Ziel einer dänischen Studie lag darin, die Gestaltung dieses Zeitraums zu evaluieren und Hintergründe zu verstehen.

    Hierzu wurde zunächst eine Sekundärdatenanlyse der dänischen Studie »Life after Loss« durchgeführt, um zu evaluieren welche Interaktion zwischen den Eltern und ihrem totgeborenen Kind stattgefunden hat. Diese umfasste die Frage, in welchem Umfang die Eltern ihr Kind angeschaut und gehalten haben. Die Daten wurden anschließend unter anthropologischen Gesichtspunkten interpretiert, um darüber mögliche Gründe für Interaktionsprozesse zwischen den Eltern und ihrem toten Kind zu erklären. In einem dritten Schritt wurden die Ergebnisse im Rahmen der vorliegenden Evidenz diskutiert, um einer Vielzahl möglicher Handlungsweisen Raum zu geben. Eingeschlossen wurden 173 Eltern (119 Frauen/54 Männer), die zwischen Januar 2015 und August 2019 die Totgeburt eines Kindes nach der 22. Schwangerschaftswoche erlebt hatten.

    Die Ergebnisse zeigen, dass die Eltern Stunden bis Tage mit ihrem totgeborenen Kind verbringen und sich durch MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens unterstützt fühlen. So hat ein Großteil der Eltern ihr Kind nach der Geburt gesehen (97 %, n=160) und gehalten (92,5 %, n=147). Weniger als 10 % verbrachten nur einige Minuten, 40 % einige Stunden und 52 % einige Tage gemeinsam mit ihrem Kind. Bei 128 Eltern (75,7 %) haben zudem die Eltern und Schwiegereltern das Kind gesehen. Bei 90 Eltern (53 %) haben andere Familienangehörige und bei 50 Eltern (30 %) Freunde das Kind gesehen. 150 Eltern (87 %) fühlten sich in hohem oder sehr hohem Maß durch eine Hebamme unterstützt.

    Besuchen und Gesprächen mit engen Verwandten, weiteren Verwandten und Freunden kommt eine wichtige Rolle im Trauerprozess zu, da diese Begleitung verwaiste Eltern im Gefühl der Elternschaft stärken kann. So diskutieren die Autorinnen, dass die Totgeburt bei Eltern den Prozess stören kann, sich als »Eltern« zu fühlen, weil sie aufgrund des toten Kindes nicht als solche von der Gesellschaft wahrgenommen werden. Dem kann entgegengewirkt werden, wenn sie mit dem verstorbenen Kind und anderen Familienangehörigen oder Freunden gemeinsam Zeit verbringen. Sie können dadurch in ihrer Elternschaft bestätigt werden.

    Die Autorinnen zeigen zudem auf, dass weitere »Übergänge« während der Zeit stattfinden. Neben der Integration des Kindes in die Familie erfordert die Situation von den Eltern die Auseinandersetzung mit dem Tod ihres Kindes auf geistiger und körperlicher Ebene. Dies kann als sehr herausfordernd erlebt werden, beispielsweise wenn das Kind dunkle Lippen oder mazerierte Haut hat. Hierbei kommt dem Feingefühl und dem Gespräch eine wichtige Rolle zu, wie mit Eltern kommuniziert wird.

    Die Autorinnen schlussfolgern, dass hauptsächlich die Faktoren »Zeit« und »andere Menschen« wichtig für verwaiste Eltern sind, um eine sinnerfüllte Zeit mit ihrem totgeborenen Kind zu erleben. Während der begrenzten gemeinsamen Zeit, die Eltern mit ihrem toten Kind verbringen, agieren MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens – und so auch Hebammen – als ExpertInnen für Rituale. Sie unterstützen Eltern darin, dem toten Kind einen sozialen Status zu geben. Die AutorInnen schlagen vor, die gemeinsame Zeit, die Eltern und ein totes Kind gemeinsam erleben, nicht nur als Erinnerung zu betrachten, sondern auch als Zeit einer ontologischen Klärung.

    Quelle: Jorgensen ML et al.: Stillbirth – transitions and rituals when birth brings death: Data from a danish national cohort seen through an anthropological lens. Scand J Caring Sci 2021. DOI: 10.1111/scs.12967 DHZ

    Rubrik: Wochenbett

    Erscheinungsdatum: 23.02.2021