Kokzygodynie in der Schwangerschaft

Das Steißbein „befreien“

Ein freies Steißbein ist nach vorne und hinten beweglich. Es kann sich leicht nach links und rechts neigen und drehen. Vielerlei Ursachen existieren, wenn die Beweglichkeit eingeschränkt ist und Schmerzen auftreten. Auch in der Schwangerschaft treten sie mitunter auf, können aber gut behandelt werden. Ein Blick auf die Anatomie und einige therapeutische Möglichkeiten. Phillip Grosemans
  • Das Steißbein von ventral gesehen. Fasern des sympathischen Nervensystems gehen bis zum Nervenzellkörper am Steißbein, dem Ganglion impar. Vom Steißbein zieht je ein dreieckiger Musculus coccygeus zu einer Spina ischiadica.

  • Das Steißbein von dorsal gesehen. Bänder fixieren es am Os sacrum (Kreuzbein). Die Cornua sacralia stoßen auf die Cornua coccygea.

  • Die hormonell gesteuerte Auflockerung der Bänder in der Schwangerschaft ist ein natürlicher Prozess und normalerweise nicht schmerzhaft. Die Verlagerung des Körperschwerpunkts nach vorn wird kompensiert durch eine größere Lendenlordose. Ein flexibler Beckenring erlaubt eine Vergrößerung von Beckeneingang und -ausgang bei der Geburt. Symptomlose Gelenkdysfunktionen können durch die bindegewebige Auflockerung und die Gewichtszunahme aus dem Nichts heraus schmerzhaft werden. Nicht selten leiden Schwangere unter Schmerzen in der Lendenwirbelsäule (LWS) oder im Beckenring. Schmerzen in der Steißbeingegend werden auch als Kokzygodynie bezeichnet. Sie entstehen vor allem durch eine Verletzung bei der Geburt. Sie können aber auch während der Schwangerschaft oder erst einige Wochen post partum auftreten.

     

    Definition

     

    Als Kokzygodynie – lateinische Schreibweise Coccygodynia – werden stechende oder ziehende Schmerzen in der Steißbeingegend bezeichnet. Sie treten besonders dann auf, wenn Kräfte auf das Steißbein einwirken: beim Sitzen – vor allem beim nach hinten gelehnten Sitzen –, beim Aufstehen und Hinsetzen, bei der Defäkation. Viele Faktoren können zur Entstehung einer Kokzygodynie beitragen (siehe Tabelle 1).

    Es wird differenziert zwischen der echten Kokzygodynie, die ihren Ursprung im Steißbein oder im Kreuzbein-Steißbeingelenk hat, und der Pseudokokzygodynie, bei der Funktionsstörungen und Krankheiten im Becken und in der Lendenwirbelsäule die Ursache für die ausstrahlenden Schmerzen im Steißbeinbereich sind (Traycoff et al. 1989).

     

    Die Knochen

     

    Das Steißbein (Os coccygis) besteht aus drei bis fünf Wirbelrudimenten. Der erste Wirbel hat einen Körper, Querfortsätze und Reste kranialer Gelenkfortsätze. Die übrigen Segmente bestehen aus runden Knochenstücken. Oft hat der zweite Wirbel auch kleine Querfortsätze. Die einzelnen Wirbel sind faserknorpelig oder knöchern miteinander verbunden. Bis zum 30. Lebensjahr ist die vollständige Ossifikation von Kreuz- und Steißbein nicht ganz abgeschlossen (Broome et al. 1998). Diese Flexibilität scheint darauf ausgerichtet, das Gebären zu erleichtern (Grundberg 2006).

    Der erste Steißbeinwirbel bildet nach oben ein Gelenk mit der Sakrumspitze: das sakrokokzygeale Gelenk. Meistens ist es ein bewegliches Gelenk mit einer Gelenkkapsel, gelegentlich gibt es eine kleine Bandscheibe zwischen Kreuz- und Steißbein. Vereinzelt ist das Gelenk knöchern durchbaut und rigide.

    Die beiden kranialen Gelenkfortsätze (Cornua coccygea) bilden ein sensibles Gelenk mit den Cornua sacralia auf der Rückseite des Kreuzbeins, ähnlich wie die Facettengelenke in der Wirbelsäule (Woon & Stringer 2012).

     

    Die Ligamente

     

    Zahlreiche Bänder umgeben und kontrollieren das Gelenk zwischen Kreuzbein und Steißbein. Sowohl vorn, hinten als auch seitlich stabilisieren es empfindliche sakrokokzygeale Ligamente. Auch die sacrotuberalen, sacrospinalen und dorsalen sacroiliakalen Ligamente sind mit dem Steißbein verbunden. Nach vorn wird der Anus über das anococcygeale Band stabilisiert. Nach oben ist das Steißbein über das Filum terminale mit dem Rückenmark verbunden. Durch die Auflockerung des Bindegewebes während der Schwangerschaft ist die sacroiliakale Verriegelung weniger effektiv und es kommt zu einer ungewöhnlichen Belastung der Ligamente (Williams et al. 1989). Vor allem eine asymmetrische Auflockerung wird verantwortlich gemacht für viele Beckenschmerzen in der Schwangerschaft (Damen et al. 2001).

    Nach der Geburt werden die Bänder wieder fester und es besteht die Gefahr einer Verriegelung in Fehlposition. Durch die gemeinsamen Ligamente sind die beiden Iliosakralgelenke und das Steißbein voneinander abhängig.

     

    Die Muskeln

     

    Ein freies Steißbein ist nach vorne und hinten beweglich – Flexion und Extension – und kann leicht nach links und rechts neigen und drehen. Eine aktive Flexion findet durch eine Anspannung des M. levator ani statt, vor allem durch den median verlaufenden M. pubococcygeus. Der M. coccygeus, die unteren Fasern des M. gluteus maximus und die schräg verlaufenden Fasern des M. levator ani (M. iliococcygeus) ziehen das Steißbein bei einseitiger Anspannung zur Seite. Eine Bewegung nach hinten (Extension) ist nur passiv möglich durch ein exzentrisches Loslassen des Beckenbodens, zusammen mit einem Druckanstieg durch Pressen bei der Defäkation. Bei der Geburt wird der Druck durch den Kindskopf ausgeübt. Unter optimalen Bedingungen ist eine Vergrößerung des Beckenausgangs von etwa zwei Zentimetern möglich. Wenn keine Restriktionen im Beckenboden, wie Vernarbungen oder Hypertonie, oder im Kreuzbein-Steißbeingelenk vorhanden sind, ist eine Flexion-Extension von bis zu 30 Grad möglich (Barral & Mercier 1988). Eine zu hohe Spannung im M. coccygeus zieht das Steißbein zur Seite und bringt fast immer das Iliosakralgelenk und die darüberliegende Lendenwirbelsäule aus dem Gleichgewicht (Malbohan et al. 1991).

     

    Die Innervation

     

    Die Steißbeingegend wird überwiegend versorgt durch den Plexus coccygeus. Er bildet sich im M. coccygeus (Woon & Stringer 2014) und entsteht aus den Sakralnerven S4, S5 (manchmal auch S3) und dem Steißbeinnerv Co1 (manchmal auch Co2). Hinzu kommen Fasern aus den sakralen sympathischen Ganglien. Die Gelenkstrukturen (Faserknorpel, Kapsel, Bänder, Periost) zwischen Kreuzbein und Steißbein und eventuell zwischen den ersten beiden Steißbeinwirbeln, sowie die Ligamenta sacrospinale, sacrotuberale und anococcygeum werden äußerst sensibel durch den Plexus coccygeus versorgt. Auch die Haut über dem Steißbein und zwischen Steißbein und After wird durch feine Nervenäste innerviert. Motorisch werden der M. coccygeus und der hintere Teil des M. sphincter ani externus versorgt. Verletzungen in den Gelenken und Irritationen in den Bändern, Muskeln und Faszien können bei Provokation einen typischen Steißbeinschmerz auslösen.

    Die Weichteile zwischen Steißbein und Anus werden zusätzlich durch Fasern des N. pudendus (Nn. rectales inferiores) versorgt. Deren Irritation ist im Pudenduskanal oder in der Fossa ischioanalis möglich.Die gemeinsame segmentale Innervation von Steißbein und Beckenorganen bietet eine Erklärung für die projizierten Schmerzen in der Steißbeingegend bei urologischen, gynäkologischen und proktologischen Erkrankungen (siehe Tabelle 1). Andererseits können Steißbeinprobleme für Funktionsstörungen im Beckenboden und in den Beckenorganen mitverantwortlich sein (Barral & Mercier 1988): Drangsymptomatik, Entleerungsstörungen, Stuhl- und Harninkontinenz, Senkungen, Infektanfälligkeit.

    In der Literatur wird nicht selten auf eine Vergesellschaftung von Steißbeinproblemen mit Depressionen oder anderen psychischen Störungen hingewiesen. Das Filum terminale, umringt von der Dura mater, könnte dabei eine Rolle spielen. Möglicherweise ist auch die Irritation von vegetativen Nerven in den Ligamenten oder den unteren Grenzstrangganglien von Bedeutung.

     

    Woher kommt der Schmerz?

     

    Es gibt einen einfachen Test, um herauszufinden, ob der Schmerz vom Steißbein kommt oder ob es ein projizierter Schmerz ist. Die betroffene Frau sitzt auf einem Hocker oder einer Behandlungsbank. Beide Füße sind auf dem Boden, die Hände leicht abgestützt neben dem Körper und die Wirbelsäule ist entspannt vornübergebeugt. Eine Hand wird auf die Rückseite des Kreuzbeins gelegt und gleitet nach unten bis sie ungefähr einen Zentimeter vom After entfernt ist. Ein Druck auf die Steißbeinspitze nach vorne und oben komprimiert das sakrokokzygeale Gelenk (siehe Abbildung 1). Wenn das Gelenk verletzt ist, wird die Frau einen spitzen Schmerz spüren.

     

    Möglichkeiten der Mobilisation

     

    Es gibt sehr viele unterschiedliche Möglichkeiten das Steißbein zu befreien. Die hier beschriebenen Techniken sind äußerst sanft und respektvoll und werden immer so ausgeführt, dass keine Schmerzen entstehen.

     

    Mobilisation im Sitzen

     

    Die Frau befindet sich wie beim Test im Sitzen (siehe Abbildung 1). Der Mittelfinger wird auf die Rückseite des Steißbeins gelegt. Durch Schieben und Halten des weichen Gewebes in Richtung After wird eine Straffung der Weichteile erzeugt. So entsteht eine sehr leichte Traktion im sakrokokzygealen Gelenk, die beibehalten wird, während die Frau mit leicht vornüber gebeugtem Oberkörper immer größer werdende, schmerzfreie Kreise ausführt. Bei einer erfolgreichen Mobilisation werden diese Kreise immer größer.

     

    Abbildung 1: Differenzierungstest und Ausgangsposition zur Mobilisation im Sitzen

    Sehr oft gibt es eine Abweichung des Steißbeins zur Seite. Um herauszufinden zu welcher Seite es geneigt ist, wird mit dem rechten Daumen ein sanfter Druck, rechts zwischen Steiß- und Sitzbein, ausgeübt (siehe Abbildung 2). Dies wird mit der linken Hand, links zwischen Steiß- und Sitzbein, wiederholt. Bei einer Deviation hat der Daumen auf der jeweiligen Seite weniger Platz. In diesem Bereich befindet sich eine höhere Spannung der Weichteile: Ligg. sacrospinale und sacrotuberale, Mm. gluteus maximus und coccygeus. Zur Mobilisation wird das Steißbein sanft zur Mitte gedrückt und die mit der Wirbelsäule beschriebenen Kreise kontinuierlich vergrößert. Auch eine rhythmische Gewichtsverlagerung durch die betroffene Frau nach rechts und links oder eine rhythmische Verschiebung der beiden Sitzknochen gegeneinander, tragen dazu bei, das Steißbein spielerisch zu befreien.

     

    Abbildung 2: Mobilisation einer Steißbeindeviation im Sitzen

    Diese Technik ist auch für eine Behandlung während der Schwangerschaft geeignet. Die Befreiung des Steißbeins ist nicht nur bei Schmerzen wichtig, sondern könnte auch von Vorteil bei der bevorstehenden Geburt sein.

     

    Mobilisation in Bauchlage

     

    Die Frau befindet sich in Bauchlage auf einer Behandlungsbank. Die behandelnde Person steht seitlich auf Höhe der Brustwirbelsäule, mit dem Blick in Richtung Becken. Eine Hand liegt auf dem Kreuzbein, die Fingerspitzen zeigen nach kaudal und der Mittelfinger ist in Kontakt mit dem unteren Teil des Kreuzbeins (Hiatus sacralis). Die andere Hand befindet sich darüber, jedoch zwei Zentimeter weiter kaudal. Der Mittelfinger berührt die Rückseite des Steißbeins (siehe Abbildung 3). Die beiden Mittelfinger werden sanft zueinander geschoben, wodurch eine sehr leichte Kompression im sakrokokzygealen Gelenk ausgeübt wird. Diese äußerst sanfte Kompression wird einige Minuten gehalten. Die Gelenkverbindungen werden dadurch verkürzt und entspannen sich. Danach wird die Kompression langsam gelöst und die beiden Mittelfinger werden sanft auseinander geschoben. Durch die leichte Traktion entspannen sich nach und nach die verkrampften Weichteile (Gelenkkapsel, Bänder, Muskeln, Faszien). Das löst eine diskrete Bewegung des Steißbeins aus, die zugelassen wird. Dabei werden neue Bewegungen erlaubt, sich wiederholende Bewegungen verhindert. Das Steißbein befreit sich selbst. Die Behandlung ist erfolgreich wenn keine asymmetrischen Bewegungsmuster mehr auftreten. Oft reagiert die Frau mit einer tieferen Atmung.

     

    Abbildung 3: Steißbeinbefreiung in Bauchlage

    Diese Technik ist auch geeignet für eine Behandlung direkt nach der Geburt. Die am häufigsten auftretende Steißbeinverletzung bei der Geburt ist eine Verrenkung (Luxation), vor allem nach einer schweren Geburt (Maigne et al. 2012). Sie kann bei einer Spontangeburt und bei einer vaginaloperativen Geburt auftreten. Sehr selten gibt es einen Bruch im Steißbein.

     

    Interne Mobilisation in Seitenlage

     

    Wenn das Steißbein durch eine zu hohe Spannung im Beckenboden nach vorn fixiert ist, ist die interne (anale) Mobilisation in Extension die effektivste Vorgehensweise. Die Frau befindet sich in Seitenlage auf einer Behandlungsbank, Hüfte und Knie sind leicht gebeugt. Der Mittelfinger wird sanft in den Analkanal eingeführt und berührt das Steißbein von vorn. Mit dem Daumen der gleichen Hand, wird von außen die Rückseite des Steißbeins berührt. Das Steißbein wird in Extension festgehalten und die Frau wird mehrmals aufgefordert, während zehn Sekunden den Beckenboden sanft anzuspannen und anschließend zehn Sekunden zu entspannen. Während jeder Entspannungsphase werden eine verbesserte Extension und eine niedrigere Beckenbodenspannung wahrgenommen.

    Rubrik: Ausgabe 11/2016

    Erscheinungsdatum: 30.12.2020

    Literatur

    Barral J-P, Mercier P: Visceral Manipulation. Eastland Press. Seattle 1988

    Broome DR, Hayman LA, Herrick RC, Braverman RM, Glass RB, Fahr LM: Postnatal maturation of the sacrum and coccyx: MR imaging, helical CT, and conventional radiography. Am J Roentgenol 1998. 170: 1061–1066

    Damen L, Buyruk HM, Güler-Uysal F, Lotgering FK, Snijders CJ, Stam HJ: Pelvic pain during pregnancy is associated with asymmetric laxity of the sacroiliac joints. Acta Obstet Gynecol Scand 2001. 80 (11): 1019–1024

    Grundberg S: Intraossäre Strains. In: Möckel E., Mitha N. (Hrsg.) Handbuch der pädiatrischen Osteopathie. Urban und Fischer. München 2006

    Maigne J-Y, Rusakiewicz F, Diouf M: Postpartum coccydynia: a case series study of 57 women. Eur J Phys Rehabil Med 2012. 48: 387–392

    Malbohan IM, Mojžíšová L, Tichý J: Die Rolle der coccygealen Verspannung bei tiefen Rückenschmerzen. Manuelle Medizin 1991. 29: 37–38

    Traycoff RB, Crayton H, Dodson R: Sacrococcygeal Pain...

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