Die Mär vom matschigen Mutterhirn

Gängigen Vorurteilen wie dem landläufig angenommenen Phänomen „Stilldemenz“ stehen zahlreiche wissenschaftliche Erkenntnisse entgegen, dass Muttersein stärkt. Verhaltensbiologie, Stammzellforschung und Psychologie zeigen, dass Schwanger­schaft, Geburt und Kindererziehung Frauen im Kopf fit machen – und zwar dauerhaft. Dr. med. Martina Lenzen-Schulte
  • Die deutsche Schriftstellerin Judith Hermann beschreibt in einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22. Mai 2016, was der inzwischen verstorbene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ihr einmal prophezeite: „Ich solle mir gut überlegen, ob ich Kinder haben wolle, denn wenn ich welche bekäme, wäre es mit jeglicher Kreativität vorbei." Judith Hermann ist trotzdem ein halbes Jahr später schwanger geworden, aber der Satz geht ihr bis heute nach (FAZ 2016).

     

    Von Grund auf verdächtig

     

    Wenn auch nicht allen Frauen so explizit das Kinderkriegen madig gemacht wird: Ähnliche Erfahrungen machen doch etliche. Sie erspüren, dass man sie von dem Moment an, wenn sie ihr erstes Kind erwarten oder zur Welt gebracht haben, geistig nicht mehr so richtig für voll nimmt. Im angloamerikanischen Sprachraum lautet der Ausdruck für leistungsschwache weibliche Gehirne nach der Geburt „Mommy brain" oder „Baby brain". Im Deutschen kennen wir den Begriff „Stilldemenz", der immer wieder in Elternzeitschriften und Internetforen auftaucht und damit die verminderte geistige Leistungsfähigkeit in der Phase nach der Geburt ziemlich drastisch benennt (eltern.de; muetterberatung.de).

    Man muss sich zunächst klar machen, welche Traditionen und negativen Erklärungsmuster hier fortwirken. Diejenige Gruppe unter den Feministinnen, der Kinder stets Karrierebremse und Klotz am Bein der emanzipierten Frau waren, kann einer Aufwertung der Mutterschaft naturgemäß nichts abgewinnen. Ein Feminismus, der über Mutterwerden als Empowerment nachdenkt, ist eben jenen suspekt, die Frauen am liebsten von allem, was mit Kinderkriegen zu tun hat, befreien würden. Sie kritisieren daher Bemühungen, Mutterschaft zu rehabilitieren, als Mythologisierung und Ideologisierung. In Deutschland ist die reflexhafte Abwehr gegen all das, was zugunsten von Mutterschaft ins Feld geführt wird, ohnehin besonders stark. Denn Mütter kamen hierzulande in der Zeit des Nationalsozialismus zu zweifelhaften Ehren. Noch heute können viele dem Muttertag in Deutschland nichts abgewinnen, weil er seit dem Kriegsjahr 1939 mit der Verleihung der Mutterkreuze gekrönt wurde – Bronze für vier, Gold für acht Kinder, die man dem Führer als Soldaten schenkte. Aber auch aus anderen Gründen kommt Mutterschaft in der medialen Darstellung nicht gut weg. Unter dem Stichwort #regrettingmotherhood haben sich zum Beispiel im letzten Jahr viele Frauen zu Wort gemeldet, die von ihrem Dasein als Mutter tief enttäuscht sind und der Mutterschaft partout nichts Gutes abgewinnen können. Anlass war eine umstrittene Studie mit unzufriedenen Müttern, die eine große öffentliche Debatte angeregt hatte (Donath 2016; Göbel 2016, siehe auch DHZ 4/2016 Seite 1). Negativbotschaften beherrschen die Meldungen in der Presse und lassen Frauen jede Lust auf Kinder vergehen: Babypausen bedeuten Karriereknick, Mütter auf der Suche nach Teilzeit verdächtigt man, nicht wirklich arbeitswillig und bloße Dazuverdienerinnen zu sein, und den aus einer Kinderpause zurückkehrenden Frauen macht man das Leben schwer, traut ihnen nur wenig zu.

     

    Eine Art Hirndoping

     

    Dabei kommt die Verhaltensforschung längst zu ganz anderen Resultaten. Mutterschaft macht smarter, wagemutiger, stressresistenter, sie verbessert das Gedächtnis, das räumliche Orientierungsvermögen, die Sehfähigkeit, kurzum, sie ist ein neuronaler Kick, der seinesgleichen sucht. Denn Mutterschaft versetzt Mütter in die Lage, mehr zu schaffen als zuvor. Zahlreiche Studien an Säugetieren, aber inzwischen auch bei der Gattung Mensch belegen, was das Austragen, Stillen und Aufziehen von Nachwuchs so Positives mit dem Gehirn von Muttertieren anstellt. Das wird oft als Biologismus, als eine unzulässige, verpönte Übertragung von biologischen Befunden auf menschliche Verhaltensweisen kritisiert. Allerdings können solche Einsprüche nichts an den Beobachtungen ändern: Schwangerschaft, Geburt und Betreuung von Nachwuchs setzen erstaunliche Kräfte frei, eben nicht nur bei Tieren.

    Es sind viele verschiedene Faktoren, die Mütter zu besonders leistungsfähigen Vertreterinnen ihres Geschlechts machen. Vor allem in der späten Schwangerschaft und nach der Geburt werden weibliche Tiere zum Beispiel extrem stressresistent. Das ist eine Beobachtung, die man inzwischen auch bei Frauen nachweisen konnte (Leuner & Shors 2006; Macbeth & Luine 2010). Mit dieser psychischen Robustheit gehen erhöhter Wagemut und größere Furchtlosigkeit einher, Veränderungen, die die sprichwörtlichen Löwenmütter in die Lage versetzen, selbst übermächtigen Aggressoren kühn die Stirn zu bieten (Hahn-Holbrook et al. 2011). Tracey Shors, Verhaltensbiologin an der Rutgers Universität in New York, hat diese Zusammenhänge mit ihrer Arbeitsgruppe über viele Jahre erforscht und ist gleichzeitig ein Beispiel für die inneren Vorbehalte, die wie eine Selbstzensur die wissenschaftliche Untersuchung von mütterlicher Leistungsfähigkeit ausbremsen: Die Wissenschaftlerin wagte sich erst dann an dieses Thema, als sie eine feste Anstellung hatte, aus Angst, das sei kein ernstzunehmendes Forschungsfeld – und wurde spät, mit 42, selbst Mutter.

    Offenbar benötigt man eine spezielle Form von Motivation und Offenheit, um zu erkennen, was Mütter leisten können. Den Neurowissenschaftler Graig Kinsley hat beispielsweise die Geburt seiner ersten Tochter zu inzwischen weithin beachteten Forschungen über den Zugewinn an kognitiven geistigen Fähigkeiten von Muttertieren angeregt. Ihm fiel auf, was seine Frau nach der Geburt so alles mehr als früher schaffte, und er fragte sich, wie sich das erklären lässt. Inzwischen gehört sein Labor in Richmond/Virginia zu den führenden Zentren, die das Verhalten von Muttertieren unter die Lupe nehmen. Eine seiner faszinierendsten Studien an Ratten testet diese beim Jagen von Grillen – was Ratten zur Aufstockung des Speiseplans durchaus mitunter tun. „The mother as hunter" heißt die Veröffentlichung und Kinsley vergleicht darin drei Gruppen von weiblichen Tieren: Die erste sind Schwangere, die zweite solche, die gerade geboren haben und ihren Nachwuchs säugen, und die dritte sind weibliche Ratten ohne Nachwuchs. Nicht nur den stillenden Muttertieren, selbst den schlecht beweglichen und körperlich aufgrund der Leibesfülle eingeschränkten Schwangeren gelingt es, die Beute um ein Vielfaches schneller zu erhaschen als denjenigen, die keinen Nachwuchs haben (Kinsley et al. 2014). Sie schaffen es auch, die Beute besser festzuhalten als die Tiere ohne Nachwuchs. Letztere sind deutlich langsamer und jagen weniger zielgerichtet, sogar dann, wenn man sie vorher hungern ließ, um ihre Motivation zu erhöhen. Kinsley charakterisiert das Verhalten der Schwangeren und Mütter als extrem ökonomisch im Vergleich zu ihren kinderlosen Artgenossen, die sich äußerst ineffizient verhielten. „Anpassung ist das, was das mütterliche Gehirn im Kern ausmacht", nennt er als Erklärung für die erstaunlich verbesserten Fähigkeiten unter erschwerten Bedingungen. Es ist eine Art Hirndoping, das Mutter Natur weiblichen Tieren zukommen lässt, aber sie brauchen es auch dringend.

    Denn in der Natur würden sich fahrige Nachlässigkeiten sofort rächen und die Jungen in Gefahr bringen. Dass sich Muttertiere auf das Wesentliche konzentrieren können, gehört quasi zum Überlebensprogramm. Ein weibliches Säugetier mit Nachwuchs steht gleichsam unter Dauerstress bei Extremsituationen und muss das aushalten können: Es säugt und braucht Nahrung und Kraft, muss also raus zur Jagd oder zur Futtersuche. Aber ist die Zeit günstig, kann es den Bau und damit gleichzeitig die Jungen verlassen, sie also Feinden vielleicht schutzlos preisgeben? Da muss rasch die Umgebung gecheckt und eine Entscheidung getroffen werden. Unnötiges Zaudern ist ebenso fatal wie das Übersehen einer Gefahr. Außerdem muss die Orientierung klappen, einen Zeitverlust wegen zu langer Wegstrecken können sich Muttertiere nicht leisten, was ihr oft verbessertes Orientierungsvermögen erklärt (Macbeth et al. 2009).

     

    Stammzellen vom Kind zur Mutter

     

    Die Schwangerschaft tut das ihre. Offenbar können frische Stammzellen vom Ungeborenen ins Gehirn der Mutter gelangen und sich dort zu allen Arten von Hirnzellen umwandeln. Mehr noch, diese Nachwuchszellen siedeln sich überzufällig häufig genau dort an, wo die Nervenzellen des Muttertieres schwächeln, also Hilfe dringend benötigen (Coghlan 2005). Außerdem stärkt ein Fetus auch andere Organe, zum Beispiel das mütterliche Herz, ebenfalls mit Hilfe von Stammzellen. Das erklärt, warum ein großer Teil von Schwangeren, die während oder kurz nach einer Schwangerschaft eine Herzschwäche entwickeln, sich davon spontan wieder erholt (Coghlan 2011).

    Es ist nicht verwunderlich, dass sich immer mehr Ergebnisse aus der Tierforschung beim Menschen replizieren lassen. Denn viele Hirnregionen und Hormonsysteme, die für den Umgang mit dem Nachwuchs zuständig sind, sind im Laufe der Evolution erhalten geblieben (Parsons et al. 2013). Allerdings gibt es auch widersprüchliche Ergebnisse, vor allem zur Frage, welche Formen von Gedächtnisleistungen sich bei Schwangeren und Müttern eher verbessern oder verschlechtern. Das hat damit zu tun, dass in der ersten Zeit nach der Geburt der chronische Schlafmangel bei kognitiven Tests negativ zu Buche schlagen könnte. Je nachdem, ob man eher ausgeruhte oder aber müde ProbandInnen testet, können die Ergebnisse deutlich voneinander abweichen. Zudem zeigt das Alter während der Geburt eine große Spannbreite, es ist also auch zu berücksichtigen, wie alt die Mütter sind, und welche Ausbildung sie bis dahin absolviert haben. Da Menschenmütter zudem nicht mehr täglich für den Nachwuchs nach Nahrung suchen und gegen Gefahren kämpfen, müssen wahrscheinlich ganz andere Testverfahren her, um die Veränderungen der kognitiven Fähigkeiten von Müttern besser erfassen zu können. Genau dieser Aufgabe verschreibt sich die Psychologin Dr. Katherine Tombeau Cost an der Universität in Toronto (utm.utornto.ca). Sie stieß ebenfalls aufgrund eigener Erfahrungen auf dieses Forschungsthema. Denn als sie schwanger war, wurden ihre Noten keineswegs schlechter, obwohl sie genau das ursprünglich befürchtet hatte – schließlich wird auch in Kanada Frauen mit dem Mommy-Brain gedroht. Wie sie feststellte, hat das eine Art Selffulfilling Prophecy zur Folge. Viele Schwangere und Mütter trauen sich selbst nicht viel zu und glauben dann subjektiv, sie hätten nur noch Brei in der Birne. Das ist falsch, denn in objektiven Tests schneiden Mütter deutlich besser ab, als sie es selbst für möglich halten (newscientist.com). Sie machen sich quasi gängige gesellschaftliche Vorurteile zu eigen: Wer lallend mit Babys spricht, der kann schließlich nur minderbemittelt sein. Das Bild der zwar zärtlichen, aber geistig wenig anspruchsvollen Kuschelmutter gehört nach Meinung von Tombeau Cost und anderer ForscherInnen nun endlich revidiert. Mütter können mehr, als ihr Näschen an ein Baby stupsen, nur fehlten bislang die geeigneten Messparameter, um dies zu erfassen. Kein anderer Lebensabschnitt, heißt es in der Arbeit von Kinsley, sei durch derartig plötzliche und dramatische Veränderungen von Körper und Psyche gekennzeichnet, wie sie eine Mutter durch Schwangerschaft und Geburt erfahre. Das muss ausgehalten werden und verlangt daher eine Neuverschaltung der Nervenzellen im Gehirn für den Erwerb elementarer Fähigkeiten.

     

    Alle Mütter profitieren

     

    Auffallend viele Bücher wollen Frauen trösten, nur ganz selten dokumentieren sie, wie die Pulitzer-Preisträgerin Katherine Ellison, was Mütter alles an Fähigkeiten hinzugewinnen (siehe Buchtipp). Das hat natürlich nicht nur mit der mangelnden gesellschaftlichen Wertschätzung der Mutterrolle zu tun. Insgesamt ist viel zu wenig bekannt, was Elternschaft bedeutet und welchen körperlichen Gewinn sie für das spätere Leben schafft. Es wird immer deutlicher, wie sehr nicht nur Mütter, sondern auch Väter von Kindern profitieren. Eine aktuelle Arbeit von der London School of Economics in Großbritannien belegt, dass Eltern von ihren Kindern bis in hohe Alter profitieren, Kinder halten buchstäblich geistig jung. Der sonst zu beobachtende kognitive Verfall, unweigerlich mit dem Altwerden verbunden, ist bei Eltern weniger stark ausgeprägt als bei Menschen ohne Kinder (Read & Grundy 2016).

    Die Arbeit zeigt auch, dass es einen eigenständigen positiven Effekt auf die Gehirnleistungen von Menschen hat, Kinder zu haben. Früher hieß es immer, dass die kognitive Leistung eher den Sozialstatus widerspiegelte, aber diese Arbeit zeigt, dass unabhängig davon alle Schichten davon profitieren, wenn sie Kinder großziehen. All jene, die wie Hebammen die Frauen in der oft hormongeschüttelten Phase nach der Geburt begleiten, können Mütter somit nur nachhaltig bestärken. Sie sollten sie beruhigen mit dem Wissen, dass sie keineswegs an Leistungsfähigkeit eingebüßt, sondern sogar hinzugewonnen haben – selbst wenn es sich nach einer durchwachten Nacht nicht so anfühlt.

    Rubrik: Ausgabe 08/2016

    Erscheinungsdatum: 30.12.2020

    Quelle

    Kinder als Nervennahrung

    „Ich glaube, man kann kaum etwas Besseres für sein Gehirn tun, als ein Kind zu bekommen.“ Dieses Zitat steht auf dem Klappentext zu dem Buch „Mutter sein macht schlau“ von Katherine Ellison und ist zugleich die Quintessenz. Die Autorin gibt einen gut verständlichen Überblick darüber, welche kognitiven Fähigkeiten Frauen hinzugewinnen, wenn sie Mütter werden. Sie macht klar, warum gerade die Motivation, die Kinder zu schützen, Mütter in die Lage versetzt, das Beste aus sich herauszuholen. Obwohl das Buch schon ein Jahrzehnt alt ist, ist es auch heute noch lesenswert und hat nichts an Brisanz verloren.

    Katherine Ellison: Mutter sein macht schlau. Kompetenz durch Kinder. Kunstman Verlag 2006. München. ISBN: 978-3-88897-437-2

    Literatur

    Coghlan A: Baby Cells patch up mother’s brain. New Scientist. 17. August 2005 https://www.newscientist.com/article/mg18725134-300-baby-comes-with-brain-repair-kit-for-mum/

    Coghlan A: Fetus donates stem cells to heal mother’s heart. New Scientist. 26. November 2011. https://www.newscientist.com/article/dn21185-fetus-donates-stem-cells-to-heal-mothers-heart/

    Donath O: „#regretting motherhood" Wenn Mütter bereuen. Knaus Verlag. München 2016

    Eltern.de: Die Stilldemenz – Wenn Mama alles vergisst / www.muetterberatung.de http://www.muetterberatung.de/details/610/Die_Stilldemenz_%E2%80%93_Wenn_Mama_alles_vergisst_.html

    Eltern.de: Stilldemenz: Alles nur Einbildung? www.eltern.de. http://www.eltern.de/baby/neugeborenes/stilldemenz-alles-nur-einbildung

    Frankfurter Allgemeine Zeitung online vom 23. Mai 2016: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/interview-judith-hermann-ueber-ihr-buch-lettipark-14244080.html

    Göbel E: Die falsche Wahl. Wenn...

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