Gerechte Geburtshilfe im Wahlfach GenderMed

Ein wichtiger Meilenstein

Im November 2021 wurden Medizinstudierende erstmals in Deutschland zum Themenfeld »Gewalt unter der Geburt« unterrichtet. Die beiden Referentinnen kämpfen als Aktivistinnen für eine respektvolle Geburtshilfe und sehen in ihrem Seminar einen vielversprechenden Auftakt. Mascha Grieschat
  • In Zukunft sollen die Medizinstudierenden im Seminar »Gewalt unter der Geburt« mehr Zeit für Gespräche, Erfahrungsaustausch und Rollenspiele bekommen.

  • Anfang November folgte ich der Einladung der Universität des Saarlandes für das Wahlfach GenderMed, um einen Vortrag zu meinem Herzensthema »Gewalt im Kontext von Geburtshilfe« zu halten. Auf dem Weg in das hochmoderne Lehrgebäude der Universitätsklinik erschien am schwarz-grauen Himmel ein makellos klarer und selten schöner Regenbogen. Knapp vor dem zehnjährigen Jubiläum der weltweiten Aktion gegen Gewalt in der Geburtshilfe »Roses Revolution«, immer am 25. November, war es nun so weit: Das erste Mal in Deutschland würden Medizinstudierende offiziell zu diesem noch immer tabubehafteten Thema unterrichtet werden.

    Nach zehn Jahren als Geburtsaktivistin für respektvolle und gute Geburtshilfe sowie für bessere und gerechte Bedingungen für alle Beteiligten war das ein besonderer Moment. Vielerorts hat sich das Thema mittlerweile in Fortbildungen, in der Ausbildung und im Studium für Hebammen etabliert, nun ist es inklusive Lernzielformulierungen im Medizinstudium angekommen.

     

    Das erste Hochschulseminar in Homburg/Saar

     

    30 Studierende folgten meinem Vortrag zur Definition der Weltgesundheitsorganisation von Gewalt in der Geburtshilfe, zu aktuellen Forschungsergebnissen, zu den Patient:innenrechten sowie zu meiner Bundestagspetition für eine umfassende Geburtshilfereform. Bei der Analyse zu verschiedenen Facetten der Gewalt, zu den Hintergründen auf politischer, systemischer und individueller Ebene war es keine Veranstaltung mit Paukenschlag, sondern eher eine leise und bestimmte. Betroffene von geburtshilflicher Gewalt kamen in Bild, Text und Ton zu Wort: »Meine Geburt war eine einzige Misshandlung«, »Das war grenzenüberschreitend und menschenunwürdig«, »ein Massaker«, so lauten Zitate von Roses-Revolution-Teilnehmerinnen. Betretenes Schweigen, wissendes Nicken, ratlose Gesichter – dann Fragen, Zustimmung und spürbare gemeinsame Hoffnung: Das muss (noch) besser werden!

    Wir betrachteten dafür Handwerkszeug wie die »12 Steps« der International Childbirth Initiative für gute Geburtshilfe (ICI) (siehe Seite 48 ff.) oder die niedrigschwellige V.R.A.N.N.I.-Methode als Entscheidungshilfe (Betrachtung von Vorteilen, Risiken, Alternativen, Nichts tun, Notfall und Intuition).

    Meine Koreferentin war Catrin Domke vom Vorstand des Vereins Traum(a)Geburt e.V. Sie stellte im zweiten Teil des Vortrags die »Safety-Card« mit erwähnter V.R.A.N.N.I.-Methode vor: »Patient:innenreche sind Rechte von Schwangeren und Gebärenden und diese gilt es zu schützen« (siehe Link). Als gestandene Ärztin und Chirurgin mit eigener Posttraumatischer Belastungsstörung nach Gewalt unter der Geburt konnte sie nach dem Trauma nicht mehr als Ärztin praktizieren. Mit großer Authentizität präsentierte sie die gravierenden Auswirkungen der Gewalt – auf Mutter und Baby, auf das System Familie. Sie verdeutlichte die schwierige rechtliche Situation für Betroffene, beispielsweise nach einem medizinisch fragwürdigen Dammschnitt, ohne Gefährdung des Kindes, ohne Aufklärung und Zustimmung. Zwischendurch thematisierten wir herausfordernde Hierarchiekonstellationen oder Notfallsituationen und wie der Umgang damit gut gelingen kann. Es ist immer eine Frage der Haltung.

     

    Viel Gesprächsbedarf

     

    In der anschließenden Diskussion nach beiden Vorträgen wird im Plenum festgehalten, dass Interventionen selbstverständlich nicht per se schlecht sind. Es geht häufig weniger um das Was. Es geht um das Wie. Also nicht in erster Linie darum, dass eine Intervention durchgeführt wird, sondern wie darüber aufgeklärt, wie sie besprochen, begleitet und ausgeführt wird. Es klingt für einige möglicherweise banal. Aber genau diese Inhalte, der Perspektivwechsel, das Hervorheben der hohen Bedeutung der Art und Weise der Behandlung mit zugewandter respektvoller Kommunikation, die Reflexion der eigenen Haltung, können am Ende in der individuellen Betreuungssituation für eine Familie, für eine Frau den entscheidenden Unterschied machen. Den Unterschied zwischen Traum- und Traumageburt, den Unterschied zwischen dem Gefühl: Geburt überlebt oder erlebt haben.

    Wie bereits in der Pause gab es im Anschluss viel Gesprächsbedarf. Schnell sind die Flyer vergriffen für ein Hilfeangebot von der International Society for Pre- and Perinatal Psychology and Medicine (ISPPM e.V.) und von meinem Verein, der Bundeselterninitiative Mother Hood e.V. Beim kostenfreien Hilfetelefon nach schwieriger Geburt dürfen für ein Gespräch mit erfahrenen Psychologinnen neben unmittelbar Betroffenen auch diejenigen anrufen, die Zeug:innen von Gewalt wurden oder dies in der Ausbildung erlebt haben. Wenn die eigene Klinik keine Supervisionsmöglichkeit bietet, kann das wichtig sein.

     

    Die Nachfrage ist da

     

    Unser Zweier-Team wurde direkt erneut eingeladen, 2022 für den nächsten Jahrgang das Seminar zu wiederholen und anzupassen. Die Evaluation hat bereits ergeben, dass es verlängert und auf zwei Tage in Vortrags- und Trainingseinheit aufgeteilt wird. Dann wird es ausreichend Raum geben, in Rollenspielen Verhalten zu reflektieren. Auch eigene Überforderungssituationen und Gewalterfahrungen in der Ausbildung könnten weiter vertieft werden.

    Die mutigen Initiatorinnen, die Studentinnen Hanna Müller und Miriam Kunz wurden belohnt, denn die Gleichstellungsbeauftragte Dr. phil. Sybille Jung sowie der leitende Oberarzt der Psychosomatik PD Dr. med. Michael Noll-Husson haben den Zahn der Zeit erkannt. Mit zukunftsweisenden Wahlfachinhalten bieten sie angehenden Ärzt:innen und Gynäkolog:innen die Möglichkeit, sich frühzeitig und intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen. Dieser biopsychosoziale Blick auf Weiblichkeit und Gender wird eine neue Generation von Ärztinnen und Ärzten prägen.

    Mit dieser Auftaktveranstaltung in Homburg hat still und leise ein neues – ein gutes Kapitel in der Geburtshilfe begonnen.

     

    Die Koalition lässt hoffen

     

    Wie viele Betroffene könnte man vor langfristigen physischen und psychischen Schäden bewahren, wenn einfache Verhaltensregeln zum respektvollen Umgang angewandt und das System sich entsprechend ändern würden? Die Bedeutung und der Anstieg von psychischen Erkrankungen sind allgemein bekannt (DGPPN 2021). Die konkrete Forderung der Weltgesundheitsorganisation zur Bekämpfung von Gewalt in der Geburtshilfe ist seit Jahren ausgesprochen (WHO 2014). Und in den letzten Jahren sind die Schätzungen zum Thema handfesten Zahlen gewichen, sogar Der Spiegel berichtet von Lea Beck-Hiestermanns Studie an 15.000 Müttern mit den schockierenden Ergebnissen von 38 % physischer Gewalt, 36 % Vernachlässigung, 29 % psychischer/verbaler Gewalt und 23 % Gewalt bei der Mutter-Kind-Beziehung wie etwa Trennung (Engel 2020).

    Es bleibt zu hoffen und zu fordern, dass die Politik auf Landes- und Bundesebene aktiv eingreifen und unterstützen wird – ganz im Sinne der Istanbul-Konvention, die besagt, dass sämtliche Gewalt gegen Frauen aktiv bekämpft werden muss. Die von der Ampel-Koalition geplante Umsetzung des Nationalen Gesundheitsziels »Gesundheit rund um die Geburt« in einem Aktionsplan ist ein wichtiger Schritt, auch wenn Gewaltprävention darin kein explizites Thema ist. Am Ende gilt es, auf politischer Ebene das System den Bedürfnissen der Schwangeren und Gebärenden, der Familien und der Menschen, die darin arbeiten, anzupassen. Das Vorhaben des Koalitionsvertrags, eine bedarfsgerechte Finanzierung der Geburtshilfe kurzfristig umzusetzen, scheint der richtige Weg (Koalitionsvertrag S. 86).

    Doch für all diese Ziele braucht es rasche Taten, die den Versprechen folgen. Wie kann es sein, dass der deutschlandweite Trend zu Kreißsaalschließungen derweil politisch ungebrochen bleibt, was für betroffene Familien oftmals eine schlechtere Versorgung (weite Wege, fehlende Eins-zu-Eins-Betreuung) und somit strukturelle Gewalt bedeutet? Gleichzeitig finden viele Frauen keine Hebamme für die Wochenbettbetreuung. Darum muss das Thema Gewalt im Kontext von Geburtshilfe mit all seinen Facetten dringend politisch anerkannt und im Sinne der WHO-Forderungen konkret bearbeitet werden. Die Rahmenbedingungen für sichere und respektvolle Geburtshilfe werden sich nicht von allein verbessern.

    Der Schleswig-Holsteinische Hebammenverband äußerte sich nach den letzten Kreißsaalschließungen in Eckernförde (Dezember 2021) und Ratzeburg (Februar 2022) zutiefst besorgt und fordert in einem Brandbrief an Ministerpräsident Daniel Günter einen Paradigmenwechsel (Hebammenverband Schleswig-Holstein 2022). Für einen Wandel in der Geburtshilfe braucht es umfangreiche Reformen und zwar lieber gestern als morgen.

    Rubrik: Ausgabe 03/2022

    Erscheinungsdatum: 24.02.2022

    Literatur

    DGPPN – Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V.: Basisdaten Psychische Erkrankungen. August 2021, S.1 https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/17452fbcf559a53a36e71334cde8d18e8d6793fa/ ?20210727_Factsheet_Kennzahlen.pdf

    Engel HM: Ich wollte nur noch sterben. DER SPIEGEL, 21.11.2020, S.45

    Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/DIE GRÜNEN und FDP, 2021, https://www.bundestag.de/resource/blob/870238/cf3d58c538b983e957d459ec6c7? baee9/koalitionsvertrag-data.pdf S.85.

    Hebammenverband Schleswig-Holstein: Situation der Geburtshilfe im Land Schleswig-Holstein. 2022. https://hebammen-sh.de/wp-content/uploads/202 20207_Brandbrief_?Hebammenverband-SH_.pdf

    The International Childbirth Initiative (ICI): 12 Steps to Safe and Respectful MotherBaby-Family Maternity Care. 2020. https://icichildbirth.org/wp-content/uploads/2021/04/ICI_International-Childbirth_2021.4.pdf

    World Health Organization: The...

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