High-Need-Babys

Einfach nur anstrengende Kinder?

Einige Babys haben besondere Bedürfnisse – so wie auch manche Eltern. Im vergangenen Jahrhundert kursierten strenge Erziehungskonzepte, die für diese besonderen Anforderungen der Kinder keinen Platz ließen. Ein amerikanisches Ehepaar nahm in den 1980er Jahren Konzepte auf, die es Eltern erleichtern sollten, ihre Kinder in ihren ureigenen Bedürfnissen wahrzunehmen und auf sie einzugehen. Ihr viertes Kind hatte sie dazu bewogen. Dr. Stephan Heinrich Nolte
  • Die Bedürftigkeit von Säuglingen, überhaupt von Menschen, ist sehr unterschiedlich und von vielen äußeren Dingen abhängig.

  • Unsere sich ständig wandelnde Sprache ist um einen Anglizismus reicher geworden – und zwar um einen Begriff, den das amerikanische Ehepaar Martha und William Sears eingeführt hat: »High-Need-Babys«. Auf Deutsch könnte man es auch einfach »hoch bedürftige Kinder« nennen. Dass Kinder unterschiedlich bedürftig sind ist so klar, wie eben Menschen insgesamt verschieden sind. Was ist denn eigentlich »normal«? Die Bandbreite dessen, was »normal« ist, wird zunehmend von allen Seiten von neuen Begriffen und Kategorien eingeengt, von denen wir heute viele haben: Sprach man früher vom »unruhigen Säugling«, von Schreikindern, von Schlafstörungen müssen heute Bezeichnungen wie Hypersensitivität, Aufmerksamkeitsstörungen, oder andere, besondere Temperamente beschreibende Begriffe her, so auch die Umschreibung »High-Need Baby«.

    Die SchöpferInnen dieses Neologismus sind das Ehepaar Sears. Er ist niedergelassener Kinderarzt in Pasadena, Kalifornien, Professor für Kinderheilkunde an der Universität von Südkalifornien in Irvine, tritt in Fernsehshows als »Dr. Bill« auf, hält Vorträge über Kinderbetreuung und Erziehung und hat 1982 den Begriff »Attachmend Parenting« für eine bindungsorientierte und bedürfnisorientierte Erziehung geprägt. Auf Deutsch erschienen ist das Konzept 2001 als Buch unter dem Titel: »Das Attachment Parenting Buch: Babys pflegen und verstehen«. Zuvor war von ihm 1998 »Das 24-Stunden-Baby: Kinder mit starken Bedürfnissen verstehen« und 1999 »Schlafen und Wachen, ein Elternbuch für Kindernächte« erschienen.

    Martha Sears, Krankenschwester, aktive La Leche Liga-Stillberaterin, Ratgeberautorin und, wie sie von sich selbst sagt, «professional mother” ist mit ihrem Ehemann Bill Elternteil von acht Kindern, wovon eines adoptiert war. Eines von ihnen hat sie gelehrt, was ein »High-Need-Baby« ist. Die ersten drei waren »einfache« Kinder, und Bills kinderärztliche Erfahrungen vor der Geburt des Vierten waren die, dass er wenig Verständnis für Eltern in seiner Praxis hatte, die erschöpft von ihren fordernden und anstrengenden Neugeborenen und Säuglingen berichteten. Durch die Erfahrungen mit ihrem vierten Kind, einer Tochter, entwickelte das Ehepaar Sears zwölf Kriterien, die ein »High-Need-Baby« auszeichnen (siehe Kasten).

     

    High-Need-Baby: Die zwölf Kriterien des hochbedürftigen Kindes nach Sears

     

    1. Intense: Es ist intensiv, unruhig und wirkt getrieben mit einem starken Bedürfnis nach Nähe. Es ist aktiv und neugierig.
    2. Hyperactive: Es ist ständig in Bewegung und angespannt.
    3. Draining: Es ist anstrengend und saugt die Eltern förmlich aus.
    4. Feeds frequently: Es will ständig gefüttert werden.
    5. Demanding: Es ist fordernd und ständig im Befehlston: jetzt und sofort!
    6. Awakens frequently: Es wacht ständig auf, benötigt wenig Schlaf.
    7. Unsatisfied: Es wirkt unzufrieden.
    8. Unpredictable: Es ist unberechenbar mit starken Stimmungsschwankungen.
    9. Super-sensitive: Es ist übersensibel: Nimmt alles um sich herum wahr, kleinste Geräusche wecken es auf.
    10. Can’t put baby down: Es will ständig getragen werden, lässt sich nicht ablegen
    11. Not a self-soother: Es kann sich nicht selbst beruhigen, findet nicht allein zur Ruhe oder gar in den Schlaf.
    12. Separation sensitive: Es hat Trennungsprobleme: kann sich schwer trennen und fürchtet sich vor Neuem und Fremden.

     

    Auf Bedürfnisse eingehen

     

    Jedes Baby wird wahrscheinlich zu bestimmten Zeiten einige dieser Eigenschaften haben, die nicht kategorial, sondern dimensional gemeint sind. Nicht ja oder nein, sondern wie viel davon und wann. Die Bedürftigkeit von Säuglingen, überhaupt von Menschen, ist sehr unterschiedlich und von vielen äußeren Dingen abhängig. Wichtig ist, dass diese Eigenschaften nicht gewertet, sondern lediglich beschrieben werden – es liegen ja auch Stärken darin. Es ist eben nicht immer alles gut. Jedes Kind ist einzigartig und hat seine individuellen Bedürfnisse.

    Der Umgang mit dem sehr bedürftigen Kind wird bei dem Ehepaar Sears zum Rahmen des Konzepts des »Attachment Parenting«, einer bindungsorientierten oder auch bedürfnisorientierten Erziehung. Sie haben das Konzept seit den 1980er Jahren zur Förderung der frühen Eltern-Kind-Beziehung, insbesondere der Mutter-Kind-Bindung entwickelt. Die Bezugsperson soll möglichst viel Zeit in enger körperlicher Nähe mit dem Kind verbringen und auf alle Signale des Säuglings reagieren (Responsives Verhalten). Dazu beschrieben Bill und Martha die »7 BABY B’S« als Handwerkszeug des »Attachment parenting«. Erst später wurde das Konzept mit den Erkenntnissen aus der Bindungsforschung unterfüttert.

     

    »7 BABY B’S«: Faktoren des »Attachment parenting«

     

    • Bonding: Kontaktaufnahme nach der Geburt
    • Breastfeeding: Stillen
    • Babywearing: Tragen des Säuglings
    • Bedding: Wie Schlafen? Familienbett
    • Belief: Glauben an eine Aussage, wenn das Kind schreit
    • Beware: Hüte Dich vor Besserwissern
    • Balance: Ausgeglichenheit

     

    Erziehungskonzepte im Wandel

     

    Um die Besonderheiten dieses uns heute so selbstverständlich erscheinenden Konzeptes zu verstehen, muss etwas ausgeholt werden: Zwei Schulen waren es, die Erziehungskonzepte ab Beginn des 20. Jahrhunderts prägten: die wissenschaftliche Pädiatrie und die Verhaltenspsychologie. Für die wissenschaftliche Pädiatrie entstanden Vorstellungen zur Kindererziehung, die eigentlich für die Ausbildung von Kinderkrankenschwestern vorgesehen waren. Diese hatten sich aufgrund der hohen Säuglingssterblichkeit des beginnenden Industriezeitalters vor allem in Findelhäusern und Säuglingspflegeanstalten etabliert und beruhten auf wissenschaftlichen Einsichten zur Pathologie und Physiologie des Säuglings, insbesondere seiner Ernährung, aber auch zur Pflege.

    Die zweite entscheidende Schule war die der Verhaltensforschung des Psychologen John B. Watson (1878–1958), die das Verhalten unter Ausklammerung des Beziehungsaspektes rein mit naturwissenschaftlichen Methoden, ohne Introspektion und Einfühlung erklären will. Watson forderte in seinem 1928 erschienenen Werk »Psychological Care of Infant and Child« (Watson 1928), dass dem Kind die Mutterliebe entzogen werden soll, bevor es sieben Jahre alt wird. Denn Mutterliebe mache das Kind abhängig, Liebkosungen würden das psychische Wachstum und den späteren Erfolg im Leben behindern. Kinder sollten nicht auf den Arm genommen werden, die Sauberkeitserziehung mit acht Monaten abgeschlossen sein. Es solle sich nicht zu sehr an vertraute Personen gewöhnen und möglichst viel allein gelassen werden.

    Solche Erziehungskonzepte, die vor dem Zweiten Weltkrieg populär waren, erfuhren in Deutschland während des Nationalsozialismus großen Zuspruch. Die Erzieherin der Nation war während dieser Zeit Johanna Haarer (1900–1988), Autorin von Schwangeren- und Erziehungsratgebern, wie »Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind«, die auch nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland in bereinigter Form weiter verbreitet blieben und damit die Erziehungskonzepte der Kriegs- und der Nachkriegsgenerationen prägten (Ahlheim 2012), während ihre Werke in der DDR auf der Liste der auszusondernden Literatur standen. Das geschah eher aus ideologischen als aus inhaltlichen Gründen, denn die rigiden Erziehungskonzepte der pädiatrischen und der behavioristischen Schule wurden in den weit verbreiteten Kinderbetreuungseinrichtungen weitergeführt.

    In den USA war es Benjamin Spock (1903–1998) mit seinem berühmten Buch »Säuglings- und Kinderpflege«, 1946, dessen Originaltitel »The Common Sense Book of Baby and Child Care« bereits verrät, worum es geht: »Vertrauen Sie sich. Sie wissen mehr als Sie glauben. Nehmen Sie nicht alles zu ernst, was die Nachbarn sagen. Lassen Sie sich nicht zu sehr von dem beeindrucken, was die Experten sagen. Fürchten Sie sich nicht, Ihren gesunden Menschenverstand zu gebrauchen«. Sein Buch wurde in den USA das meistverkaufte Buch des 20. Jahrhunderts und hatte auf die Erziehung der Nachkriegsgenerationen großen Einfluss.

    Im Rahmen der ersten ökologischen Bewegung in den 1970er Jahren mit dem erneuten Aufruf »Zurück zur Natur«, der 200 Jahre nach Rousseau erneut aufhallte, kam es aufgrund der Beobachtung von Naturvölkern zu einer Bewegung, die im Wesentlichen mit dem Namen der Autorin Jean Liedloff verbunden ist. Sie stellte bei den Ye`kuana in Venezuela fest, dass dort die Kinder im ersten Lebensjahr ständig auf dem Arm oder am Körper getragen und nach Bedarf gestillt werden. Kinder schlafen bei den Eltern, bis sie selbst im Alter von zwei bis vier Jahren aus dem Familienbett ausziehen würden . Bestrafungen und Ermahnungen gebe es nicht, die Kinder würden zu freundlichen, friedlichen und selbstbewussten Menschen. Mit ihrem Buch »Auf der Suche nach dem verlorenen Glück« (1975) übertrug sie ihre Erfahrungen auf »westliche Mütter«: zu stillen, Babys zu tragen und im gemeinsamen Bett schlafen zu lassen. In den 90er Jahren zeigte T. Berry Brazelton anhand seiner Forschungen, dass auch Säuglinge schon die Kompetenz besitzen, sich selbst und ihre Gefühle von Geburt an zum Ausdruck zu bringen, und entwickelte dazu ein viel gebräuchliches Testverfahren (Brazelton & Nugent 2011). Diese Signale zu erkennen und auf sie zu reagieren ist eine natürliche Fähigkeit, der man sich anvertrauen und seinem eigenen Urteil folgen darf, so der Tenor des Buches »Die ganz normalen Katastrophen: des gesunde und das kranke Kind in den ersten Lebensjahren.« (Brazelton 1987).

     

    Der Schlüssel zu kompetenter Elternschaft

     

    Zurück zum Ehepaar Sears: Sie kamen bestärkt durch die Schriften Liedloffs zu ihren Vorstellungen, die sie zuerst »Kontinuumkonzept« und »Immersionsmutterschaft« (immersion mothering) nannten. Explizite Verweise auf die Bindungstheorie und die Schriften John Bowlbys und Mary Ainsworth finden sich in den Searsschen Publikationen erst seit 1987. Seither wurde das zuvor »Creative Parenting« genannte Konzept in »Attachment Parenting« umbenannt, um den Bezug zur Bindungstheorie herzustellen.

    Wie sind nun die erfahrenen TheoretikerInnen, die Eheleute Sears, mit der Überraschung umgegangen, dass das vierte Kind andere, mehr Bedürfnisse hatte als die offensichtlich ruhigeren und ausgeglicheneren älteren Geschwister ? Vier Kinder sind eine große Aufgabe – auch vor 50 Jahren. Und beide Eltern hatten offensichtlich ehrgeizige eigene Pläne. Sie bemühten sich, dieses Mehr an Bedürftigkeit anzuerkennen, zu erfüllen und nicht dagegen anzukämpfen. Sie versuchten, die Kinder unter sich aufzuteilen, mit Hayden rauszugehen, das Ganze zu entzerren und dafür zu sorgen, dass es ihnen selbst einigermaßen gut geht – denn nur die Person kann ihre Elternrolle ausfüllen, die ausgeruht und ausgeglichen ist. So banal das auch klingt, ist es doch einer der Schlüssel zu kompetenter Elternschaft.

     

    Fordernd, unruhig, übersensibel, unvorhersehbar

     

    Ich weiß nicht, wie es den Eheleuten Sears gegangen ist, aber kann aus meiner eigenen Erfahrung mit fünf Kindern berichten, dass das dritte nach zwei »mustergültigen« Babys auch ein »High-Need-Baby« war: Sehr fordernd, sehr unruhig, übersensibel, unvorhersehbar. Alle Kriterien, die oben aufgeführt wurden. Wenn ich die damalige Zeit und die Begleitumstände kritisch hinterfrage, muss ich mir eingestehen, dass wir damals völlig überfordert waren: Wir hatten zwei Kleinkinder von drei und eineinhalb Jahren, lebten auf 66 Quadratmetern und standen im Umzug mit notwendigen Renovierungsarbeiten. Meine berufliche Zukunft, Pädiater zu werden, schloss notwendige Ortswechsel nicht aus. Damals, Anfang der 1980er Jahren, war es sehr schwer, eine Stelle in der Kinderheilkunde zu bekommen. All diese Unsicherheiten haben – neben dem Temperament unseres Sohnes – sicher zu der Symptomatik beigetragen.

    Von den psychosozialen Begleitumständen erfahren wir bei Sears nichts. Meiner Erfahrung nach spielen sie eine eminente Rolle: High-Need-Children have High-Need-Parents! Dies sollte im Umgang mit den Familien berücksichtigt werden.

    Rubrik: Ausgabe 1/2021

    Erscheinungsdatum: 22.12.2020

    Literatur

    Watson JB: Psychological Care of Infant and Child. WW Norton & Company. New York 1928

    Liedloff J: The Continuum-Concept, In Search of Lost Happiness. Duckworth. London 1975

    Brazelton TB, Nugent JK: The Neonatal Behavioral Assessment Scale. Mac Keith Press. Cambridge 2011

    Brazelton TB: Die ganz normalen Katastrophen: des gesunde und das kranke Kind in den ersten Lebensjahren. Piper. München 1987

    Spock B: The Common Sense Book of Baby and Child Care. Duell, Sloan, and Pearce. New York 1946

    Ahlheim R, Haarer J: Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind: Die Autobiografien der erfolgreichsten NS-Erziehungsexpertin und ihrer jüngsten Tochter Offizin-Verlag. Hannover 2012

    Sears W, Sears M: Das Attachment Parenting Buch: Babys pflegen und verstehen. Tologo Verlag. Leipzig 2012

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