Gebärenden zuhören
Eine der zentralen Fragen, mit der Gebärende bei einer geplanten Klinikgeburt in der Latenzphase konfrontiert sind, lautet: Wann soll ich losfahren? Der Entscheidungsprozess umfasst die Ängste, diesen Zeitpunkt zu früh oder zu spät zu wählen. Die Unsicherheit einer Gebärenden während der Latenzphase wird dadurch verstärkt, dass zu diesem Zeitpunkt häufig keine klaren Aussagen zum Verlauf der Geburt ausgesprochen werden können.
Man weiß heute, dass die Latenzphase neurohormonale, emotionale und physikalische Veränderungen umfasst. Diese können von Frau zu Frau individuell verschieden sein und unterschiedlich lang dauern. Bei der Aufnahme der Gebärenden in eine Geburtsklinik müssen Hebammen häufig strikten Leitlinien folgen, die jedoch individuelle Veränderungsprozesse außer Acht lassen: Was jedoch erlebt die Gebärende und wie nimmt sie selbst ihren Geburtsbeginn wahr? Wie schätzen Hebammen Gebärende diese Situation ein? Was benötigen Gebärende in der Latenzphase wirklich?
Zu diesem umfassenden Themenkomplex der Latenzphase wurde kürzlich eine Sekundärdatenanalyse durchgeführt. Die Daten stammten aus einer ethnografischen Studie der Hebamme Nancy Iris Stone, die ihre Erhebungen 2015 in einem Geburtshaus in Deutschland durchgeführt hat. In der Sekundärdatenanalyse wurden die Interviews von Gebärenden mit spontanem Geburtsbeginn (n=23) sowie den dortigen Hebammen (n=17) analysiert.
Das Ziel der aktuellen Sekundärdatenanalyse umfasste, Erfahrungen von Gebärenden mit ihrem erlebten Geburtsbeginn sowie den Erfahrungen von Hebammen zu evaluieren, die die Gebärenden während dieser Geburtsphase begleiteten. Fokussiert wurde auf die Vielfalt verschiedener Interaktionen zwischen Gebärenden und Hebammen bei Geburtsverläufen in Geburtshäusern, die keinen strikten klinischen Leitlinien folgten.
Die Latenzphase »kultivieren«
Die Daten zeigten ein zentrales Thema auf: »Cultivating the latent phase« – die »Veredlung« oder Kultivierung der Latenzphase. Dieses zentrale Thema umfasst drei Unterthemen: kleine Veränderungen wahrnehmen, Strategien für den Umgang mit der Latenzphase zu Hause entwickeln und die Entscheidung treffen, ins Geburtshaus zu fahren.
Viele Gebärende berichten von kleinen Veränderungen, einer Zunahme der Frequenz der Wehentätigkeit, ihrem Schmerzempfinden sowie dem Geburtsverlauf. Sie verwenden verschiedene Strategien, um mit der beginnenden Geburt während der Latenzphase zu Hause einen guten Umgang zu finden. Sie berichten, dass die Latenzphase durch gute Entscheidungen und Strategien der Umsetzung von Ruhe und Gelassenheit als aufgewertet erlebt werden kann.
Eine Frau berichtete: »Ich nahm ein Wannenbad … hatte alle fünf Minuten Kontraktionen … nach dem Bad lag ich für eine halbe Stunde auf dem Sofa und dann verbrachte ich Zeit im Bett neben meinem Mann. Immer wieder wachte ich auf …« (Lilli, IGrav/IPara).
Ruhe und Gelassenheit gelingen dabei nicht immer. Nachdem bei Lilli die Kontraktionen regelmäßig stattfanden, berichtet sie von einem Anflug leichter Panik, die dazu führte, ins Geburtshaus zu fahren. Andere Gebärende reagierten mit Gelassenheit auf die beginnende Wehentätigkeit. Gründe für die Entscheidung, ins Geburtshaus zu fahren, umfassten bei anderen Gebärenden schmerzhaft erlebte Wehentätigkeit oder einen Blasensprung.
Hebammenbetreuung während der Latenzphase
Alle Gebärenden im Geburtshaus wurden nicht direkt nach ihrer Ankunft vaginal untersucht. Zunächst begrüßten Hebammen die Gebärende und ihren Partner und begleiteten sie in den vorbereiteten Gebärraum. Dort nahm sich die Hebamme für 10 bis 20 Minuten Zeit für die Kontaktaufnahme und die Erstuntersuchung. Diese umfasste bei allen Hebammen ein Gespräch mit der Gebärenden, wenn lange Wehenpausen vorhanden waren. Der Wehenschmerz selbst wurde von der Hebamme nur thematisiert, wenn die Gebärende allein darauf zu sprechen kam. Ansonsten verließ die Hebamme bei beginnender Wehentätigkeit bewusst den Raum und vereinbarte, dass die Gebärende sie holen soll, wenn diese das Gefühl habe, nun im Geburtshaus angekommen zu sein. Die Hebammen »kultivieren« die Latenzphase durch Vertrauen in die Gebärende und ihre Wahrnehmungs- und Entscheidungsfähigkeit hinsichtlich ihres Geburtsverlaufs.
Die forschende Hebamme Nancy Iris Stone erlebte hierzu folgende Situation: »Annika kam mit ihrem Mann gegen zwei Uhr. Daniela, die Geburtshaushebamme, begleitete die beiden in den kleinen Gebärraum. Nach ungefähr 20 Minuten kam Daniela zu mir und berichtete, dass Annika kaum Kontraktionen habe … Ich fragte daraufhin, was sie tun wird – sie heimschicken? Daniela entgegnete: ›Absolut nicht‹, und begründet: ›Die Gebärende sagt, sie sei unter der Geburt.‹ Daniela ergänzte weiter: ›Sie wird nun gut in die Geburt hineinfinden.‹«
Die Hebammenbetreuung ist geprägt durch Vertrauen in das Empfinden der Gebärenden, was sich auch darin widerspiegelt, dass vaginale Untersuchungen selten durchgeführt werden.
Vaginale Untersuchungen selten
Die Beobachtungsdaten der Sekundärdatenanlyse zeigen auf, dass vaginale Untersuchungen selten durchgeführt wurden und die Ergebnisse derselben während der Latenzphase keinen entscheidenden Faktor für die Aufnahme in das Geburtshaus darstellten. Interessant in diesem Zusammenhang: Vaginale Untersuchungen wurden zum Teil sehr spät im Geburtsverlauf durchgeführt. So berichtet eine Gebärende: »Sie (die Hebamme) fragte mich einige Zeit später, nachdem ich ankam, ob ich vaginal untersucht werden möchte … sie vermutete einen Geburtsfortschritt. Ich stimmte dieser vaginalen Untersuchung zu … sie untersuchte, während ich badete und mein Muttermund war zu diesem Zeitpunkt 8 cm eröffnet.« (Marie, IGrav/IPara)
Die Daten zeigen zudem auf, dass Gebärende aktiv in die Entscheidungen einbezogen wurden, was die Ergebnisse der vaginalen Untersuchung sowie andere diagnostische Daten, wie beispielsweise die Anzahl an Kontraktionen in ein anderes Licht stellte. Es wurde nicht über die Gebärende hinweg entschieden, sondern sie war maßgeblich an Entscheidungsprozessen beteiligt.
Die körperliche Einschätzung der Gebärenden im Fokus
Die Autorinnen zeigen auf: Die Erfahrungen der Gebärenden selbst, sowie die Bedeutung, welche ihr die Gebärenden und die Hebamme geben, werden in den Mittelpunkt der Betreuung während der Latenzphase gestellt.
Aufbauend auf der Bedeutung der Erfahrungen sowie der gemeinsamen Beurteilung werden weitere Entscheidungen getroffen. Die Autorinnen fassen zusammen, dass dadurch eine respektvolle Begleitung Gebärender während der Latenzphase möglich ist: durch die bewährte Praxis, Gebärenden während der Latenzphase zuzuhören. Ihren Bedürfnissen wird Raum gegeben. Damit wird der Gebärenden direkt und unmittelbar begegnet und Entscheidungen werden nicht für, sondern gemeinsam mit der Gebärenden getroffen.
Quelle: Stone, N. I. & Downe, S. (2023). Women's experience of early labour in a free-standing birth centre: Midwifing embodied labour, Women Birth, 36(6), 538-545. https://doi.org/10.1016/j.wombi.2023.02.008 ∙ Beate Ramsayer/DHZ