Geburtshilfliche Interventionen: »Too much, too soon«
In den letzten drei Jahrzehnten wurde eine kontinuierliche Abnahme der mütterlichen Morbidität und Mortalität während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett beobachtet, was in den Zusammenhang mit der Durchführung notwendiger Interventionen gestellt wurde. Gleichzeitig wird ein Übermaß an Interventionen kritisiert, weil diese mehr schaden als nutzen können: Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt den Verzicht auf überflüssige Interventionen ohne medizinische Indikation in physiologischen Geburtsverläufen.
Das Ziel einer dänischen Studie bestand darin, drei geburtshilfliche Interventionen (Einleitung, PDA, Oxytocin sub partu) zu beschreiben und zu analysieren, die zwischen den Jahren 2000 bis 2017 bei erstgebärenden Frauen am Termin (n=380.326) in Dänemark durchgeführt wurden. Hinterfragt wurde, inwieweit die derzeit durchgeführte Betreuung aktuellen internationalen Empfehlungen zum Verzicht auf überflüssige Interventionen entspricht. Durchgeführt wurde eine retrospektive registerbasierte Kohortenstudie. Hierzu wurden die dänischen Perinataldaten des statistischen dänischen Bundesamtes ausgewertet.
Die Ergebnisse zeigten, dass weniger als die Hälfte aller erstgebärenden dänischen Frauen eine spontane Geburt ohne Interventionen hatte. Ungefähr ein Drittel aller erstgebärenden Frauen hatte zwei oder mehr geburtshilfliche Interventionen. Zwischen den Jahren 2000 und 2017 stieg die Prävalenz für eine Geburtseinleitung von 5,1 % auf 22,8 %. Eine PDA wurde im Jahr 2000 von 10,5 % der Frauen in Anspruch genommen, im Jahr 2017 von 34,3 %. Die Unterstützung der Wehentätigkeit sub partu nahm leicht von 40,1 % im Jahr 2000 auf 39,3 % im Jahr 2017 ab.
Die Wahrscheinlichkeit, mehr als eine dieser drei Interventionen zu haben, stieg von 12,8 % im Jahr 2000 auf 30,9 % im Jahr 2017 an. Es zeigte sich, dass nach einer Geburtseinleitung 65 % der Frauen zusätzlich Oxytocin während der Geburt erhielten. Die Wahrscheinlichkeit, nach einer Einleitung der Geburt noch zusätzlich Oxytocin und eine PDA zu erhalten, stieg von 14 % im Jahr 2000 auf 44 % im Jahr 2017. Frauen hatten nach einer Wehenunterstützung durch Oxytocin während der Geburt häufiger eine PDA, wobei die Wahrscheinlichkeit einer Kombination aus Oxytocin und PDA sub partu zunahm: Sie lag im Jahr 2000 bei 19 % und stieg auf 63 % im Jahr 2017 an.
2017 hatten drei von vier Frauen (75 %) eine Oxytocinunterstützung während der Geburt und mindestens eine weitere Intervention: 12 % hatten zusätzlich eine Geburtseinleitung, 37 % hatten darüber hinaus eine PDA und 26 % hatten ergänzend eine Geburtseinleitung und eine PDA.
Die Autor:innen diskutieren, dass eine Praxis des »too much, too soon« in Form einer zunehmenden interventionsreichen Begleitung eine zunehmende Herausforderung in der geburtshilflichen Betreuung darstellt. Aus ihrer Sicht zeigen die Daten eine Übermedikalisierung, die für die Gebärenden mehr Schaden als Nutzen bringt und aufgrund der Interventionskaskade auch zukünftig zu mehr überflüssigen Folgeinterventionen führt. Diese Entwicklung sollte kritisch reflektiert werden.
Die Autor:innnen schlussfolgern, dass sowohl die Anzahl der durchgeführten Interventionen insgesamt als auch pro Frau während des Studienzeitraums anstieg. Sie geben zu bedenken, dass geburtshilfliche Interventionen kurz- und langfristige Folgen haben können und eine sorgfältige Neubewertung erfordern: Das Prinzip »Nicht schaden« – »First do not harm!« – sollte stärker berücksichtigt werden.
Quelle: Rydahl, E., Juhl, M., Declercq, E. & Maimburg, R. D. (2021). Disruption of physiological labour; - A population register-based study among nulliparous women at term. Sex Reprod Healthc, 27, 100571. Doi: 10.1016/j.srhc.2020.100571 ∙ DHZ