Traumatischer Einschnitt
„Nach meiner Entbindung ging es mir zunächst gut. Ich war einfach nur glücklich, dass die Tortur der schweren, langwierigen und kräftezehrenden Geburt überstanden war. Nach wenigen Wochen wendete sich das Blatt und ich hatte das Gefühl, die Situation nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Aufgrund des Kaiserschnitts und des viel zu späten Anlegens hatte ich enorme Schwierigkeiten beim Stillen. Ich wollte es aber unbedingt, weil ich wenigstens das hinbekommen wollte. Es gab noch viele weitere Nebenerscheinungen des Kaiserschnitts, die mir Zeit und Energie geraubt und mich letztendlich in die Verzweiflung getrieben haben. Hilfe von außen habe ich nur bedingt erhalten. Die Hebamme und die Frauenärztin waren mit der Situation überfordert, so dass ich mir irgendwie selbst helfen musste. Zwischenzeitlich hatte ich das Gefühl, aus diesem Negativsog nicht mehr heraus zu kommen. Nächtliche Angstattacken und Schlaflosigkeit waren die Folge. Das Thema Geburt und Kaiserschnitt wurde zwar angesprochen, allerdings habe ich nie wirklich Verständnis und Anteilnahme erhalten. Es fielen Sätze wie: ‚Sei froh, dass ihr beide gesund seid, das hat Priorität.‘ Oder: ‚Meine Entbindung war so schlimm, ich hätte mir nachträglich einen Kaiserschnitt gewünscht‘, etc. Ich habe es irgendwann vermieden, das Thema anzusprechen. Die Zeit heilt alle Wunden … dachte ich.
So war es aber nicht. Ich spürte weiterhin eine tiefe, nicht fassbare Trauer in mir. Alpträume raubten mir den Schlaf, ich konnte die Wut und Enttäuschung über die schlechte Betreuung und Beratung im Krankenhaus nicht ablegen und habe mir selbst Vorwürfe gemacht, es nicht weiter auf natürlichem Wege – entgegen der Empfehlung der Ärzte – versucht zu haben." (Susanne, 37 Jahre)
Jede dritte Geburt in Deutschland endet als Kaiserschnitt. Viele Frauen erleben diese Schnittentbindung als belastend, besonders die sekundäre Sectio. Neben den körperlichen Auswirkungen sind es häufig auch die psychischen Verletzungen, die oft noch lange nach der Geburt spürbar sind. Narben an Bauch und Seele. Die Frauen berichten über die Traurigkeit eines verhinderten Geburtserlebnisses, Schuld- und Versagensgefühle, Schwierigkeiten in der Partnerschaft und Sexualität sowie in der Mutter-Kind- Beziehung und Stillprobleme. Das Selbstvertrauen leidet oder bricht. Häufig geben die Frauen sich selbst die Schuld. Sie zweifeln an ihrer Gebärfähigkeit, Weiblichkeit, Mütterlichkeit. Sie sind verletzt auf einer physischen, psychischen und sozialen Ebene.
Am häufigsten entstehen Traumata bei einem „Notfallkaiserschnitt" mit Vollnarkose und wenn Mutter und Kind getrennt werden, zum Beispiel weil das Kind intensivmedizinisch behandelt werden muss. Theresia Maria de Jong und Gabriele Kemmler schreiben in ihrem Buch „Kaiserschnitt. Wie Narben an Bauch und Seele heilen können": „Häufig haben Mütter Schwierigkeiten, das Baby in dem Bettchen neben sich als das ‚ihrige‘ zu begreifen. Das trifft besonders auf Mütter zu, die einen Kaiserschnitt mit Vollnarkose hatten und die Geburt nicht bewusst erleben konnten. Untersuchungen mit Tieren haben gezeigt, dass Schafe, die frei von jeglicher kulturellen Konditionierung sind, nach einer PDA kein Interesse an dem neugeborenen Lämmchen zeigen." (de Jong und Kemmler 2003, S.166). Das Gleiche wurde bei verschiedenen Affenspezies herausgefunden (Odent 2005).
Viele Frauen empfinden im Nachhinein: „Ich hatte eine Geburt und war nicht dabei."
Auch bei Kaiserschnitten ohne ausreichende oder gar nicht wirkende Anästhesie ist das Trauma groß.
„Ich habe gebrüllt vor Schmerz! Sie sagten nur, ,Das kann nicht sein‘ und haben mich aufgeschnitten, wie ein Stück Vieh auf der Schlachtbank … es hat geruckelt … brutalste Schmerzen … Mein Kind ist nicht geboren worden – sondern aus mir herausgerissen worden." (Carolina, 36 Jahre)
Das hat Folgen. Viele Frauen fühlen sich innerlich wie erstarrt, emotional taub, sind gleichzeitig schnell gereizt, reagieren aggressiv oder verängstigt. Manche leiden unter Alpträumen, fühlen sich überfordert und ziehen sich zurück. Diese Auswirkungen bis hin zu einer posttraumatischen Belastungsstörung passen so gar nicht in das vom Umfeld erwartete Bild der glücklichen Mutter, die doch froh sein sollte, dass letztendlich „alles gut" gegangen ist. Kummer, Angst, Schmerz, ein Gefühl des Ausgeliefertseins, Scham, Depression, Selbstvorwürfe, Versagensgefühle und Schuld sind Gefühle, die betroffene Frauen häufig beschreiben. Auch der Partner und die Angehörigen sind tief verunsichert: „Ist doch alles noch mal gut gegangen"; „Sei froh, dass du nicht in Afrika lebst"; „Hauptsache, das Kind ist gesund!" „Warum weinst du andauernd? Freust du dich nicht über dein Baby?"
„Schon die Wehen, mit PDA und kaum Bewegungsmöglichkeit, waren für mich schlimm. Ich fühlte mich so ausgeliefert und hilflos. Dann kam nach 36 Stunden plötzlich der Kaiserschnitt. Da so aufgeklappt zu liegen und ausgeräumt zu werden. Ich fühle mich seelisch so wund, so ausgeweidet. Das andere ist, dass ich meine Tochter habe schreien hören und ihr nicht helfen konnte. Stattdessen lag ich da wie festgenagelt – und das ja auch noch ein, zwei Tage danach. Wenn sie jetzt ähnlich schreit und ich sie nicht beruhigen kann, kommen alle Gefühle wieder hoch und ich fühle mich wie gelähmt." So beschreibt es eine junge Mutter im Internetportal www.babycenter.de.
Trauma als Überlebensstrategie
Diese Frauen erlebten einen seelischer Schock – ein Trauma. Bei einem Trauma erlebt die Person eine Extremsituation, auf die sie nicht vorbereitet ist und die ihre Bewältigungskompetenz überfordert. Ein Trauma ist keine Krankheit, sondern eine Überlebensstrategie (Levine 2011; Rothschild 2002)
Wenn eine Frau sich völlig unerwartet, häufig nach vielen Stunden Wehen, enttäuscht, traurig und am Ende ihrer Kräfte im OP wiederfindet, angeschnallt und bewegungsunfähig, kann sie weder fliehen noch kämpfen – so wie es im archaischen Notfallprogramm unseres Organismus in solchen Notsituationen vorgesehen ist. Aus dem Tierreich kennen wir in diesem Fall den „Totstellreflex". Ganz ähnlich ergeht es auch vielen Menschen, die sich in einer solchen Situation befinden, in der sie völlig machtlos sind: Die Bewegungsimpulse und die starken Gefühle entstehen zwar, werden aber sozusagen „eingefroren". Die in dieser Situation erlebten starken Emotionen und die vom Körper mobilisierte Energie können nicht spontan ausgelebt werden. Stattdessen werden sie aufgestaut, sie bleiben regelrecht im Körper stecken, die Betroffene erstarrt vor Schreck. Das Gehirn spaltet bestimmte Informationen und Gefühle ab, die verletzende Erfahrung wird vorerst „weggepackt", um diese überwältigende Situation zu überstehen. (Levine 2011; Berceli 2012)
Nach dieser Schockphase versucht unser Organismus, die abgespaltenen Inhalte wieder zu integrieren – typische Anzeichen sind Wechselbäder zwischen intensivem Durchleben der belastenden Erinnerungen und dem Vermeiden, dem „Gefühllos-sein". Diese Symptome sind beschwerlich, unangenehm und zusätzlich verunsichernd – jedoch ein Zeichen dafür, dass die Verarbeitung des traumatischen Ereignisses begonnen hat.
Der Heilungsprozess eines Traumas ist in jedem Menschen angelegt. Tatsächlich sind wir genetisch mit der Fähigkeit ausgestattet, uns selbst zu heilen. „Wenn wir diese Fähigkeit nicht besäßen, wäre unsere Art kurz nach ihrer Entstehung ausgestorben", schreibt David Berceli vom Norddeutschen Institut für Bioenergetische Analyse e.V. in Papenburg (Berceli 2012). Der Körper nutzt seine eigenen Wege der Heilung, wie er es seit Hundertausenden von Jahren tut. Um ein Trauma zu verstehen, muss man wissen, dass alle unsere körperlichen Systeme auf ein Ziel hin zusammenwirken: „Während des Traumas schützen sie uns, nach dem Trauma entspannen sie uns und lassen uns wieder gesund werden." (Berceli 2012) Viele Frauen sagen: „Ja, im Alltag merke ich das oft kaum – aber wenn ich mich nicht ablenke und mache und tue, dann kommt es mit Macht: Ich weine, bin traurig, verzweifelt, unglücklich, dann übermannt mich das alles wieder…". Häufig sind es auch sogenannte Trigger, die das Trauma wieder hochkommen lassen. Manchmal reicht es, ein Krankenhaus zu betreten, das Martinshorn eines Krankenwagens oder das Weinen des eigenen Kindes zu hören.
Heilung braucht Zeit
Traumatisierte Frauen brauchen Raum, Zeit, Geborgenheit, Entspannung, Verständnis, einen sicheren Rahmen und echtes Mitgefühl. Eine Mutter sagt: „Den Kaiserschnitt als Teil der eigenen Geschichte zu akzeptieren, braucht viel Zeit." (Katharina, 31 Jahre)
Die Verarbeitung von traumatischen Ereignissen unterliegt einem natürlichen Selbstheilungsprozess. Dieser ist so individuell wie die Betroffenen selbst. Daher arbeite ich in meiner Praxis für Geburtstrauma-Begleitung mit einem ganzheitlichen, salutogenetischen, individuell abgestimmten Konzept. Ich biete traumatologische Beratung zur Verarbeitung eines Kaiserschnitts für Frauen, Männer oder Paare in Einzelsitzungen an. Darüber hinaus biete ich intensive zweitägige Kleinst-Gruppenangebote für zwei bis vier Frauen an Wochenenden an. Inhaltliche Schwerpunkte sind zum Beispiel Zeit für sich selbst und die eigene Geburtsgeschichte, Narbenpflege für Körper und Seele mit aromatherapeutischen Heilölen, Anleitung von Heilritualen für zu Hause, Geburt nach Sectio und Weitere. Dabei arbeite ich auch mit körpertherapeutischen Methoden und Imaginationsverfahren wie zum Beispiel der „Heilreise", einer Methode, bei der mit inneren Bildern gearbeitet wird.
Bevor eine Frau erzählt, warum sie zu mir kommt, frage ich nach einer Stärke, auf die sie selbst stolz ist, zum Beispiel was sie gut kann, was ihr Freude bereitet. Aus therapeutischer Sicht aktiviere ich damit ihre Ressourcen und ihre Resilienz. Und ich begegne ihr auf Augenhöhe, indem ich ihr vermittele: „Du bist die Expertin für dich selbst." Auch duze ich meine Klientinnen, selbstverständlich nach Einverständnis. Das schafft eine Atmosphäre, in der die wichtige Basis des Heilungswegs entstehen kann – eine vertrauensvolle Beziehung.
In meiner Arbeit schaffe ich Bedingungen, unter denen die Selbstheilungskräfte der Frauen wirksam werden können. Dabei begleite ich die Frauen ganzheitlich und erinnere sie an ihre Selbstheilungs- und Ur-Kraft. Ich gehe davon aus, dass die Frauen alles in sich tragen, was sie brauchen, um wieder in ihr Gleichgewicht zu kommen. Das braucht häufig einen Rahmen, der diese Zuversicht spiegelt, und vor allem Zeit.
Körpertherapeutische Methoden ermöglichen zunächst, Kontakt zum eigenen Körper aufzubauen und Vertrauen in ihn entstehen zu lassen, damit seine gesunden Kräfte arbeiten können. Dann kann das Trauma aus der Körpererinnerung entlassen werden. „Ich trauere noch immer um so vieles, was ich gerne erlebt hätte in der Geburt und auch danach, und ich kann nicht ändern, was passiert ist. Aber ich habe in der Hand, wie ich mich in Zukunft daran erinnern werde." (Lu, 30 Jahre)
Anschauen, betrauern, loslassen
Die bremsende Energie des traumatischen Ereignisses wird erst befreit, wenn eine Frau ihren Schmerz, ihre Enttäuschung, ihre Angst, ihre Trauer nochmals anschaut und dann loslässt. Dabei ist Weinen ein wichtiger Teil zur Heilung: Tränen öffnen und heilen das Herz. Wichtige Stufen im Heilungsprozess sind anschauen, betrauern, loslassen. Dann kann ein Weg gefunden werden, sich selbst und dem Leben zu verzeihen!
Nora, 33 Jahre: „Du und die Frauen in der Gruppe habt mir Raum für meine Wut und Trauer gegeben, die mein Geburtserlebnis, der Kaiserschnitt, in mir ausgelöst hat. Du hast mir erklärt, warum mein Körper und meine Seele so reagiert haben. Ich habe verstanden, dass mit der Geburt eines (ersten) Kindes auch die Mutter geboren werden möchte und muss. Dafür braucht sie eine physiologische, selbstbestimmte Geburt in Geborgenheit und Liebe. Wenn dies nicht möglich ist, ist es schwieriger, die Reise anzutreten und eine gute Mutter-Kind-Bindung einzugehen. Wie soll Intuition auf einen kalten, mechanischen Akt wie den Kaiserschnitt folgen?! Wir Kaiserschnitt-Mütter brauchen mehr Hilfe und Zuwendung im Wochenbett, damit die Liebeshormone fließen können.
Ihr habt mir geholfen, mich selbst besser zu verstehen und milder mit mir zu sein. Zu hören, dass es viele Frauen mit einem ähnlichen Schicksal gibt, lässt die Selbstzweifel leiser werden. Es ist heilsam zu teilen. Ihr gebt mir die Zuversicht, wieder Mutter werden zu können und für mich und mein ungeborenes Kind zu kämpfen.
Das grässliche und angsteinflößende Etikett ‚Zustand nach Sectio‘ empfinde ich als tiefe Verletzung meiner Weiblichkeit und Gebärkraft. Es wird all meine Folgeschwangerschaften und Geburten maßgeblich begleiten. Ihr helft mir, Mut zu haben, um unser sehr erwünschtes zweites Kind zu empfangen und an die Chance einer natürlichen Geburt zu glauben."
Seit Anfang 2012 gibt es die „Begleitete Selbsthilfegruppe Köln für Frauen nach Kaiserschnitt und traumatisch erlebter Geburt". Ihr Wert liegt darin begründet, dass hier Frauen in geschütztem Rahmen mit ähnlichem Erfahrungshintergrund zusammenkommen, so dass ein offenes, vertrauensvolles Gespräch möglich ist. Die Selbsthilfegruppe hilft durch Solidarität und Verständnis der Frauen untereinander. Das Tabuthema bekommt Raum und es entsteht ein Austausch unter den Betroffenen in geschütztem Rahmen mit fachkundiger Begleitung. Wir lachen und weinen zusammen.
„Für mich war und ist die Selbsthilfegruppe der einzige Ort, an dem ich meinen Tränen um das, was geschehen ist, freien Lauf lassen kann. Alle Frauen dort können nachempfinden, was meine Seele quält." (Nici, 37 Jahre)
„Ich freue mich immer auf die Abende, da es eine Zeit nur für mich ist. Kein Baby, kein Ehemann, kein Haushalt, keine Verabredungen oder Ähnliches sind hier Thema, sondern ich. Ich finde es sehr befreiend und heilsam, diesem schmerzhaften Thema in dieser Weise Raum geben zu können, denn so kann eine Wunde wirklich heilen, statt durch den Alltag nur verdeckt zu werden. Die Kombination aus dem Zulassen der Gefühle und deren anschließender heilsamer ‚Bearbeitung‘ durch Gespräche birgt viel Potenzial, eine solche Erfahrung retrospektiv anders einzuordnen und somit besser zu verkraften, so dass sie nicht länger diese diffuse Schwere auf die Seele ausübt." (Johanna, 33 Jahre)
Außerdem dient die Gruppe der Informationsvermittlung über Literatur, Fachleute, Hilfemöglichkeiten und andere Gruppen, Heilungs-Rituale – es ist ungeheuer heilsam, zu hören und zu spüren, dass es anderen Frauen ähnlich oder genauso geht. Das häufig unausgesprochene Verstehen einer vergleichbar schwierigen Lebensphase macht diese Selbsthilfegruppe zu einem tragenden Stützpfeiler auf dem Heilungsweg der Frauen. Das Angebot richtet sich an Frauen und Angehörige gleichermaßen. Ich möchte dazu ermutigen, eine solche Selbsthilfegruppe zu gründen. Es sollte in jeder Stadt eine geben. Gern kann ich mit meinen Erfahrungen bei der Gründung unterstützen (siehe Kontakt).
Tabus brechen
Willkommen sind alle Betroffenen, ganz egal, ob die Kaiserschnittentbindung oder die als traumatisch erlebte Geburt schon Jahre zurück liegt oder gerade erst stattgefunden hat. Väter haben den Weg in die Gruppe bisher noch nicht gefunden. Dabei sind sie häufig selbst traumatisiert, erlebten sie doch ihr Kind oder ihre Partnerin in Lebensgefahr und waren dabei selbst völlig hilflos. Nicht zu vergessen, dass sie gerade Vater geworden sind und hilflos die eigene Frau, jetzt Mutter, in einem nie gekannten, oft desolaten Zustand erleben. Dies ist ein weiteres Tabuthema: die vergessenen Väter, die traumatisiert und co-traumatisiert sind.
Die Sensibilisierung für das Tabuthema „Trauma nach Kaiserschnitt" und andere interventionsreiche Geburten ist wichtig. Es fehlen Studien dazu und noch immer gibt es geburtshilfliche Fachleute, die abstreiten, dass Frauen durch die Geburt traumatisiert werden können.„Traumatisierung erfolgt immer dann, wenn Kontrolle, Kontinuität und Beteiligung untergingen. Der Geburtsmodus ist dabei sekundär", sagt der Geburtshelfer Dr. Wolf Lütje. Er schätzt, dass etwa zehn Prozent aller Frauen nach einer Geburt traumatisiert sind. Nach meinen Schätzungen sind mindestens 20 Prozent aller Frauen betroffen.
„Es war ein erster Schritt meiner persönlichen Verarbeitung und vor allem der Öffnung anderen Menschen gegenüber, in die Selbsthilfegruppe zu gehen. Ich hatte einen großen Kloß im Hals und bei meinen ersten Worten in der Runde habe ich einfach nur geweint und kaum etwas heraus bekommen und das war okay so und gut. Und noch mehr, andere Frauen haben mir beigestanden, mitgeweint, mir herzliche Worte geschenkt oder durch ihr wahrhaftiges Mitfühlen ein gutes Gefühl gegeben. Meine Tränen sind oft geflossen und das war schön. Es ist auch schön, gemeinsam traurig zu sein über einen Kaiserschnitt, den man absolut nicht wollte, mit dem man niemals gerechnet hat, der schmerzhaft und ein sehr einschneidendes Erlebnis war. Und ich war trotzdem traurig, auch wenn mein Kind gesund ist und einfach wundervoll. Darüber darf ich traurig sein. Ich habe erfahren, dass es anderen betroffenen Frauen ganz genau so geht. Dieser Austausch war heilsam für mich. Das gemeinsame Fühlen und damit leben zu lernen haben mich in der Selbsthilfegruppe wirklich Gemeinschaft fühlen lassen. Meine körperliche Narbe heilt zeitgleich mit meiner seelischen Narbe. Je mehr ich mit den Frauen gefühlt, verarbeitet, gesprochen habe, umso mehr Frieden breitete sich aus und meine Narbe veränderte sich." (Jasmin, 32 Jahre)
Warum ist die Aufarbeitung wichtig?
Eine Geburt hinterlässt Spuren – immer. Sie prägt die Erlebenswelt einer Frau wie eine Brille, durch die sie danach schaut. Wenn Frauen nicht gebären, sondern durch einen Kaiserschnitt entbunden werden, fehlt nicht nur das Geburtserlebnis, sondern es fehlt dem Kind die Initiation ins Leben und der Frau die Initiation ins Muttersein. Durch einen Kaiserschnitt wird massiv eingegriffen in den körperlichen und seelischen Einklang. Ein uralter Kreislauf wird unterbrochen. Es ist ein plötzlicher, abrupter Abbruch des biologischen Ur-Ablaufs. Und das ist nur hinnehmbar, wenn es tatsächlich um Lebensgefahr von Mutter oder Kind geht.
Eine traumatische Erfahrung wirkt in unserem gesamten Organismus weiter und kann das Leben regelrecht „vergiften" – sei es in einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung, einer unbefriedigenden Paarbeziehung oder in gemindertem Selbstbewusstsein. Ein nicht verarbeitetes Trauma ist dann wie eine Lebensmelodie: In Übergängen, bei großen Veränderungen oder Krisen kann man dahin zurückfallen. Außerdem kann es eine erneute Schwangerschaft verhindern: Ganzheitlich gesehen ist dies ein guter Selbstschutzmechanismus! Der Organismus schützt sich vor einem erneuten traumatischen Erlebnis durch Nicht-Empfangen. Nicht geheilte Traumata können zu verschiedenen psychosomatischen Erkrankungen führen, wie Depressionen, Essstörungen oder Suchterkrankungen.
Der Wahrnehmung, Benennung, Selbsthilfe und Begleitung oder Therapie solcher Schockerlebnisse kommt eine große Bedeutung zu, weil dadurch langfristig wirksame Krankheitsdispositionen aufgehoben werden können.
Nach wie vor gehören die Auswirkungen eines Kaiserschnitts zu den tabuisierten Themen, nicht nur in der Medizin und Psychologie. Eine zeitnahe, einfühlsame Begleitung, Informationen über Hilfeangebote an die Betroffenen, Fortbildung von geburtshilflich Tätigen, das Aufgreifen der Thematik in der wissenschaftlichen Welt und ein traumasensibler Umgang während und nach der Geburt könnte viel Leid vermeiden. Eine Reform unserer Geburtskultur könnte dazu beitragen, dass Frauen durch ihre Geburt gestärkt und nicht traumatisiert werden.
Hinweis
Die Namen sind von der Autorin frei gewählt.
Literatur
Berceli, D.: Körperübungen für die Traumaheilung. Norddeutsches Institut für Bioenergetische Analyse e.V. (NIBA) (2012)
Bloemke, V. J.: Es war eine schwere Geburt. München. Kösel (2010)
de Jong, T. M.; Kemmler, G.: Kaiserschnitt – Wie Narben an Bauch und Seele heilen können. München. Kösel Verlag (2003)
Ebrecht-Fuß, N.: Kaiserschnitt auf Wunsch? Frauen zwischen Selbstentfremdung und weiblicher Ur-Kompetenz. Unveröffentlichte Masterarbeit (2011)
HumanProtect: Psychisches Trauma – ein kleiner Ratgeber zum Nachschlagen nach belastenden Ereignissen. www.humanprotect.de/media.php?mv_id=261736127.pdf (letzter Zugriff: 26.6.2015)
Levine, P. A.: Sprache ohne Worte – Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt. München. Kösel Verlag (2011)
Meissner, B. R.: Emotionale Narben aus Schwangerschaft und Geburt auflösen. Winterthur. Schweiz: Brigitte Meissner Verlag (2011)
Oblasser, C.; Ebner, U.: Der Kaiserschnitt hat kein...
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