Vier Besuche in sechs Wochen
Die »WHO recommendations on maternal and newborn care for a positive postnatal experience« enthalten 63 evidenzbasierte Empfehlungen für die Wochenbettzeit in drei zentralen Tätigkeitsbereichen: Betreuung der Mutter, Versorgung des Neugeborenen und Gesundheitsförderung im Kontext des zugrundeliegenden Gesundheitssystems (WHO, 2022). Eine evidenzbasierte Betreuung im Wochenbett soll dazu beitragen, dass Frauen diese Zeitspanne als positive Lebenserfahrung wahrnehmen.
Die Wochenbettzeit umfasst laut WHO die ersten 42 Lebenstage nach der Geburt: ein »kritisch« eingestufter Zeitraum für Frauen, Neugeborene, Partner:innen, Betreuungspersonen und Familien, weil weltweit die mütterliche und kindliche Sterblichkeit beziehungsweise die maternale und neonatale Morbidität inakzeptabel hoch sind. Ein Grund ist ein Fachkräftemangel, der geschätzte 900.000 Hebammen weltweit umfasst und im State of the World Midwifery Report (SoWMy) aufgezeigt wird (UNFPA, 2021).
Weltweit fehlen Hebammen, um Frauen während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zu betreuen (siehe auch DHZ 8/2021, Seite 74ff.). Dieser Hebammenmangel geht neben einer erhöhten Mütter- und Kindersterblichkeit mit einem vermehrten Fehl- und Totgeburtsrisiko einher. Evidenzbasierte Hebammenarbeit hat das Potenzial, maßgeblich zu einer Senkung dieser Sterblichkeitsraten beizutragen (Nove et al., 2020).
Die WHO arbeitet weltweit an einer verbesserten Gesundheitsversorgung und einer Senkung der Mütter- und Kindersterblichkeit. Weltweit starben im Jahr 2019 während der Wochenbettzeit 19 pro 1.000 Neugeborenen (WHO, 2022). Die Müttersterblichkeit sank zwischen 2000 und 2017 um 38 % und ist trotzdem nach wie vor aus Sicht der WHO unakzeptabel hoch: Im Jahr 2017 verstarben 295.000 Frauen im Zusammenhang mit Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett, somit durchschnittlich 810 Frauen pro Tag (WHO, 2019). 94 % dieser mütterlichen Sterbefälle treten in Ländern mit geringem und mittlerem Einkommen auf. Es zeigen sich weltweit eklatante Unterschiede: Die Müttersterblichkeit lag bei 462/100.000 Lebendgeburten in Ländern mit geringem Einkommen im Vergleich zu 11/100.000 Lebendgeburten in Ländern mit hohem Einkommen (WHO, 2019).
Der Großteil der mütterlichen Sterbefälle lässt sich auf vermeidbare Ursachen zurückführen. Für den Zeitraum des Wochenbetts stellen, global betrachtet, die schweren mütterlichen Blutungen in Form atonischer Nachblutungen die Hauptursache der Todesfälle dar (WHO, 2019). Eine evidenzbasierte Betreuung vor, während und nach der Geburt hat das Potenzial, die mütterliche und neonatale Sterblichkeit zu senken (WHO, 2019; Nove et al., 2020; WHO, 2018; WHO, 2017; UNFPA, 2021). Eine Eins-zu-eins-Betreuung durch eine Hebamme sowie das Erkennen und Behandeln möglicher pathologischer Verläufe sind dabei zentrale Aspekte (Nove et al., 2020; WHO, 2018).
Wegen der hohen mütterlichen und kindlichen Morbidität und Mortalität in Ländern mit geringem durchschnittlichem Einkommen umfassen die 63 WHO-Empfehlungen verschiedene »kontext-bezogene Empfehlungen«, denen für die Betreuung von Frauen im Wochenbett in Deutschland eine eher untergeordnete Relevanz zukommt (beispielsweise Empfehlungen 15, 16, siehe Tabelle 1). Laut WHO werden bislang während der Wochenbettzeit weltweit weder vorhandene Möglichkeiten ausreichend ausgeschöpft, um das mütterliche Wohlbefinden zu erhöhen, noch die Versorgung der Neugeborenen zu verbessern. Dieses Problem ist nicht neu – das Wochenbett und die damit einhergehenden Probleme werden seit Jahren untergeordnet behandelt und ignoriert. Empfehlungen waren auch in den vergangenen Jahren verfügbar, so stellen die aktuellen WHO-Empfehlungen ein Update der WHO-Empfehlungen aus dem Jahr 2014 dar (WHO, 2014).
Betreuungsmodell im Wochenbett
Die aktuellen WHO-Empfehlungen enthalten ein respektvolles, individuelles und frauenzentriertes Betreuungsmodell. Es wurde von einer WHO Guideline Development Group erarbeitet, die sich aus 21 Expert:innen aus sechs Regionen der WHO zusammensetzt.
Das Betreuungsmodell umfasst effektive Verlegungsstrukturen, eine Infrastruktur mit medizinischer Versorgung, Ausrüstung und Unterstützung sowie kompetente und motivierte Mitarbeiter:innen des Gesundheitssystems. Inhaltlich werden thematisiert: Untersuchung und Prävention der Mutter und des Neugeborenen, Interventionen bei häufig auftretenden physiologischen Beschwerden, Prävention und frühes Erkennen mütterlicher mentaler Probleme, Ernährung der Mutter und des Neugeborenen, Stillen, Wachstum und Entwicklung des Neugeborenen, Verhütung während der Wochenbettzeit, Stärkung des Entlassungs-Managements sowie Vorbereitung auf die Elternschaft, außerdem Interventionen, um gesundheitsfördernde Betreuungspraktiken zu unterstützen und die familiäre Betreuung zu stärken.
63 Handlungsempfehlungen
Im Fokus der aktuellen WHO-Empfehlungen stehen die Handlungsempfehlungen zur evidenzbasierten Betreuung von Mutter und Neugeborenem während der Wochenbettzeit. Etwas verwirrend mag zunächst die Anzahl erscheinen, da in der Übersichtstabelle 55 Handlungsempfehlungen aufgeführt werden, diese jedoch zum Teil mehrere Unterpunkte beinhalten, die in der Summe dann 63 Empfehlungen ergeben.
Das Modell umfasst somit 63 evidenzbasierte Empfehlungen zur Betreuung von Frauen und Neugeborenen während der Zeit post partum sowie konkrete Hinweise zur Implementierung in die Praxis (ab Seite 195) und zur Relevanz weiterer Forschung. Die vier bekannten Empfehlungsstufen der WHO (empfohlen – nicht empfohlen – kontext-bezogene Empfehlung – empfohlen nur im Kontext begleitender Forschung) werden für die Betreuung der Mutter und des Neugeborenen für die Wochenbettzeit ausgesprochen.
Empfehlungsstufen der WHO
Die WHO (2018) spricht vier Empfehlungen für die Betreuung Gebärender während der Eröffnungsphase und des gesamten Geburtsverlaufs aus:
- I: klare Handlungsempfehlung für eine Intervention – »Recommended«
- II: klarer Verzicht auf eine Intervention – nicht empfohlen: »Not recommended«
- III: Empfehlung für eine Intervention unter besonderen Umständen – »Recommended only in specific circumstance/Context-specific recommendation«
- IV: Weil Nutzen oder Schaden einer Intervention ungewiss sind, wird die Durchführung nur mit begleitender Forschung empfohlen – »Recommended only in the context of rigorous research/research-context recommendation«.
Die 63 Handlungsempfehlungen werden drei zentralen Themenbereichen zugeordnet:
1. Betreuung der Mutter
Der Themenbereich der Betreuung der Mutter (Empfehlungen 1 bis 24) umfasst die Untersuchung der Frau, Interventionen bei allgemeinen physiologischen Anzeichen und häufig auftretenden Symptomen, präventive Maßnahmen, psychologische Interventionen, ernährungsbezogene Interventionen, körperliche Aktivität und Kontrazeption.
Die postpartale Überwachung
Die postpartale Überwachung wird für die ersten 24 h nach der Geburt sowie weitere Besuche während der Wochenbettzeit differenziert betrachtet. In den ersten 24 h wird eine umfassende und regelmäßige Überwachung einer Frau nach der Geburt empfohlen. Überwacht werden sollen: vaginale Blutung, Tonus des Uterus, Höhe des Fundus, Temperatur, Blutdruck, Puls, Ausscheidungen. Hierbei sollte der Blutdruck zeitnah nach der Geburt gemessen werden. Ist er normal, sollte eine weitere Messung des Blutdrucks innerhalb von sechs Stunden nach der Geburt erfolgen. Das Urinieren sollte innerhalb von sechs Stunden nach der Geburt dokumentiert werden.
Bei jedem Wochenbettbesuch nach dem ersten Tag sollte das Wohlbefinden der Wöchnerin erfragt beziehungsweise folgende Untersuchungen durchgeführt werden: Harn- und Stuhlfunktion, Inkontinenzbeschwerden, Heilung möglicher Geburtsverletzungen, Kopfschmerzen, Müdigkeit, Rückenschmerzen, Wundheilungsschmerzen, Hygiene im Intimbereich, Schmerzen der Brust, Lochien.
Sport und Bewegung – Inkontinenzprophylaxe und Beckenbodengymnastik
Der Themenkomplex Sport und Bewegung sowie Inkontinenzprophylaxe und Beckenbodengymnastik wird in verschiedenen Empfehlungen thematisiert. Hierbei fällt auf, dass unter Empfehlung 7 die frühe Beckenbodengymnastik als Inkontinenzprophylaxe gegen Stuhl- beziehungsweise Harninkontinenz nicht empfohlen wird. Zugrunde gelegt werden Ergebnisse einer revidierten Cochrane-Studie (Woodley et al., 2020), bei der zwischen »Prophylaxe« sowie einer »Behandlung« einer Stuhl- beziehungsweise Harninkontinenz bei Schwangeren und Wöchnerinnen unterschieden wird (46 Studien, n=10.832 Frauen): Bezug genommen wird auf zwei Studien, die darauf hindeuten, dass frühe Beckenbodengymnastik eine Urininkontinenz während der ersten drei postpartalen Monate nicht verhindern kann (2 Studien, n=321 Frauen).
Jedoch wird nicht bestritten, dass frühe Beckenbodengymnastik eine gering ausgeprägte Urininkontinenz verbessern und auch andere positiven Effekte haben kann. So werden mögliche positive Effekte durch eine frühe Beckenbodengymnastik benannt, etwa dass sich eine gering ausgeprägte Stressinkontinenz darüber verbessern lassen kann und Nebeneffekte dabei unwahrscheinlich sind. Zudem kann die Sexualität der Frau positiv beeinflusst und die Selbstfürsorge der Wöchnerin gestärkt werden (WHO, 2022, 44).
Stillberatung
Eine Empfehlung zur Beratung in Bezug auf den Milcheinschuss mit einer vergrößerten Brust wird ausgesprochen: Frauen sollten hinsichtlich eines »responsive feeding«, einer guten Positionierung und korrekten Anlegetechnik des Babys an die Brust, dem Ausstreichen von Muttermilch und der Verwendung warmer und kalter Kompressen beraten werden, wobei die individuellen Bedürfnisse der betreuten Frau berücksichtigt werden sollten (Empfehlung 8). Pharmakologische Interventionen, wie beispielsweise eine subkutane Oxytocingabe für die Behandlung eines Milcheinschusses, werden nicht empfohlen (Empfehlung 9). Unter Empfehlung 10 wird eine umfassende Stillberatung zur Prävention einer Mastitis empfohlen. Responsive Feeding umfasst als Interaktionsform zwischen Mutter und Kind die Berücksichtigung mütterlicher und kindlicher Bedürfnisse.
Kontext-bezogene Empfehlungen
In Ländern mit geringem durchschnittlichem Einkommen sind Wöchnerinnen mit vielen Problemen konfrontiert, die in Ländern mit hohem durchschnittlichem Einkommen keine Relevanz haben. Kontext-bezogen wird eine präventive orale Entwurmungskur bei Frauen im Wochenbett in Gebieten mit einer Prävalenz von Wurmerkrankungen über 20 % empfohlen. Hier sollte jährlich beziehungsweise halbjährlich eine Einmalgabe von Albendazole (400 mg) oder Mebendazol (500 mg) erfolgen (Empfehlung 15). Ebenso kontextbezogen wird eine Schistosoma-Prophylaxe in Gebieten mit einer Prävalenz von 10 % oder höher mit Praziquantel empfohlen (Empfehlung 16). Eine Postexpositions-Prophylaxe sollte kontextbezogen bei Frauen im Rahmen eines HIV-Präventionsprogramms erwogen werden (Empfehlung 17).
Depressionen im Fokus
Klare Empfehlungen werden im Vergleich zur Vorgängerversion der WHO-Empfehlungen zur Diagnose und Behandlung einer postpartalen Depression ausgesprochen (Empfehlungen 18–19). Es wird klar zum Ausdruck gebracht, dass ein evidenzbasiertes Screening-Tool angewendet werden soll. Dazu eignet sich der Edinburgh-Postnatal Depression Score (EDPS) (Cox et al., 1987).
Postpartale Depressionen sollen erkannt und mit psychosozialen und psychologischen Interventionen behandelt werden. Auch in den Empfehlungen, die das Neugeborene betreffen, wird ausgeführt, dass psychosoziale Interventionen zur Unterstützung für die seelische Gesundheit der Mutter empfohlen werden, um darüber die Entwicklung des Kindes zu fördern (Empfehlung 41).
Ernährungsberatung
Zur Vermeidung einer mütterlichen Obstipation wird eine Ernährungsberatung empfohlen (Empfehlung 12), von einer routinemäßigen Gabe von Abführmitteln wird abgeraten (Empfehlung 13). Kontextspezifisch wird eine orale Gabe von Eisen und Folsäure empfohlen. Diese sollten über einen Zeitraum von sechs bis zwölf Wochen gegeben werden, um das Risiko einer geburtsbedingten Anämie zu senken (Empfehlung 20). Eine Substitution durch Vitamin A wird nicht empfohlen (Empfehlung 21).
2. Versorgung des Neugeborenen
Der Themenbereich Versorgung des Neugeborenen (Empfehlungen 25 bis 43) umfasst Empfehlungen zur Untersuchung des Neugeborenen, Präventionsmaßnahmen, ernährungsbezogene Interventionen, Empfehlungen zu kindlichem Wachstum und Entwicklung sowie zum Stillen.
Untersuchung des Neugeborenen
Bei der Untersuchung des Neugeborenen sollte der Fokus auf den Augen, Ohren, einem möglichen Ikterus sowie allgemeinen Gefahrenzeichen liegen. Für alle Neugeborenen wird eine Augenuntersuchung empfohlen, bei der auffällige Kinder weitere Betreuung und Abklärung erhalten (Empfehlung 26). Das Neugeborenen-Hörscreening (Universal Newborn Hearing Screening = UNHS) sollte über Oto-akustische Emissionen (OAE) oder akustisch evozierte Hirnstammpotenziale (automated auditory brainstem response = AABR) durchgeführt werden. Das Screening auf einen Neugeborenen-Ikterus sollte anhand einer transkutanen Bilirubin-Bestimmung bei Entlassung erfolgen (Empfehlung 28), wobei keine Empfehlung für oder gegen eine universelle Serumbilirubin-Bestimmung bei Entlassung ausgesprochen wird (Empfehlung 29).
Präventive Maßnahmen
Das erste Bad des Neugeborenen sollte frühestens 24 Stunden nach der Geburt erfolgen, um eine Hypothermie zu vermeiden (Empfehlung 30). Bei einem gesunden Neugeborenen sollte als Prävention von Hautproblemen auf die Anwendung besonderer Hautcremes mit Weichmachern verzichtet werden (Empfehlung 31). Die Impfung eines Neugeborenen sollte laut den Empfehlungen der WHO durchgeführt werden (Empfehlung 34). Eine Ganzkörpermassage sollte für reifgeborene Neugeborene angedacht werden, da damit mögliche Vorteil für Wachstum und Entwicklung einhergehen. Alle Neugeborenen sollten früh im Bereich Lernförderung unterstützt werden und Eltern sollten dazu angeleitet werden, die Entwicklung des Neugeborenen von Anfang an positiv zu unterstützen (Empfehlungen 39–40).
Nabelpflege
Eine saubere und trockene Nabelpflege wird empfohlen, da dies zu einem problemlosen Abfallen des Nabels ohne erhöhtes kindliches Mortalitätsrisiko beiträgt (Empfehlung 32a). Eine kontext-spezifische Empfehlung wird für Regionen ausgesprochen, in denen traditionell schädliche Substanzen zur Nabelpflege verwendet werden, beispielsweise Tier-Dung. In diesen Regionen wird die Verwendung einer 4 %-igen Chlorhexidine-Lösung empfohlen (Empfehlung 32b), da dadurch die neonatale Mortalität reduziert werden kann (WHO, 2022, 120).
Schlafposition
Als Schlafposition des Neugeborenen wird die Rückenlage empfohlen, um das Risiko für einen Plötzlichen Kindstod (SIDS) zu versterben (Empfehlung 33).
Ernährungsempfehlungen für das Neugeborene
Während der ersten sechs Lebensmonate wird ausschließliches Stillen empfohlen. Dies sollte bei jeder Begegnung mit der Mutter im Wochenbett angesprochen werden (Empfehlung 42). Gesundheitseinrichtungen sollten Stillempfehlungen erarbeiten und diese routinemäßig mit ihren Mitarbeiter:innen und den Eltern kommunizieren (Empfehlung 43a). Alle Mitarbeiter:innen in Gesundheitseinrichtungen sollten über Wissen, Kompetenz und notwendige praktische Fähigkeiten verfügen, um Frauen beim Stillen zu unterstützen (Empfehlung 43b). Eine routinemäßige Ernährungssubstitution mit Vitamin A sollten Neugeborene nicht bekommen (Empfehlung 35a). Jedoch kann in Vitamin-A-Mangelgebieten eine Einmalgabe von oralem Vitamin A in Höhe von 50.000 IU bei Neugeborenen erwogen werden, wenn eine mütterliche Serum-Retinol-Konzentration von < 0,70 Mikromol/l vorliegt (Empfehlung 35b).
Eine kontext-spezifische Empfehlung wird für eine Substitution mit Vitamin D für gestillte, am Termin geborene Kinder ausgesprochen (Empfehlung 36). Zugrunde gelegt wird eine systematische Übersichtsarbeit, nach der Neugeborene nach einer Vitamin-D-Substitution zwar ein geringeres Risiko für einen Vitamin-D-Mangel haben, wobei die eingeschlossenen Studien jedoch alle ein geringes Evidenzlevel aufzeigen (Tan et al., 2020). Die WHO empfiehlt aktuell kontext-unabhängig eine Vitamin-D Substitution bei Kindern mit sehr geringem Geburtsgewicht mit einer Dosierung zwischen 400 IU bis 1000 IU pro Tag während der ersten sechs Lebensmonate (WHO, 2022, 138).
3. Gesundheitsförderung
Der Themenbereich Gesundheitsförderung (Empfehlungen 44 bis 55) umfasst gesundheitspolitische und strukturelle Empfehlungen.
Minimalbetreuung: vier Nachsorgen
Im Themenbereich Gesundheitsförderung im Kontext des Gesundheitssystems wird ein Minimum an vier Wochenbettbesuchen nach der Geburt empfohlen (Empfehlung 44). Damit wird eine Minimalbetreuung definiert, die nicht unterschritten werden sollte.
Falls die Geburt in einem Gesundheitszentrum stattfindet, sollten gesunde Frauen und deren Neugeborenen eine Nachsorge mindestens 24 h nach der Geburt erhalten. Nach einer Hausgeburt sollte der nächste Kontakt im Zeitraum der ersten 24 h stattfinden. Der zweite Kontakt im Wochenbett sollte zwischen 48–72 h post partum, der dritte zwischen 7–14 Tagen post partum und der vierte während der sechsten Woche nach der Geburt stattfinden.
Minimalbetreuung
- Besuch: 0–24 h pp
- Besuch: 48–72 h pp
- Besuch: 7–14 Tage pp
- Besuch: 6. Woche pp
Entlassung nach der Geburt
Erfolgt die Geburt in einem Gesundheitszentrum, sollte der Aufenthalt nach einer vaginalen Geburt mindestens 24 Stunden dauern (Empfehlung 45). Vor der Entlassung einer Frau nach einer Geburt sollten folgende Kriterien (Empfehlung 46) überprüft werden:
- Betreuung der Mutter (ab Seite 13)
- Versorgung des Neugeborenen (ab Seite 97)
- Gesundheitsförderung im Kontext des Gesundheitssystems (ab Seite 150).
- Fühlen Mutter und Neugeborenes sich wohl?
- Verfügt die Frau über die Fähigkeiten und das Zutrauen, für sich und ihr Neugeborenes gut zu sorgen?
- Schätzen die Betreuungspersonen die Frau so ein, dass diese für sich und ihr Neugeborenes gut sorgen kann?
- Existieren unterstützende häusliche Umgebungsfaktoren?
- Kann die Frau bei Bedarf Hilfe in Anspruch nehmen?
Vor der Entlassung sollte die Frau Informationen zum Wochenbettverlauf und der veränderten Lebenssituation mit dem Neugeborenen beratend und in Form von Handouts erhalten. Sie sollte gut vorbereitet entlassen werden (Empfehlung 47).
Das häusliche Wochenbett
Während der Wochenbettzeit sollte eine aufsuchende Betreuung erfolgen, um die Frau mit ihrem Neugeborenen im gewohnten Umfeld zu unterstützen. Falls dies aus Ressourcengründen nicht möglich ist, sollten Angebote ermöglicht werden, die von den Frauen aufgesucht werden können (Empfehlung 48). Kontext-spezifisch wird in Regionen mit funktionierenden Hebammen-Betreuungsmodellen eine Betreuung im Wochenbett durch eine bekannte Hebamme oder ein bekanntes Hebammenteam empfohlen (»Midwife-led continuity of care«). Diese sollte im besten Fall den gesamten Betreuungsbogen Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett umfassen (Empfehlung 49). Eine Aufgabenteilung auf die Gesundheitsversorgung der Mutter und des Neugeborenen sollte zwischen Hebammen, Ärzt:innen und weiteren beteiligten Personen im Betreuungsumfeld erfolgen (Empfehlung 50a).
In ländlichen Gegenden sollte eine Vielzahl an Maßnahmen erfolgen, um Personal zu gewinnen: Diese sollten Ausbildungsmaßnahmen, Anreize sowie persönliche und berufliche Unterstützung beinhalten (Empfehlung 51). Die Einbeziehung männlicher Betreuungspersonen während der Zeit nach der Geburt wird unter fortlaufender Beobachtung und Evaluation empfohlen. Empfohlen wird eine digital gestützte Beratung während der Wochenbettzeit, sofern datenschutzrechtliche Aspekte beachtet werden (Empfehlung 54).
Das Wochenbett als »positive Erfahrung«
Ein Ziel der WHO-Empfehlungen besteht darin, das Wochenbett zu einer positiven Erfahrung für Frauen, Partner:innen und deren Familien zu machen. Die ausgesprochenen Empfehlungen sollten durch motiviertes Fachpersonal des Gesundheitssystems umgesetzt werden.
Neben einer zuverlässigen wohnortnahen Verfügbarkeit einer Hebamme für die Wochenbettbetreuung kann die evidenzbasierte Betreuung und Versorgung von Frauen, Neugeborenen und deren Familien während der Wochenbettzeit in Deutschland derzeit als unerreicht eingestuft werden. Es fehlen nicht nur Hebammen, sondern auch klare Evidenzen und Leitlinien. Es fehlen klare evidenzbasierte Handlungsempfehlungen für die Betreuung und Versorgung von Frauen, Neugeborenen und deren Familien während der Wochenbettzeit. Es fehlen klare Konzepte zur effektiven Kooperation zwischen Hebammen, Gynäkolog:innen, Pädiater:innen und Elternvertreter:innen.
Um das Ziel einer evidenzbasierten Betreuung und Versorgung von Frauen, Neugeborenen und deren Familien während der Wochenbettzeit in Deutschland zu erreichen, wäre es wünschenswert, die Handlungsempfehlungen der vorliegenden WHO-Recommendations mit einem Blick auf die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen und das Potenzial einer aufsuchenden Wochenbettbetreuung durch Hebammen für Deutschland weiterzuentwickeln.
Es wäre wünschenswert, diese im interdisziplinären Austausch zu erarbeiten: eine Leitlinie mit angepassten Empfehlungen für eine evidenzbasierte Betreuung und Versorgung von Frauen, Neugeborenen und deren Familien während der Wochenbettzeit. Dies wäre auch aus berufspolitischer Perspektive wünschenswert, um die Nachsorge während der Wochenbettzeit in ihrem Wert aufzuzeigen, zu beschreiben und eine bessere Vergütung zu erreichen.
Perspektive
Dies könnte anhand einer AWMF-S3-Leitline zum physiologischen Wochenbettverlauf als Pendant zur existierenden S3-Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin erfolgen (AWMF, 2020). Diese könnte beispielsweise in Kooperation zwischen Hebammen, Gynäkolog:innen, Pädiater:innen und Elternvertreter:innen erarbeitet werden. Die vorhandenen Erfahrungen zur Erstellung einer S3-Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin könnten genutzt werden (AWMF, 2020).
Die kürzlich revidierten britischen Empfehlungen zur Betreuung während der Wochenbettzeit, der NICE-Guidelines zur Postnatal Care (NICE, 2022), könnten geprüft und wie bei der S3-Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin (AWMF, 2020) teilweise auf Deutsche übersetzt und adaptiert werden. Auch der Erstellung der S3-Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin (AWMF, 2020) ist die Publikation der WHO Intrapartum Care for a positive childbirth experience (WHO, 2018) vorausgegangen (siehe auch DHZ 6/2018, Seite 42–48 und DHZ 7/2018, Seite 66ff.). Hebammenexpertise könnte die Initiierung und die Erstellung einer S3-Leitlinie zum physiologischen Wochenbettverlauf prägen.
Fazit
Die »WHO-Recommendations on maternal and newborn care for a positive postnatal experience« mit ihren Empfehlungen zur evidenzbasierten Betreuung im Wochenbett stellen eine wertvolle Grundlage für evidenzbasiertes Handeln während der Wochenbettzeit dar. Gleichzeitig umfassen die Handlungsempfehlungen viele kontext-bezogene Empfehlungen, die in Ländern mit geringem durchschnittlichen Einkommen eine große Bedeutung haben, gerade um die maternale und neonatale Sterblichkeit zu senken.
Diesen Empfehlungen kommt jedoch für Deutschland keine zentrale, sondern untergeordnete Relevanz zu. Somit bedeuten nur einige der 63 Handlungsempfehlungen einen Mehrwert für die Praxis einer Hebamme, die in Deutschland arbeitet.
Die WHO-Empfehlungen können daher als ein Schritt in die richtige Richtung, jedoch nicht als befriedigende Lösung für die Situation in Deutschland eingestuft werden: Ja, sie enthalten wertvolle Evidenzen für die Betreuung von Frauen und Kindern während der Wochenbettzeit. Diese sollten jedoch nun weiter in den Fokus genommen und für Deutschland angepasst und spezifiziert werden. Die evidenzbasierte Betreuung des physiologischen Wochenbettverlaufs sollte für Deutschland wissenschaftlich und praktisch weiterentwickelt und in Form starker Leitlinien publiziert werden.
Hinweis
Download-Link
Literatur
AWMF. (2020). Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften: S3-Leitlinie Vaginale Geburt am Termin. AWMF-Register Nr. 015/083. Stand: 22.12.2020 [Online]. Available: www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/015-083l_S3_Vaginale-Geburt-am-Termin_2021-01.pdf
Cox, J. L., Holden, J. M. & Sagovsky, R. (1987). Detection of postnatal depression. Development of the 10-item Edinburgh Postnatal Depression Scale. Br J Psychiatry, 150, 782–6.
NICE (2022). National Institute for Health and Care Excellence. Postnatal Care (NG194). Published: 20 April 2021.
Nove, A., Friberg, I. K., De Bernis, L., McConville, F., Moran, A. C., Najjemba, M., Ten Hoope-Bender, P., Traca, S. & Homer, C. S. E. (2020). Potential impact of midwives in preventing and reducing maternal and neonatal mortality and stillbirths: a Lives Saved Tool modelling study. Lancet Glob Health.
Tan, M. L., Abrams, S. A. & Osborn, D. A. (2020). Vitamin D supplementation for term...
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