Human Milk Oligosaccharides

»Wenig-Zucker« für den Darm

Weltweit wird geforscht an Human Milk Oligosaccharides (HMO), denn sie besitzen einige nützliche Eigenschaften: Diese Mehrfachzucker in der Muttermilch versorgen die Darmflora, wirken antimikrobiell und stärken die Immunkraft. An der Uni Zürich untersucht der Muttermilchforscher Prof. Dr. Thierry Hennet ihre Zusammensetzung, Wirkung und Verwendbarkeit für die Säuglingsnahrung. Birgit Heimbach
  • Die unverdaulichen Humanen Milch Oligosaccharide (HMO) bestehen aus fünf Einfachzuckern (v.l.n.r.): Glucose, Galactose, N-Acetylglucosamin, Sialinsäure und Fucose, hier aufgereiht mit den international gültigen Symbolen für Monosaccharide. Ihre Zu‧sammensetzung ist abhängig von einem Blutgruppensystem, dem Sekretor-Typ. Die Einfachzucker ernähren beispielsweise die Darmbakterien des Säuglings und trainieren dessen Abwehr. Zudem weiß man: Sialinsäure ist wichtig für die Reifung des Gehirns.

  • Mit fünf bis zehn Gramm pro Liter sind die Human Milk Oligosaccharides (HMO) die drittgrößte Komponente in der Muttermilch, nach den Lipiden und dem Milchzucker (Lactose). Im Kolostrum können es sogar 20 bis 25 Gramm pro Liter sein (Gabrielli et al. 2011). Oligosaccharide sind Kohlenhydrate, die aus wenigen (griechisch: oligos – wenig) Einfachzuckern bestehen – bis zu etwa zehn Verbindungen. Durch deren unterschiedliche Zusammensetzungen ergeben sich mehr als 200 verschiedene Arten der HMO. Keine andere Säugetierart hat so viele Oligosaccharide.

    Bei schwangeren Frauen tauchen die ersten Oligosaccharide kurz vor der Geburt im Urin auf. Wenn der Säugling die HMO beim Stillen aus der Muttermilch aufnimmt, werden sie nicht etwa wie Eiweiße in der Magensäure zerstört, sondern kommen unverändert im Darm an. Der Ernährung des Kindes dienen sie nicht, denn sie werden so gut wie gar nicht vom menschlichen Körper verdaut. Nur wenige HMO werden absorbiert und in das Blut transportiert – so befindet sich am Ende nur ein Prozent von ihnen im Urin von gestillten Säuglingen.

     

    Möglichst artenreiches Mikrobiom

     

    Am Anfang des Lebens ist es – noch vor der Ernährung des Säuglings – wichtig, die Darmbakterien (Mikrobiota) in ihrer Expansionsphase so gut zu versorgen, dass die Darmflora – das Mikrobiom – möglichst artenreich wird. Diese Aufgabe erfüllen die HMO. Sie ernähren Bifidobakterien und andere nützliche Bakterien, denn diese können die Zuckerverbindungen spalten. Um 1930 konnte man erstmals die stimulierenden Effekte auf das Wachstum spezieller Mikrobiota im Darm zeigen.

    Die Vielfalt der Darmbakterien ist zum Beispiel deshalb wichtig, weil diese dem Menschen bei der Verdauung helfen, aber auch weil sie die Produktion von ganz besonderen Antikörpern anregen, erklärt Prof. Thierry Hennet, der am Institut für Physiologie an der Uni Zürich Muttermilch erforscht und sich insbesondere mit den HMO befasst. »So stimulieren sie beispielsweise Antikörper im AB0-Blutgruppensystem. Das sind entsprechend bei der Blutgruppe 0 die Antikörper gegen A und B. Bakterien tragen an ihrer Oberfläche Zuckerstrukturen, die teils mit diesen Blutgruppenantigenen identisch sind.« Hennets Hypothese: »HMO trainieren als vielfältig strukturierte Antigene das Immunsystem des Körpers.«

    Außerdem: Weil der Aufbau der HMO ähnlich den Vielfach-Zuckerverbindungen (Polysacchariden beziehungsweise Glycanen) in den Darmzellen ist, binden sich je nach Zusammensetzung verschiedene potenziell krankheitserregende Bakterien und Viren irrtümlich an die HMO. Sie werden mit dem Stuhl ausgeschieden, anstatt über die Epithelwand in den Wirtsorganismus zu migrieren. Indem die HMO so die Anhaftung von Toxinen und Krankheitserregern an das Epithel des Darmes verhindern (antiadhäsiv), schützen sie den Menschen vor verschiedenen Infektionskrankheiten. Bereits vor über 60 Jahren konnte gezeigt werden, dass sich an einige HMO Influenzaviren anheften (Kuhn 1956). Andere HMO schützen durch diese Fähigkeit sogar vor dem Toxin der Cholera.

    HMO wirken zudem antimikrobiell und immunmodulierend: Sie beeinflussen die Genexpression von Epithelzellen der Darmschleimhaut, was die Glycane auf der Zelloberfläche verändern kann. Sie fördern Zellprozesse wie Proliferation, Differenzierung und auch die Apoptose, den Zelltod. Außerdem interagieren sie mit Leukozyten, und einige Molekülabschnitte ihrer Antigene (Epitope) aktivieren die dendritischen Zellen, die ihre bäumchenartigen Ausläufer durch die sogenannten Tight Junctions der Epithelien des Darmes strecken und die Immunabwehr verstärken. Man vermutet, dass die HMO, die ins Blut gelangen, mit den dort zirkulierenden Leukozyten interagieren. Bei Frühgeborenen ist ihre protektive Wirkung gegen nekrotisierende Enterokolitis (NEC) lebenswichtig. Außerdem fördern einige HMO, etwa die Sialinsäure, die Gehirnentwicklung, indem sie wichtige Bausteine für Neurone liefern.

    Aufgrund all dieser Eigenschaften werden die HMO intensiv beforscht, oft im Auftrag der Milchindustrie, die im Labor gebaute HMO ihren Produkten hinzufügen möchte. Auch Hennet ist in seinem großen Labor dabei, die verschiedenen HMO und ihre jeweiligen Funktionen zu entschlüsseln und nachzubauen. Im Tiermodell wird getestet – meist mit Mäusen. Hennet hofft, in Zukunft auch Testreihen mit Menschen durchführen zu können. Allerdings wird dies immer schwieriger, weil Muttermilchspenden nur nach Absprache mit der Ethikkommission und nur noch sterilisiert verwendet werden dürfen, was die Zusammensetzung verändert und die Forschung beeinträchtigt.

     

    Vielfältige Formen, individuell zusammengesetzt

     

    In ihrer chemischen Zusammensetzung basieren die HMO auf Lactose, die aus den Monosacchariden Galactose und Glucose besteht und damit ein Disaccharid darstellen, erklärt Hennet. Sogenannte Gal‧(ß1–4‧)Glc-Enzyme, die in der laktierenden Brust produziert werden, verarbeiten diesen Zweifachzucker weiter und hängen in verschiedener Zahl und Zusammensetzung drei weitere Monosaccharide an: N-Acetylglucosamin, Sialinsäure und Fucose. Entsprechend der vielen möglichen Kombinationen dieser insgesamt fünf verschiedenen Kohlenhydrate kommt es zu der enorm hohen Vielfalt – und zur Unverdaulichkeit der HMO.

    Im Darm gebe es nämlich nur zwei verschiedene Enzyme, die Kohlenhydrate spalten können, erläutert Hennet: »Erstens Amylase, die Stärke (Glucoseketten) spaltet und daraus Glucose freigibt. Das zweite Enzym im Darm ist Lactase, die Lactose sowie Glucose spaltet, und schließlich Galactose daraus freigibt. Es werden nur Kohlenhydrate gespalten, die diese Verbindungen aufweisen. Die dabei entstehenden Monosaccharide werden in die Blutbahn abgegeben. Sind es zu viele, verbleiben die übrigen im Darm und verursachen Blähungen. Die Monosacharide, die sich zu den HMO zusammengeschlossen haben, können nicht vom menschlichen Organismus gespalten werden und sind damit unverdaulich.«

    Die HMO-Komposition variiert von einer Mutter zur anderen. Es existieren Unterschiede zwischen geografischen Regionen, und ihre Zusammensetzung verändert sich im Laufe der Laktation. Die Zusammensetzung der HMO ist abhängig von den Genen. Sie ist allerdings unabhängig von der Ernährung der Mutter. Einige kurzkettige HMO werden vor allem in den ersten Wochen nach der Geburt produziert.

     

    Sekretor-Typen beeinflussen die Infektanfälligkeit

     

    Zu etwa einem Drittel sind die HMO sauer, in diesem Fall als sialylierte Verbindungen. Am häufigsten (zu etwa zwei Dritteln) ist das pH-neutrale Monosaccharid Fucose an der Bildung von HMO beteiligt. Dabei entsteht zum Beispiel das HMO mit Namen 2’-Fucosyllactose (2´-FL), welches rund zwei Gramm pro Liter Muttermilch ausmacht und immunregulierend ist, außerdem entstehen 3´-Fucosyllactose (3´-FL) beziehungsweise Lacto-N-fucopentaose (LNFP I). Vor allem für fukolisierte HMO wie Fucosyllactose interessierte sich Hennet. Dieser Zucker wurde erstmals in den 1950er Jahren in der Muttermilch gefunden. Er schützt unter anderem gegen die Bakterien Campylobacter jejuni, Salmonella enterica Serotyp Typhimurium und Helicobacter pylori. Das Besondere an der Fucosyllactose ist, dass sie nur bei rund 80 % aller Menschen vorhanden ist – und nur dann entsprechend schützen kann.

    Hennet erklärt: »2‘-Fucosyllactose ist nur bei denjenigen Frauen in der Muttermilch und im Speichel vorhanden, die sogenannte Sekretorinnen sind. Bei ihnen sitzen die Blutgruppen-Antigene als Zuckerketten nicht nur auf den Blutzellen, sondern befinden sich auch in anderen Körperflüssigkeiten. Deren Blutgruppe kann man also zum Beispiel anhand der Tränen bestimmen. Für diese Expression von AB0-Histo-Blutgruppenantigenen auf Schleimhautoberflächen und in Körpersekreten ist ein bestimmtes Gen verantwortlich: FUT2. Und es ist auch dafür verantwortlich, dass 2‘-Fucosyllactose produziert wird, indem es die produzierende alpha-1,2 Fucosyltransferase kodiert.«

    Der Sekretor-Status oder Non-Sekretor-Status ist neben dem AB0-System und dem positiven oder negativen Rhesusfaktor ein wichtiges Blutgruppen-System. Es wirkt sich generell auf die Infektanfälligkeit aus: Die Nicht-SekretorInnen sind etwa resistent gegen Infektionen mit dem Noro-Virus, aber anfälliger für andere infektiöse und chronische Krankheiten mit Mikroben, wie beispielsweise die chronisch-entzündliche Darmerkrankung (IBD). Sie haben ein höheres Risiko für eine enterotoxische Infektion mit Escherichia coli (ETEC) (siehe Link: Uni Kiel). Die SekretorInnen – also der Sekretor-Phänotyp – haben dagegen ein höheres Risiko für eine Infektion mit Viren, wie Norovirus, Rotavirus und Viren der Atemwege.

    Zwei große Kohorten-Studien in England und Kanada hätten allerdings keine Beziehung gefunden zwischen dem mütterlichen Sekretor-Status und der Microbiota-Komposition im mütterlichen Darm, so Hennet. Hier besteht noch Forschungsbedarf. Andere ForscherInnen erachten den Unterschied jedoch als erwiesen. Sie betrachten ihn als wichtigen genetischen Faktor, der etwa bei der Entwicklung von Mikrobiom-bezogenen Interventionen wie Probiotika oder der fäkalen Mikrobiom-Transplantation (FMT) zu berücksichtigen ist (siehe Link – Universität Kiel). Laut Hennet ist Muttermilch von Nicht-Sekretorinnen qualitativ nicht schlechter als die von Sekretorinnen. Er hält es daher nicht für sinnvoll, zu testen, welchen Sekretor-Status eine Frau hat. Zudem: Fukolisierte HMO tauchen offenbar zu einem späteren Zeitpunkt während der Laktation trotzdem in der Milch von Nicht-Sekretor-Frauen auf, wahrscheinlich durch Beteiligung anderer FUT-Typen (Newburg et al. 2005).

     

    Studie in Kenia

     

    Hennet war an einer Studie in Kenia beteiligt, in der sich eine zusätzliche HMO-Zufuhr bei Müttern mit Nicht-Sekretor-Status als förderlich erwiesen hat: In einem Alter zwischen 6 und 24 Monaten bekommen dort die Säuglinge Eisenverstärker. Eisen ist zwar ein wichtiger Nährstoff für die meisten Darmbakterien, gleichzeitig unterstützt es aber auch die Virulenz und Kolonisierung potenzieller Krankheitserreger. Entsprechend zeigte sich bei Kindern zweier kenianischer Stämme, die oral Eisen bekommen hatten, ein sehr niedriges Vorkommen von Bifidobakterien und eine hohe Anzahl von Pathogenen wie E. coli., wenn die Mutter Nicht-Sekretorin war. Wenn diese Frauen im Labor hergestellte HMO einnahmen, ergab sich keine Auswirkung auf den Darm der Mütter, aber ein günstiger Einfluss auf den der Kinder. Die HMO milderten bei ihnen den nachteiligen Effekt auf die Mikrobiota und verbesserte sogar die Eisenresorption.

     

    Generell zusätzliche HMO-Gabe?

     

    Säuglingsmilchnahrungen werden inzwischen immer häufiger mit Oligosacchariden angereichert – gewonnen aus Kuhmilch oder pflanzlichen Ursprungs. Sie werden als Galactooligosaccharide (GOS) bezeichnet. Die Hersteller nutzen dies auch im Marketing, um die Äquivalenz von künstlicher Säuglingsnahrung und Muttermilch zu suggerieren. In den USA ist es von der Lebensmittel- und Arzneimittelbehörde (Food an Drug Administration/FDA) in Babynahrung bis zu einer Konzentration von zwei Gramm pro Liter zugelassen (GRAS Notices 671, 2016).

    Ein Konzern trat vor wenigen Jahren an Hennet mit der Frage heran, ob es generell sinnvoll sei, bestimmte HMO bestimmten Milchprodukten hinzufügen. Er verneinte, weil damit nicht die Vielfalt möglich sei, die erst den erwünschten schützenden Effekt hätte. Singuläre Inhaltsstoffe hätten nicht unbedingt die gleiche biologische Wirkung wie das natürliche HMO-Gemisch der Muttermilch.

    Eine HMO-Gabe sei natürlich dann sinnvoll, so Hennet, wenn die Darmflora saniert werden müsste, etwa nach Chemotherapie oder längerer Antibiotikabehandlung – auch bei Erwachsenen. Da die Darmflora die Entwicklung von Übergewichtigkeit, Arteriosklerose und Diabetes beeinflusst, könnte die Gabe bestimmter HMO auch günstig sein, um einigen Krankheiten vorzubeugen. Geforscht wird zudem daran, welche Sialyllactose bei Säuglingen am besten die Gehirnreifung unterstützt.

    Stillende Frauen sollten sich aufgrund der Forschung nicht verunsichern lassen, so Hennet. Mütter müssten sich nicht testen lassen, ob sie Sekretorin oder Nicht-Sekretorin sind. Und sie sollten frei entscheiden, wie lange sie stillen möchten, so der Muttermilchforscher.

    Hennet will die Muttermilch weiter erforschen. Sein Institut am Stadtrand von Zürich liegt, wie dafür geschaffen, an einem Hügel namens Milchbuck. Dies war früher ein »Geländebuckel, der sich durch einen ersprießlichen Wuchs von saftigem Gras auszeichnete, der den Milchertrag der dort weidenden Kühe beträchtlich gesteigert hatte.« (www.alt-zueri.ch) In Kuhmilch befinden sich übrigens nur geringe Mengen Oligosaccharide und sie sind meist an Proteine gebunden.

    Rubrik: Ausgabe 08/2020

    Erscheinungsdatum: 22.07.2020

    Literatur

    Azad MB: FUT2 Secretor Genotype and susceptibility to Infections and chronic Conditions in the ALSPAC Cohort. Version 2. Wellcome Open Res.2018. 3: 65. doi: 10.12688/wellcomeopenres.14636.2

    Bode L: Human Milk Oligosaccharides: Every Baby needs a Sugar Mama. Glycobiology 2012. 22, 9: 1147–1162. doi:10.1093/glycob/cws074

    D´Adamo PJ: 4 Blutgruppen – Richtig leben: Das individuelle Konzept für körperliches und seelisches Wohlbefinden. Piper Taschenbuch. München 2014

    Gabrielli O et al.: Preterm Milk Oligosaccharides during the first Month of Lactation. Pediatrics 2011. 201, vol. 128. e1520–1531. 10.1542/peds.2011–1206

    Hennet T et al.: Decoding Breast Milk Oligosaccharides. Swiss medical Weekly. DOI: 10.4414/smw.2014.13927

    Kuhn R, Brossmer R: Über die O-Acetyl-Lactamin-Säure-Lactose aus Kuh-Kolostrum und ihre Spaltbarkeit durch Influenza-Virus. ChemBer 1956. 98: 2013–35

    Lin AE: Human milk Oligosaccharides inhibit Growth of Group B Streptococcus. J Biol...

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