Qualitative Studie aus den USA

Wie erleben autistische Frauen die Geburt?

  • Autistische Frauen benötigen einen besonders umsichtigen Blick auf ihre Bedürfnisse während der Geburt, da sie sonst das Gefühl von Kontrollverlust oder Reizüberflutung erleben können.

  • Autismus ist eine komplexe Entwicklungsstörung, die in verschiedenen Formen auftreten kann. Aspekte der Kommunikation und soziale Interaktionen können eingeschränkt vorhanden und ausgeprägt sein. Man nimmt an, dass Männer häufiger als Frauen, jedoch Frauen häufiger durch unerkannte Formen von Autismus betroffen sind: Im Bevölkerungsdurchschnitt liegt Autismus bei einer von 54 Personen vor. Bislang weisen Studien lediglich darauf hin, dass autistische im Vergleich zu nicht-autistischen Frauen häufiger negative Geburtsverläufe aufzeigen. Jedoch ist bislang wenig zu den tatsächlichen Geburtserfahrungen und Hintergründen in Bezug auf das Erleben der Geburt autistischer Frauen bekannt.

     

    Studiendesign angepasst an die Bedürfnisse

     

    Durchgeführt wurde zu diesem Themenkomplex nun eine qualitative Studie unter 16 autistischen Frauen in den USA (Burlington/Vermont). Diese wurden über Online-Portale und soziale Medien, die dem Austausch autistischer Frauen dienen, zur Teilnahme an der Studie eingeladen. Die Einschlusskriterien umfassten, dass die Teilnehmerin sich selbst als autistisch identifizierte und mindestens ein Kind geboren hatte.

    Die Teilnehmerinnen erhielten zunächst Informationsmaterial über eine Website. Anschließend wurden die Interviews asynchron durchgeführt, indem den Frauen die Studienfragen schriftlich zugesendet wurden und sie diese auch schriftlich beantworteten.

    Die Autor:innen entschieden sich für dieses Vorgehen, um den Bedürfnissen autistischer Frauen zu begegnen: Den Frauen wurde so die Kontrolle über die Interviewsituation gegeben und Zeitdruck vermieden. Die Frauen konnten dadurch ihren eigenen Bedürfnis folgen und die Fragen in Ruhe beantworten. Nachfragen wurden per E-Mail gesendet und beantwortet. Die Auswertung der Daten erfolgte im Rahmen einer narrativen Analyse nach Burke.

     

    Diskrepanz zwischen zugesicherter und erlebter Betreuung

     

    Zwei der Frauen hatten mehrere Kinder geboren, so dass im Rahmen der Studie insgesamt Daten zu 19 Geburtserlebnissen erfasst und evaluiert wurden. Die Auswertung der Daten zeigte auf, dass Spannungen am häufigsten auftragen, wenn die zugesicherte nicht mit der erlebten Betreuung in Einklang stand. Dadurch hatten Frauen das Gefühl, dass ihre Bedenken nicht ernst genommen und ihre Bedürfnisse und Wünsche ignoriert wurden. Einige Frauen teilten mit, dass ein Gefühl des »Aus dem Gleichgewicht«-geraten-seins während des Gebärens ihre Fähigkeiten weiter beeinträchtigte zu kommunizieren oder aktiv zu gebären. Eine Teilnehmerin beschrieb dies mit den Worten: »Ich dachte, sie glauben mir nicht, was ich empfinde, aber ich konnte es nicht anders zum Ausdruck bringen«.

    Zudem führten unbehandelte Schmerzen zu dem Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden. Hally beschrieb dies in Bezug auf die Erfahrung ihrer dritten Geburt, eines Kaiserschnittes, bei dem sie Schmerzen während der Operation verspürte: »Keiner (außer meinem Partner) glaubte mir, weil ich nicht schrie. Ich erklärte meine Empfindungen exakt dem Operateur und dem Anästhesist, jedoch beharrten diese darauf, dass ich mir meine Empfindungen einbildete ... bei dieser Meinung blieben sie, bis mein Blutdruck begann durch die Decke zu gehen ...«.

    Einige Teilnehmerinnen beschrieben, dass sie eine Reizüberflutung während der Geburt erlebten und dies ihre Fähigkeiten zu kommunizieren weiter beeinträchtigte. Rosalyn verwendete den Begriff »Überstimulation« um dieses Gefühl zum Ausdruck zu bringen: »Ich erlebte eine Überstimulation durch die Geräusche und Helligkeit zusätzlich zu dem Druck, den ich verspürte. Durch diesen Stress wurde ich wie sprachlos: Ich konnte mich weder anderen Personen gegenüber äußern, noch jemand den Schmerz beschreiben. Ich konnte nicht um Hilfe bitten.«

     

    Bedürfnissen mehr Vertrauen schenken

     

    Die Autor:innen schlussfolgern aus ihren Ergebnissen, dass schlechte Kommunikation, unbehandelte Schmerzen und eine Reizüberflutung das Geburtserleben autistischer Frauen dominieren. Sie raten dazu, den Bedürfnissen dieser Gruppe von Gebärenden in Bezug auf Schmerz- und Angsteinschätzung Vertrauen zu schenken, und begründen dies damit, dass autistische Gebärende auch unter schwerem Stress ruhig erscheinen können.

    Um einer äußerlichen Reizüberflutung entgegenzuwirken, empfehlen sie, Umgebungsfaktoren vorausschauend stressarm zu gestalten, beispielsweise das Licht zu dimmen. Eine wichtige Rolle kommt der Information über den Geburtsverlauf zu, da dies autistischen Frauen hilft, die Kontrolle zu wahren und sich nicht weiter zurückzuziehen.

    Quelle: Lewis, L. F., Schirling, H., Beaudoin, E., Scheibner, H. & Cestrone, A. (2021). Exploring the Birth Stories of Women on the Autism Spectrum. J Obstet Gynecol Neonatal Nurs, 50, 679-690. https://doi.org/10.1016/j.jogn.2021.08.099 ∙ Beate Ramsayer/DHZ

     

    Rubrik: Geburt

    Erscheinungsdatum: 19.12.2022