Kolumne

Ein Kind ist ein Kind

Ein Kind wird geboren – und für einen Moment scheint die Zeit stillzustehen. Aber die Zeiger oder die Leuchtziffern der Uhr schreiten unbeirrt voran. Es muss sofort laut gesagt und korrekt notiert werden, um welche Uhrzeit das Kind den Körper der Mutter verlassen hat. Als hätte es Minuten vorher noch nicht existiert und würde erst durch diese Zeitangabe real.

Bevor die Mutter, noch durch die Nabelschnur mit ihrem Kind verbunden, sich gesammelt und das Baby selbst angeschaut hat, wird das Tuch angehoben und verkündet, dass das Kind »ein Junge« oder »ein Mädchen« sei. Als wenn das immer eindeutig wäre und zu diesem Zeitpunkt irgendeine Bedeutung hätte.

Aber ab jetzt werden dem Kind Farben (rosa oder hellblau) und Eigenschaften (stark oder zickig, weinerlich oder süß) zugeschrieben. Es folgt die Vermessung seines Körpers für die Statistik: pH, Apgar, Länge, Kopfumfang, Gewicht. Auch ein Name muss bald bestimmt werden, damit seine Existenz beglaubigt werden kann.

Ein warmes, lebendiges und absolut einzigartiges menschliches Wesen wird kurz nach seiner Geburt auf Buchstaben, Zahlen und ein Geschlecht reduziert.

Die Schubladen sind geöffnet und es werden noch viele weitere folgen, die ihm seinen Platz zuschreiben: Wie gesund es ist, wie »normal« es aussieht, die Farbe seiner Haut, die Muttersprache, die Staatsangehörigkeit, der soziale Status seiner Eltern, welche Schule es besucht, wen es liebt, welchen Beruf es ausübt ...

Selbst der Zeitpunkt seines Todes wird eines Tages vermessen werden. Am Ende bleibt von ihm ein Name mit zwei Daten auf einem Grabstein.

Für seine Eltern aber gibt es – hoffentlich – nur die eine »Schublade«: Du bist unser Kind und wir werden dich immer lieben.

 

Rubrik: Immer in der DHZ | DHZ 12/2023

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