Leseprobe: DHZ 11/2018
Nicht invasiver Pränataltest

Rechnung mit vielen Unbekannten

Seit 2012 ist ein nicht invasiver Pränataltest in Deutschland auf dem Markt. Er kann anhand von ein paar Tropfen mütterlichen Blutes bereits in der frühen Schwangerschaft mit höherer Zuverlässigkeit als andere nicht invasive Untersuchungen ein bestimmtes genetisches Merkmal ausschließen oder bestätigen. Ein Blick auf die Grenzen von Studien und Statistik sowie eine ethische Einordnung. Claudia Heinkel ,

Technisch gesehen ist der nicht invasive Pränataltest (NIPT) eine Innovation und bewirbt einen Paradigmenwechsel in der Pränataldiagnostik. Ethisch und gesellschaftspolitisch betrachtet ist er ein konfliktreiches und höchst umstrittenes Angebot: Für die einen ist er ein medizinischer Fortschritt, der Frauen einen belastenden invasiven Eingriff ersparen und ihr Recht auf Selbstbestimmung stärken kann, und der daher allen Frauen als Kassenleistung angeboten werden müsse. Für die anderen ist er ein »sozialer Kollateralschaden« für die betroffenen Familien, weil er das ohnehin in unserer Gesellschaft vorhandene Bild bekräftige, ein Kind mit Down-Syndrom müsse heute nicht mehr sein (Henn & Schmitz 2012).

Weil der Test einfach und ohne Eingriffsrisiko angewandt werden kann, könnte der soziale Erwartungsdruck auf Schwangere zur Nutzung dieses Tests und der Rechtfertigungsdruck auf Eltern mit einem Kind mit Behinderung weiter zunehmen.

Zunächst wurde der Test nur für ein Screening auf Trisomie 21 bei sogenannten Risikoschwangeren aufgrund einer medizinischen Indikation und nur nach der 12. Schwangerschaftswoche (SSW) angeboten. Innerhalb kürzester Zeit wurde er in die Frühschwangerschaft vorverlegt. Das Leistungsspektrum wurde ausgeweitet auf die Suche nach weiteren Trisomien, nach Veränderungen bei den Geschlechtschromosomen und seit kurzem auch auf kleinste chromosomale Abweichungen, sogenannte Mikrodeletionen. Tests auf weitere genetische Merkmale oder gar auf Anlageträgerschaften sind zu erwarten.

Aktuell wird der Test von den Herstellerfirmen als ein zuverlässiger Test, der die werdenden Eltern bereits ab der 9. SSW »beruhigen«, ihnen »Sicherheit« und »Gewissheit« über ihr Kind verschaffen könne, beworben (www.lifecodexx.de) – Werbeversprechen, die in einer sowieso schon körperlich und emotional bewegten Lebensphase wie der (frühen) Schwangerschaft auf besonders offene Ohren stoßen.

Verschwiegen werden dabei die Ängste, die ein auffälliges Testergebnis auslösen kann: die Entscheidungskonflikte, in die die werdenden Eltern geraten können, die sie an die Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit bringen können und die letztlich über den Körper der Frau ausgetragen werden.

Der NIPT fällt als genetischer Test unter das Gendiagnostikgesetz (GenDG), das eine genetische Beratung der schwangeren Frau vor der Blutabnahme und nach dem Testergebnis verpflichtend vorsieht. In diesem Gespräch müsste sie auch darüber aufgeklärt werden, dass der NIPT eine Risikoabschätzung ist und keine gesicherte Diagnose liefert. Trotz seiner hohen Aussagekraft kann es auch falschpositive Ergebnisse geben. Auffallende Testergebnisse müssen daher – nach Aussage von medizinischen Fachgesellschaften wie auch von Anbietern (!) – durch eine invasive Untersuchung abgesichert werden, bevor gegebenenfalls über einen Schwangerschaftsabbruch entschieden wird (Dokumentation der Anhörung zum Vorbericht 2018, Kapitel 3.4.4).

Es gibt keine Statistik darüber, wie detailliert die genetische Beratung in der Praxis durchgeführt wird und welche weiteren Untersuchungsschritte nach einem auffälligen Testergebnis erfolgen. Beratungsstellen berichten, dass immer wieder Klientinnen nach einem auffälligen Testergebnis in die Schwangerschaftskonfliktberatung kommen, um zu klären, ob sie die Schwangerschaft fortsetzen oder nicht – ohne eine vorherige invasive diagnostische Abklärung des Ergebnisses.

Der Bluttest wird bislang nicht von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. Wie etwa das Ersttrimesterscreening wird er als Selbstzahlerleistung über die gynäkologischen Praxen an die schwangere Frau verkauft. Die Kosten sind von 1.249 Euro bei der Markteinführung im Jahr 2012 auf aktuell unter 200 Euro gesunken. Die Preise variieren dabei je nach Anbieter und Leistungsspektrum: Am preiswertesten ist mit 199 Euro die alleinige Suche nach einer Trisomie 21 und die optionale Mitteilung des Geschlechts (https://lifecodexx.com/fuer-schwangere/kosten/). Am teuersten ist mit 479 Euro ein »Premiumpanel«, bei dem, neben den Trisomien 21, 18 und 13, auch nach geschlechtschromosomalen Besonderheiten und nach (seltenen) Mikrodeletionen gesucht wird (www.panorama-test.de/fuer-eltern/kosten/).

 

Von der Selbstzahlerleistung zur Kassenleistung?

 

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), das oberste Entscheidungsgremium im Gesundheitswesen, hat im August 2016 ein Methodenbewertungsverfahren zum genetischen Bluttest eingeleitet. In diesem Verfahren soll geprüft werden, ob und wie der Test auf die Trisomien 13, 18 und 21 »in den engen Grenzen einer Anwendung bei Risikoschwangerschaften« eingesetzt werden kann, und zwar im Vergleich zu den invasiven Untersuchungen, die bereits Kassenleistungen sind (Pressemitteilung des G-BA vom 18.8.2016).

Die Bewertungskriterien sind ausschließlich medizinisch-technischer Art. Geprüft werden sollen der diagnostische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit und die Wirtschaftlichkeit des Tests. Eine ethische oder gesellschaftspolitische Bewertung ist in diesem Verfahren, anders als im Europäischen Bewertungsverfahren zum NIPT, ausdrücklich nicht vorgesehen.

 

Was ist der medizinische Nutzen?

 

Dieser auch für die Fachöffentlichkeit unerwartete Beschluss des G-BA hat vielfach Kritik ausgelöst. Es wurde nicht nur eine fehlende öffentliche Debatte vor einem solchen Beschluss bemängelt. 20 Initiativen und Organisationen fragten in einer gemeinsamen Stellungnahme kritisch nach dem medizinischen Zweck eines solchen Tests (Stellungnahme von 20 Verbänden vom 14.2.2017).

Die Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) haben den Auftrag, »mit ihren Leistungen die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu verbessern« (§ 1 SGB V). Was aber ist der medizinische Zweck des NIPT auf Trisomie 21 für die schwangere Frau oder für das werdende Kind? Er kann ja lediglich feststellen, ob das werdende Kind eine Trisomie hat oder nicht und hat keinerlei therapeutisches Potenzial. Er kann daher weder die Gesundheit der Schwangeren noch die des werdenden Kindes »erhalten, wiederherstellen oder verbessern«.

Dies einzugestehen habe sich der G-BA gescheut, so die beiden Wissenschaftlerinnen Kathrin Braun und Sabine Könninger. Er habe gerade nicht nach medizinischen Gesichtspunkten entschieden, sondern, im Gegenteil, mit der Entscheidung für ein Bewertungsverfahren eine moralische Wertung getroffen: »Faktisch stuft er mit der Einleitung des Bewertungsverfahrens die Verhinderung von Menschen mit Trisomie als anerkennenswerten Zweck der GKV ein«. Der Verweis darauf, dass der Bluttest Fehlgeburten durch – kassenfinanzierte – invasive Untersuchungen verhindern könne, werten sie als einen bloßen Kunstgriff: Dieser ändere nichts daran, dass die Feststellung von Trisomie kein medizinischer Zweck sei. Hätte der G-BA die Frage des medizinischen Zwecks ehrlich diskutiert, hätte er sich für nicht zuständig erklären müssen, so ihr nachvollziehbares Fazit (Braun & Könninger 2017).

 

Wer trägt zu welchem Zeitpunkt die Verantwortung?

 

Der unparteiische Vorsitzende des G-BA Prof. Josef Hecken hat auf die vielfache Kritik reagiert, allerdings erst nach dem Beschluss des G-BA für ein Methodenbewertungsverfahren. Es sei dem G-BA bewusst, dass dieses Verfahren in besonderer Weise »fundamentale ethische Fragestellungen berühre, die mitbedacht werden müssten«. Befürchtungen über die »potenzielle Gefahr einer selektiven Verhinderung von Schwangerschaften mit Trisomie 21« würden besonders im Blick behalten (Pressemitteilung vom 18.8.2016).

Wie er das tun will, ist in einem Offenen Brief an vier Bundestagsabgeordnete zu lesen: Darin bekräftigt er die gesellschaftspolitische und ethische Brisanz des Bewertungsverfahrens und präzisiert eine Art Arbeitsteilung zwischen G-BA und dem Parlament: Der G-BA habe nur wissenschaftlich-technische Prüfkompetenzen, er könne und dürfe diese fundamentalen ethischen Grundfragen nicht allein beantworten. Es sei vielmehr die Aufgabe des Parlaments, für diese Testverfahren nach Lösungen zu suchen, die »mit der Werteordnung unserer Gesellschaft vereinbar seien« (Offener Brief von Prof. Hecken vom 19.8.2016).

Wenn die Forderung des G-BA nach einer solchen parlamentarischen Debatte ernstgemeint ist, müsste diese Abgabe der Verantwortung dann nicht zwingend zu einem Moratorium in dem Methodenbewertungsverfahren führen, um Zeit für eine umfassende Debatte zu geben? Das haben beispielsweise das Gen-ethische Netzwerk (GeN), das Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik und Bioskop zuletzt in einer gemeinsamen Stellungnahme im Juli 2018 angemahnt (Stellungnahme vom GeN & Netzwerk & Bioskop vom 4.7.2018).

 

Wie zuverlässig sind die Testergebnisse?

 

Im Frühjahr 2017 hat der G-BA das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit einer Evidenzbewertung des Tests beauftragt. Auf dieser Grundlage wird der G-BA am Ende des dreijährigen Bewertungsverfahrens entscheiden, ob der nicht invasive Bluttest auf die Trisomien 13, 18, und 21 »für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten erforderlich« (!) ist und dementsprechend eine Kassenleistung werden wird (Auftragskonkretisierung an das IQWiG vom 26.1.2017).

 

Kurzprofil: Der nicht invasive Pränataltest

 

Der nicht invasive Pränataltest (NIPT) dient der Risikoabschätzung und ist kein gesichertes Diagnoseverfahren. Trotz der hohen Aussagekraft (Sensitivität und Spezifität) des Tests vor allem bei einer Trisomie 21 sind falsch-positive Testergebnisse möglich. Eine invasive Abklärung ist daher vor einer Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch medizinisch geboten, so die medizinischen Fachgesellschaften.

Der genetische Bluttest hat keinen medizinischen Nutzen, weder für die Schwangere noch für das Kind. Er kann – mit einer höheren Zuverlässigkeit als andere nicht invasive Verfahren – berechnen, ob das werdende Kind eine genetische Besonderheit hat. Eine therapeutische Handlungsoption gibt es nicht. Ein auffälliges Testergebnis kann die werdenden Eltern daher in unerträgliche Entscheidungskonflikte stürzen und die bereits getroffene Entscheidung für ihr Kind wieder in Frage stellen.

Je geringer das statistische Risiko einer Schwangeren für eine Trisomie 21 ist, also je jünger sie ist, desto größer ist statistisch zwangsläufig die Fehlerhäufigkeit des NIPT und desto mehr Frauen erhalten ein falsch-positives Testergebnis. Aus diesem Grund empfehlen manche medizinische Fachgesellschaften den NIPT auch nur für sogenannte Risikoschwangere nach einem vorausgegangenen Ultraschall.

Der NIPT fällt unter das Gendiagnostikgesetz. Jede Frau hat daher einen Anspruch auf eine umfassende genetische Beratung vor der Blutabnahme und nach einem Testergebnis. Dazu gehört auch die sorgfältige Erläuterung der Testergebnisse: Was bedeutet beispielsweise eine Sensitivität von 99 % eines Tests? Was ist der positive prädiktive Wert für die Frau, also die Wahrscheinlichkeit, dass ein positives Testergebnis auch korrekt positiv ist?

Jede Frau hat ein Recht auf Nichtwissen – auch in Zeiten des NIPT und auch dann, wenn er Kassenleistung würde. Niemand hat das Recht, sie, wie subtil auch immer, zu diesem Test zu drängen.

 

Drei hypothetische Szenarien

 

Auf der Grundlage dieser Analyse berechnet das IQWiG auftragsgemäß in hypothetischen Szenarien, wie eine Anwendung des NIPT bei verschiedenen Gruppen von Schwangeren mit einem unterschiedlich hohen Risiko für eine Trisomie 21 die Testergebnisse beeinflussen könnte (Abschlussbericht, Kapitel 4.6).

Die Szenarien werden anhand von zwei Berechnungskriterien miteinander verglichen: Zum einen wird nach der Zahl der Feten mit Trisomie 21 gefragt, die nicht erkannt werden, zum anderen nach der Zahl möglicher Folgeuntersuchungen und damit zusammenhängender Fehlgeburten.

 

Szenario 1: Nur Ersttrimesterscreening

 

Alle Schwangeren nehmen für die Suche nach einer Trisomie 21 als nicht invasive Untersuchung das Ersttrimesterscreening (ETS) in Anspruch (und nicht den NIPT).

Diese Berechnung wird den weiteren Schätzungen als Status quo vergleichend zugrunde gelegt.

Das IQWiG kommt zu folgenden Schätzergebnissen: Von 100.000 schwangeren Frauen würden je nach Risikowert (1:100/1:200/1:300) zwischen 180 und 209 Frauen ein richtig-positives Testergebnis bekommen – ihr Kind hat tatsächlich das Down-Syndrom. Die Zahl der Feten mit Trisomie 21, die nicht erkannt würden – also die Zahl der falsch-negativen Ergebnisse – schwankt je nach Risikowert zwischen 31 und 60 (Punktschätzung).

Wegen der Ungenauigkeit des ETS gäbe es eine hohe Zahl von Schwangeren, die ein falsch-positives Testergebnis erhielte. Wenn alle Frauen mit einem richtig- beziehungsweise falsch-positiven Testergebnis – wie in der Berechnung angenommen – eine invasive Untersuchung durchführen ließen, wären das zwischen 1.829 und 4.704 Untersuchungen. Die Zahl möglicher Fehlgeburten läge zwischen 4 und 9 bei einem vermuteten Eingriffsrisiko von 0,2 % und zwischen 18 und 47 bei einem Eingriffsrisiko von 1 %.

Diese Berechnung hat jedoch mehr als einen Haken: Dass tatsächlich alle Schwangeren das ETS – eine Selbstzahlerleistung – in Anspruch nehmen, um ihr Risiko für eine Trisomie 21 abklären zu lassen, ist eine recht gewagte hypothetische Annahme. Kann sie tatsächlich eine belastbare Grundlage für die Berechnung weiterer Szenarien sein?

Zudem wird bei diesem, wie bei den folgenden Szenarien grundsätzlich vorausgesetzt, dass alle Frauen mit einem auffälligen Ergebnis auch eine invasive Abklärung durchführen lassen. Dies ist aber nicht notwendigerweise der Fall. Auch im Bericht heißt es, bei manchen könnte sich der auffällige Hinweis auf eine Trisomie 21 auch auf andere Weise, beispielsweise über Feindiagnostik-Ultraschall, klären, was die berechnete Zahl von Folgeuntersuchungen und Fehlgeburten verringern würde.

Die Ergebnisse dieser hypothetischen Berechnung werden trotz der offenen Fragen den weiteren Szenarien als Status quo zugrunde gelegt, was die nachfolgenden Ergebnisse verfälschen kann. Das ist keine Lappalie, weil diese Berechnungen die Grundlage für die Entscheidung des G-BA über NIPT als Kassenleistung sein werden.

 

Szenario 2: NIPT für Risikoschwangere

 

Der NIPT wird ausschließlich Schwangeren mit einem sogenannten Risiko für eine Trisomie 21, beispielsweise nach einem Ultraschall, angeboten.

Bei dieser sogenannten Zweitlinienstrategie – dem NIPT geht eine Untersuchung (ETS) voraus – läge die Anzahl der Folgeuntersuchungen zwischen 180 und 210, die Zahl möglicher Fehlgeburten zwischen 0 und 2. Weil aber Frauen mit einem geringen Risiko für eine Trisomie 21 nicht erfasst würden, würde ein, verglichen mit dem Status quo, fast unveränderter Anteil an Feten mit einer Trisomie 21 nicht erkannt.

Wenn es das vorrangige Ziel des G-BA ist, Feten mit einer Trisomie 21 möglichst vollständig zu entdecken, wäre daher der NIPT als Zweitlinienstrategie nach diesen Berechnungsergebnissen nur von eingeschränktem Interesse.

Die im Vergleich mit dem ersten Szenario geringere Zahl an Folgeuntersuchungen ist aber nicht wirklich in Stein gemeißelt: In seinem Fazit spricht der Bericht davon, dass sich die Zahl der Fehlgeburten gegenüber dem Status quo »vermutlich« reduzieren würde (Abschlussbericht, Seite 22). Die Zahlen könnten sich beispielsweise noch ändern, weil eine unbekannte Zahl von Frauen zwar kein auffälliges Testergebnis zu einer Trisomie 21, aber Hinweise auf andere Auffälligkeiten erhielten, die sie dann möglicherweise durch eine Amniozentese abklären ließen.

Der Hauptgrund für diese vorsichtige Aussage sind jedoch die Testversager, die nicht in die Ergebnisse einberechnet wurden. Dies könnte dazu führen, dass die Möglichkeit des NIPT, die Anzahl invasiver Diagnostiken zu reduzieren, überschätzt sein könnte.

 

Szenario 3: NIPT für alle Schwangeren

 

In diesem Szenario wird der NIPT ohne vorherige andere Risikoberechnung allen schwangeren Frauen in Deutschland in der Frühschwangerschaft als Kassenleistung angeboten.

Mit dieser sogenannten Erstlinienstrategie könnten fast alle Feten mit einer Trisomie 21 entdeckt werden, aber um den Preis einer statistisch zwangsläufig sehr hohen Zahl an falsch-positiven Ergebnissen: In der Punktschätzung erhielten 288 Frauen ein positives Testergebnis, bei 50 von ihnen wäre dieses Ergebnis falsch-positiv. Das sind 17 % der Frauen mit einem auffälligen Testergebnis.

Wenn man das Konfidenzintervall und die Ergebnisse aller Studien einbezieht, könnte bis zu ein Drittel aller Frauen mit einem positiven Testergebnis ein falsch-positives Ergebnis haben. Sie würden fälschlicherweise in Angst und Schrecken versetzt und vermutlich eine invasive Abklärung vornehmen.

Wenn ausschließlich die zuverlässigen Studien Berechnungsgrundlage wären, würde die Zahl der falsch-positiven Ergebnisse exorbitant steigen. Das Fazit der Bundesvereinigung Lebenshilfe zu diesem Szenario: Allein medizinisch gesehen wäre ein Screening aller Schwangeren unabhängig von ihrem Risiko sehr problematisch, von der ethischen Problematik eines kassenfinanzierten Screenings auf Trisomie 21 einmal abgesehen. (Vermerk BVL vom 23.1.2018).

Das IQWiG selbst zieht aus einem anderen Grund ein recht ernüchterndes Fazit zu diesem Szenario: Die Zahl der invasiven Untersuchungen bei dieser Erstlinienstrategie könne möglicherweise unterhalb des Status quo liegen. Aber: Möglicherweise sei diese hypothetische Berechnung aufgrund von Testversagern auch völlig unhaltbar und die Zahl der invasiven Untersuchungen könnte sich dem Status quo (Szenario 1) annähern.

Was wäre dann aber mit einem NIPT als Kassenleistung für die einzelne Schwangere gewonnen?

 

Problematischer Umgang mit der »Zuverlässigkeit«

 

In der abschließenden Pressemeldung fasst das IQWiG die Ergebnisse des Abschlussberichts so zusammen: Der NIPT könne eine Trisomie 21 »zuverlässig erkennen«, er habe eine ähnlich hohe Testgüte wie die invasiven Methoden. Aber zugleich seien die Berechnungsergebnisse eine »Rechnung mit vielen Unbekannten«, die in der Meldung selbst nicht weiter erläutert werden (Pressemeldung vom 27.6.2018).

Zu diesen »vielen Unbekannten« gehören die oben erwähnten Testversager, also die Fälle, in denen der NIPT kein Ergebnis geliefert hat. Ihre Zahl schwankt je nach Berechnungsverfahren zwischen 1,58 und 6,09 %. (Abschlussbericht, Kapitel 5). Das IQWiG berücksichtigt sie nicht in seinen Berechnungen, weil nicht alle Studien die Gründe dafür nennen.

Dies ist für die Zuverlässigkeit der Berechnungsergebnisse aber von großer Bedeutung: Es gibt den wissenschaftlich begründeten Verdacht, dass bei einem Teil der Testversager gerade Trisomien die Ursache für die Nichtauswertbarkeit sind. Darauf haben TeilnehmerInnen der wissenschaftlichen Erörterung des Vorberichts hingewiesen (Dokumentation der Anhörung 2018, Kapitel 3.4.2.)

Die Testversager haben möglicherweise zur Folge, dass die berechnete hohe Sensitivität und Spezifität des NIPT auch für eine Trisomie 21 überschätzt ist und in Wirklichkeit niedriger liegt – um wieviel niedriger bleibt unklar.

In den Medienberichten ist von diesen »vielen Unbekannten« kaum die Rede, und schon gar nicht in den Pressemeldungen der Anbieter: Hier überwiegen Begeisterung und Zufriedenheit über die mehr als 99-prozentige Sensitivität und Spezifität des Tests.

 

Wie geht es weiter?

 

Die »ethikfreie« Berechnung des IQWiG und mehr noch der »ethikfreie« Auftrag des G-BA hinterlassen bei allem Respekt vor der Arbeit des Instituts doch ein schales Gefühl.

Was ist das für eine medizinisch-technische Logik, die in erster Linie darauf schaut, wie hoch die Zahl der Feten mit einer Trisomie 21 ist, die nicht übersehen werden dürfen, damit ein Test Kassenleistung werden kann? Die konsequent die ethische und gesellschaftspolitische Diskussion eines selektiven Tests verweigert? Eine Logik, die die Frage nach der Botschaft, die eine kassenfinanzierte Suche nach einer Trisomie 21 aussenden würde, mit dem Verweis auf eine bereits bestehende selektive Praxis beiseite fegt? Wie kann man ernsthaft über einen so brisanten und umstrittenen Test mit einer auf technische Fragen beschränkten Sichtweise urteilen wollen, ohne nicht wenigstens vor der Entscheidung über ein solches Verfahren eine breite gesellschaftliche und parlamentarische Debatte abzuwarten, in der auch betroffene Menschen zu Wort kommen und Gehör finden?

Es geht in der Kritik an diesem Verfahren und an diesem Test nicht um ein Verbot eines innovativen Untersuchungsverfahrens und schon gar nicht darum, die Frauen zu verurteilen, die nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss kommen, dass sie früh wissen wollen, ob ihr Kind eine Trisomie 21 hat.

Es geht jedoch um die Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? In einer, die nicht unerhebliche Finanzmittel zur Entwicklung von Tests bereitstellt, die nichts anderes können, als nach genetischen »Normabweichungen« zu suchen? Oder in einer Gesellschaft, in der kein Paar bei einem vorgeburtlichen Befund über eine Behinderung ihres werdenden Kindes Angst vor wirtschaftlicher Armut und sozialer Ausgrenzung haben muss?

Es braucht zwingend eine Debatte – und zwar eine ergebnisoffene– bevor der G-BA die Entscheidung über eine Kassenleistung trifft: ob dieser Test als Kassenleistung zu unseren Vorstellungen von Menschenwürde passt und ob er tatsächlich zur größeren Selbstbestimmung der Frau beiträgt, über deren Körper letztlich die selektive Zielsetzung des Tests ausgetragen wird.

Es geht um die Frage der Steuerungshoheit der politisch Verantwortlichen und darum, es nicht allein den Marktinteressen der Hersteller zu überlassen, ob und wie solche brisanten medizinischen Angebote bereitgestellt werden.

Daher ist es sehr zu begrüßen, dass im Sommer zehn Abgeordnete eine Initiative für eine parlamentarische Debatte über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg unter der Überschrift »Vorgeburtliche Bluttests – wie weit wollen wir gehen?« gestartet haben. Sie wird voraussichtlich im Januar 2019 stattfinden und soll sich mit den »ethischen und gesetzgeberischen Fragestellungen, die sich mit der Zulassung solcher Verfahren ergeben«, unter Einbeziehung von Menschen mit Behinderung und ihren Familien befassen
(Interfraktionelles Positionspapier 2018, Seite 2).

 

Auf Augenhöhe

 

Eine solche parlamentarische Debatte kann ein Impuls für eine breite gesellschaftliche Diskussion über diesen Test und seine zwiespältigen Folgen sein. Dazu ist über die medizinische Fachöffentlichkeit hinaus die Beteiligung der Zivilgesellschaft und insbesondere auch kritischer Initiativen und Verbände nötig. In jedem Fall müssen Menschen mit Behinderung und ihre Familien daran beteiligt werden und zwar auf Augenhöhe und nach fairen Spielregeln, die sie zu Wort kommen lassen.

Die Hebammen und ihr Erfahrungswissen über Schwangersein und Kinderkriegen im Zeitalter einer immer ausdifferenzierteren Pränataldiagnostik sind in einer solchen Debatte von großer Bedeutung!

 

Ergebnisse der Metaanalyse: Vorhersagekraft und Validität

 

Das IQWIG hat zunächst in einer Metaanalyse 22 wissenschaftliche Studien zum NIPT auf ihre Aussagekraft für die Trisomien 13, 18 und 21 ausgewertet. Gefragt wird nach der Anzahl der korrekt positiv bestimmten (Sensitivität) und der korrekt negativ bestimmten Testergebnisse (Spezifität) in den verwertbaren Studien (Abschlussbericht, Kapitel 4.5).

Ein erstes Ergebnis lautet: Zu den Trisomien 13 und 18 kann die Testgüte des NIPT anhand der derzeit vorliegenden Studien nicht robust geschätzt werden. Deshalb könne der Test auf die Trisomien 13 und 18 auch nicht in die weiteren Berechnungen einbezogen werden, so der Abschlussbericht. Mit anderen Worten: Die Studienergebnisse zu den Trisomien 13 und 18 taugen nicht für eine Empfehlung als Kassenleistung.

Für die Trisomie 21 kommt das IQWiG zu einem anderen Ergebnis: Die aus den 22 Studien zusammengeführten Zahlen für die Sensitivität und Spezifität des Bluttests auf Trisomie 21 liegen bei 99,13 % beziehungsweise 99,95 %.

Allerdings sind diese Zahlen mit Vorsicht zu betrachten: 17 der 22 ausgewerteten Studien haben ein hohes Verzerrungspotenzial. Das IQWiG hat seine Ergebnisse dennoch uneingeschränkt seinen Berechnungen zugrunde gelegt und die Ergebnisse aller Studien zusammengeführt, obwohl sich die Berechnungsergebnisse der wenigen zuverlässigen Studien von denen der Studien insgesamt unterscheiden können.

Dieses Vorgehen kritisiert beispielsweise die Bundesvereinigung Lebenshilfe in ihrer Stellungnahme zurecht als wissenschaftlich unzureichend, weil die Studien mit einem niedrigen Verzerrungspozential »zu anderen Ergebnissen bezogen auf die Vorhersagekraft und Validität« der Testergebnisse kämen (Stellungnahme zum Vorbericht 23.1.2018).

Zudem hat das IQWiG in der Metaanalyse den positiv prädiktiven Wert (PPV) »mangels verlässlicher Daten zu den Prävalenzen in den Risikogruppen« nicht berechnet (Abschlussbericht Seite 17). Gerade dieser Wert aber ist für die einzelne Frau von Bedeutung: Der PPV gibt Auskunft über die Wahrscheinlichkeit, dass bei einer positiv getesteten Frau das gesuchte Merkmal – in diesem Fall eine Trisomie 21 – auch tatsächlich vorliegt. Dieser Wert hängt entscheidend davon ab, wie hoch das Risiko für eine Trisomie in der getesteten Personengruppe ist: In einer Gruppe von Frauen mit einem geringen Risiko ist der PPV auch niedriger als bei sogenannten Risikoschwangeren, unabhängig davon, dass die Sensitivität des Tests über 90 % liegt.

Rubrik: Politik | DHZ 11/2018

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