Digitalisierung in der Hebammenarbeit

»App to Date«

Digitale Information und Kommunikation zu nutzen, ist auch Hebammen und (werdenden) Eltern nicht mehr fremd. Aber wohin führt es, wenn Apps den direkten Kontakt ersetzen? Eine kritische Reflexion. Ulrike Bleyl

Eine Frau in der 24. Schwangerschaftswoche sitzt mit mir in der Hebammensprechstunde. Ihre Schwangeren-App hat sie in die Sorge geführt, wie ihr Damm unter der Geburt unversehrt bleiben kann. Sie fragt sich, ob sie sich ein EPI-NO zur mechanischen Dehnung des Dammes kaufen soll, ihre App hat ihr das ans Herz gelegt.

Eine andere Schwangere bat ihren Mann, ob er mit ihr noch eine Runde rausgeht, sie habe nach Auskunft ihrer App ihre 10.000 Schritte noch nicht geschafft. Auch der »digitale Mutterpass« ist ein Thema bei den Frauen, die ich begleite.

Das digitale Leben ist bunt und laut und es heimelt ihm etwas Frisches und Neues an, gepaart mit der Aufforderung, nicht an »veralteten« Begegnungskonzepten festzuhängen und das Beste aus der Digitalisierung auch für uns rauszuholen.

 

Wo bleibt die Sinnlichkeit?

 

Ich frage mich: Wo ist unser Diskurs? Wo sind unsere Fragen, unsere Skepsis, unser Blick zu den Frauen? Was geschieht mit der eh schon gebrochenen Sinnlichkeit im Schwangergehen und Gebären, wie die Körperhistorikerin Barbara Duden es nennt, wenn Frauen von der digitalen Wolke (Cloud) überschattet werden? (Duden, 2002, S. 155)

Was geschieht mit ihren Daten? Wer wertet sie aus? Sind wir an dieser Auswertung beteiligt? Wissen wir, wie sich diese Daten auf die Schwangerenvorsorge, die Leitlinien, die Geburtsbetreuung, Hausgeburten, das Wochenbett auswirken? Haben wir uns gefragt, ob es nicht auch andere »Daten« gibt, außer den messbaren, die ein Wohlbefinden und eine leibliche, gesunde Schwangerschaft bezeichnen? Was macht es mit unserem Menschen-Frauen-Schwangerenbild? Was macht es mit unserer eigenen Berufswürde und -ethik, wenn wir der Spur der digitalen Up-Date-Beziehung unkritisch folgen?

Die vergangenen Jahre haben digital vieles möglich gemacht. Bin ich vielleicht zu spät mit meinen kritischen Fragen?

 

Die Hebamme als App

 

»Die Hebamme gibt es jetzt auch als App – für Ihr iPhone, iPad oder Android-Geräte. Egal wo Sie sind – Die Hebamme ist immer dabei! Schmökern Sie digital«, so leuchtet es mir von der Internetseite des Thieme-Verlags entgegen . Ich bin seit 32 Jahren Hebamme und mache mir Sorgen – doch was besorgt mich eigentlich? Die digitale Welt erscheint doch erstmal wie ein Zugewinn an Freiheit, »als Überwindung lästiger Grenzen« (Samerski, 2022, S. 10). Sie erweitert unsere Arbeit in eine neue Sicherheit und Verantwortung hinein, erhöht die eigene Flexibilität und hebt lange Fahrwege auf. Das klingt doch alles sehr gut. Und zusätzlich zu allen vorausschauenden und informierenden Fähigkeiten braucht die Hebamme per App keine Essenspause, keinen Schlaf, verbraucht keinen Sauerstoff und keinen Sprit.

Auch ist es ja prinzipiell hygienischer, bequemer, umweltfreundlicher, wenn Hebammen über eine App mit den Frauen in Verbindung treten. Und wenn wir der Werbung Glauben schenken, wird die Beziehung zu den Frauen auch noch intensiver (https://hebamme-app.de/de/deine-eigene-hebammen-app/).

Silja Samerski, Professorin für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Gesundheit der Hochschule Emden/Leer, fasst das große Versprechen von Big Data und Digitalisierung so zusammen: »… durch Datafizierung die körperliche und psychische Gesundheit auf ganz neue Weise einsehbar und behandelbar zu machen – so, dass mögliche Beeinträchtigungen sogar vorausschauend verhindert werden können.«

Und uns Hebammen gibt es ja auch noch. Alles in allem doch eigentlich eine Verbesserung, oder?

Riskieren wir einen kritischen Blick. Silja Samerski schreibt: »Apps behandeln Nutzer als gesichtslose Datensätze und spiegeln Resultate der Datenverarbeitung als bedeutsames Wissen an diese zurück.« Mit Daten meint sie quantifizierbare Informationen, die durch (automatisiertes) Messen, Zählen, Klassifizieren und Verrechnen konstruiert werden. »Ein Phänomen zu datifizieren bedeutet, es in ein Format zu bringen, so dass es zahlenmäßig erfasst und analysiert werden kann.« So weit so gut, doch was hat das alles mit uns zu tun?

 

Mögliche Folgen

 

Sherry Turkle, Professorin für Sozialwissenschaften am Massachusetts Institute of Technology (MIT), hat die Folgen der Digitalisierung untersucht. Ihre Erkenntnis: »Die digitale Kultur ist eine Kultur des Vergessens, genauer gesagt verleitet sie uns dazu, das zu vergessen, was sie nur zu simulieren vermag: den Körper.«

So könne »das Überwinden lästiger Grenzen auf den ersten Blick verführerisch wirken, doch der Preis, den wir zahlen«, ist laut Turkle »ein Gefühl der Isolation. Wer das direkte Gespräch und die Auseinandersetzungen nicht mehr gewohnt ist, geht ihr schließlich aus dem Weg (…) Die Maschinen gewöhnen uns daran, dass wir uns mit einem oberflächlichen Gefühl von Nähe und Verbundenheit zufriedengeben, ohne uns wirklich auf andere Menschen einzulassen.«

Auch sieht sie bereits eine Veränderung, wenn Begegnung und Gespräch von digitaler Kommunikation abgelöst werden: »Sie [Turkle, Anm. der Autorin] zeigt, dass die Abwendung voneinander vielschichtig ist. Erstens können es Menschen, für die ein Minicomputer ein ständiger Begleiter ist, oft nicht mehr aushalten, wenn sie alleine sind und nichts passiert. Jede Form von Stillstand, nicht selten die kurze Wartezeit an einer Ampel, wird mit einem Blick auf den Bildschirm überbrückt.«

Was geschieht, wenn schwangere Frauen den Stillstand nicht mehr ertragen? Werden sie dann anfälliger für Kaiserschnitte, Geburtseinleitung, PDA oder für Werbe-Empfehlungen der Apps, die ihnen suggerieren, dass Konsumentin zu sein ihr wahres Tun ist und sie zum Beispiel ein EPI-NO brauchen? Sicher gibt es bei den unterschiedlichen App-Angeboten einige auch gute und informative, doch mein Anliegen ist hier, der »Glorifizierung« von Digitalisierung entgegenzustehen.

 

Wissen und Konsumwirtschaft

 

Beim Deutschen Hebammenkongress im Mai 2019 in Bremen wurde das Thema Digitalisierung aufgegriffen. Die Redaktion des Hebammenforums schreibt von einem blühenden Wirtschaftszweig, der uns durch Navis und Handys ja bereits »in Fleisch und Blut übergegangen« sei. Weiter wird berichtet, dass zu den Zielgruppen der Digitalisierung auch »explizit Hebammen und die zu betreuenden Frauen« gehören .

Schauen wir in die Geschichte unseres Berufsstandes, ist das Hebammenwissen und die Daten der schwangeren Frauen zu bekommen und abzuschöpfen. Kein unbekanntes Phänomen: Sollten nicht bereits im 15. Jahrhundert Hebammen den Ärzten in den von da an vorgeschriebenen Hebammen-Prüfungen genau und ausführlich über ihr Wissen und Können Auskunft geben? Doch sie gaben wohl damals nicht sehr viel preis, »sie hatten wohl mit Recht den Verdacht, dass sich die ›Buchmediziner‹ auf diese Weise Kenntnis verschaffen wollten, die ihnen sonst nicht zugänglich waren«. Jetzt sind es nicht mehr die »Buchmediziner«, sondern es ist Big Data. Geben wir alles preis oder haben wir Big Data unter Verdacht, Eigeninteressen zu verfolgen und das sicher anders als im 15. Jahrhundert?

Ja, es mag sein, dass »Schwangere und junge Mütter digitale Unterstützung wünschen«, wie es beim Hebammenkongress in Bremen klar formuliert wurde, und wir uns hier fügen müssen . Doch wo bleibt unsere kritische Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen dieser neuen Selbstverständlichkeit?

Das Kinderkriegen ist eine äußerst intime und private Angelegenheit, jedoch gleichzeitig ein gesellschaftlich höchst relevanter Prozess und seit längerem von großem Forschungsinteresse, besonders in der Bio- und Pharmaindustrie, aber auch in Soziologie, Politik, Psychologie und in den Medien.

Wenn wir uns nur kurz in der Werbelandschaft umschauen, finden wir Slogans wie »aus Liebe zum neuen Leben« für Zusatzpräparate und es verwundert nicht, dass in unserer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft eine Frau »weiß«, dass »jede technische Chance zu nutzen, jedes Konsumangebot zu ergreifen ist. Nichtstun ist sträflich« . Es erschiene zumindest fahrlässig.

 

Qualitätskriterien für Menschen

 

Es ist spannend, noch einmal in die Geschichte zu schauen: Im 19. Jahrhundert entdeckte die Statistik die Bevölkerung als formbares Ganzes und machte den Zugriff auf Fruchtbarkeit, Gebären und deren Qualität auch politisch möglich Hier wurde eine neue Haltung zu den Qualitätskriterien der Gesundheit hervorgebracht, der »Volkskörper« war geboren und übersetzte sich im 20. Jahrhundert auch in politische Ideologien, wie Vererbungslehre und Rassenhygiene.

Das scheint vielleicht weit hergeholt in Bezug auf die »Digitalisierung im Kopf«, wie es Silja Samerski nennt. Doch die Volksgesundheit als gesellschaftliches Gut, die Qualitätskriterien der Gesundheit, stehen heute kaum noch in Frage und bestimmen vielerorts unser Handeln und Denken. Dr. Maria A. Wolf, Universitätsdozentin am Institut für Erziehungswissenschaften in Innsbruck mit Forschungsschwerpunkt Eugenisierung der Mutterschaft, nennt das entstandene Qualitätskriterium: »Gesundheit als höchstes Gut« Duden, 2002, S. 85)

Warum schreibe ich das? Unser Denken über die Gesundheit von Schwangeren und Neugeborenen wandelt sich. Messbare »Gesundheit als höchstes Gut« geschieht bereits: So ermutigt die Gesundheitsplattform Dacadoo dazu, den eigenen Gesundheits-Datensatz wie einen »persönlichen Aktienkurs« zu sehen . Sie soll Menschen in die Lage versetzen, ihre eigene Gesundheit und ihr Wohlbefinden zu verwalten – ganz mühelos mit dem eigenen kleinen »Gesundheitscoach in Ihrer Hosentasche«, der motiviert, Erfolg belohnt und dabei hilft, Ziele zu erreichen.

Doch was als Erfolge und Ziele festlegt wird, könnte bereits ein neues Menschen-Qualitätskriterium abbilden. Zusätzlich bietet die Gesundheitsplattform fast eine neue Definition von Gesundheit an, so kann man lesen: Gesundheit sollte nicht immateriell sein, denn so »ist es schwierig, sie zu verstehen. Wenn Sie es jedoch messen können, können Sie damit arbeiten.«

Welche neuen messbaren Qualitätskriterien und Werte wird uns wohl die Digitalisierung »schenken«? Wo sollten wir achtsam sein?

 

Ich habe einen Albtraum

 

Auch in mein Hebammen-Leben treten Digitalisierungsangebote. Doch ohne eine kritische Auseinandersetzung wird bald auch den Hebammen das Schritte-Zählen normal, das Spazierengehen verzweckt und die Sinnlichkeit abgelöst durch Optimierung. Wir befremden uns dann nicht mehr an zum Beispiel effizienten Geburten und ich frage mich: Wenn uns das digitale Leben selbst als »normal« erscheint, uns nicht mehr befremdet, werden wir dann zu Touristinnen oder Reiseleiterinnen in der Schwangeren-Landschaft, suchen selbst nach Heimat und Geborgenheit im digitalen Unterhaltungsprogramm und Freiheit nicht mehr in Kooperation mit den Gebärenden, sondern im Konsum – also in Pseudo-Befriedigung?

Hier braucht es Achtsamkeit, denn es sind ja nicht nur wir, die simuliert werden, es ist »die Simulation von Welt als neue Wirklichkeit« die gefeiert werden soll.

 

»Marlies« – die Simulation unserer Welt

 

Eine dieser Wirklichkeiten ist das Chatbot »Marlies«. War sie 2019 beim Hebammenkongress in Bremen noch ein Roboter-Projekt, zeigt sie sich jetzt als eine reifere, ewig freundliche digitale Hebamme – ganz wie es das Projektteam geplant hatte: »Wir entwarfen die Figur mit dem Ziel, ein hohes emotionales Bindungspotenzial zu erreichen, und modellierten anhand einer konkreten Hebamme.«

Marlies ist eine Empathie-Maschine. Das klingt schon etwas verrückt und ich frage mich: Was ist das Ansinnen der Hersteller für dieses »hohe emotionale Bindungspotenzial«? Eine digitale Hebammen-Freundin? Der vertrauenserweckende digitale Hebammen-Datensatz? Was soll hier zu wessen Vorteil glücken? Vielleicht folge ich hier der falschen Spur, doch es gibt bereits Apps für Menschen mit Depressionen, von den Krankenkassen bezahlt die zwischenmenschliche Zuwendung vorgaukeln. An der Universität Hohenheim schlagen Dienstleistungsforscher:innen vor, »der sozialen Isolation von Kindern und alten Menschen während der Corona-Krise mit Robotern entgegenzuwirken, die wie Freunde interagieren und emotionalen Trost spenden.«

Die Presseerklärung der Universität zeigt ein Kind, das von einem großen grauen Roboter in den Arm genommen wird, und kommentiert: »Da es dabei keinen direkten Mensch-zu-Mensch-Kontakt gibt, werden zudem keine Krankheitserreger übertragen.« Das erinnert an »Marlies« und ihr »Bindungspotenzial«. Und hier sollte ein Achtung-Schild stehen.

Zum einen höhlt eine Empathie-Maschine die Empathie aus, weil sie »keinen Raum für verkörperte Erfahrung bietet.« Zum anderen stellt sich die Frage: Ist diese App noch ein Werkzeug oder schon der erste Ersatz für die Hebamme, als Simulation einer emphatischen Ansprechpartnerin? Mutiert die Einsamkeit der Frauen, der heutige Verlust von Gemeinschaften und die Hilfsbedürftigkeit »zu Problemen, für die technische Lösungen entwickelt werden«?

Wenn »Marlies« schreibt, »Ich lerne noch«, bedeutet dies: Ich brauche mehr Daten. Und so werden Frauen dazu verführt, Fragen zu formulieren über persönliche Unsicherheit und Sorgen, Bewegendes und Intimes. Was wir nicht vergessen sollten: »Marlies« lädt die Frauen ein, sich zu äußern, jedoch »nicht um verstanden, sondern um vermessen zu werden.«

 

Mein Wunsch

 

Ich wünsche mir, dass wir das »Märchen der neutralen Technik hinterfragen. Wer glaubt, Technik sei neutral, begeht einen folgenreichen Fehlschluss.«

Hier braucht es unsere Skepsis, auf dass es nicht bald eine »Sendeverfolgung« für Hebammen und Schwangere gibt, eine krankenhausüberwachte Hausgeburt, einen digitalen Mutterpass oder eine digitale keimfreie Hebamme im Kreißsaal und wir das dann alles nicht mehr ändern können. Auch die Gegentrends, von denen beim Hebammenkongress in Bremen hoffnungsvoll berichtet wurde, sind nicht zu unterschätzen. Zum Beispiel ist der Markt angeblich »spiritueller« Geburtsvorbereitungskonzepte und -kurse fast unüberschaubar – viele Heilsversprechen schwirren im Raum und laden zur Manipulation ein. Auch hier braucht es unseren aufmerksamen Einspruch. Was sich daraus dann gestaltet, wäre auf jeden Fall spannend.

Fragen sollten gestellt, erforscht und diskutiert werden: Wer bekommt die Daten? Wie werden sie ausgewertet? Wie werden wir ausgewertet? Gibt es für uns andere Kriterien als die messbaren, um eine gesunde Schwangere, Gebärende und Wöchnerin zu »bewerten«? Was macht eine gute Hebamme aus? Was braucht es wirklich? Es ist genau unsere Aufgabe, der Digitalisierung kritisch zu begegnen, sie unter Verdacht zu haben und Fürsprecherinnen des Lebens, des Leibes und leiblicher Frauen-Erfahrungen zu sein, auf das sie nicht gezählt, sondern erzählt werden können.

Rubrik: Politik & Gesellschaft | DHZ 01/2023

Literatur

Dacadoo (2021). Vorhersagen & Verhindern. Technologielösungen für digitales Gesundheitsengagement und Gesundheitsrisikoquantifizierung. https://www.dacadoo.com/user-support/frequently-asked-questions/

Duden, B. (2002). Die Gene im Kopf – der Fetus im Bauch. Historisches zum Frauenkörper. Hannover. Offizin.

Redaktion Hebammenforum (2019). Deutscher Hebammenkongress Bremen, 27.–29. Mai 2019. Geballtes Hebammenwissen, kontroverse Debatten und schöne Begegnungen. In: Hebammenforum 07/19 (7), S. 729–732.
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