Als Beklagte ein Verfahren durchstehen

»Auch ich ...«

Eine erfahrene Hebamme aus Köln berichtet von ihrem jahrelangen, belastenden Schadensfallprozess. Im juristischen Verfahren und vor Gericht fühlte sie sich schlecht vorbereitet und allein gelassen. Sie hat ihre Lehren gezogen und stellt berufspolitische Forderungen. Renate Egelkraut
  • Renate Egelkraut: »Es ist ein Skandal, dass das Thema Haftung bei Hebammen immer noch nicht geklärt ist.«

Landtag Düsseldorf, 2010. Auf Initiative der Linken findet eine Anhörung zur »Haftpflichtproblematik der Hebammen in NRW« statt. In meiner Funktion als Standesvertreterin, als zweite Vorsitzende des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen, soll ich das Thema aus der Sicht der freiberuflichen Hebammen darstellen. Mein Tätigkeitsfeld umfasst zu dieser Zeit den gesamten Betreuungsbogen: Schwangerschaft, Kurse, Hausgeburten und Wochenbettbetreuung.

Die Versicherungswirtschaft wird von einem Sachverständigen vertreten. Dieser eröffnet seine Ausführungen mit dem Satz: »Hebammen sind genauso schlecht zu versichern wie Atomkraftwerke.« Darauf reagieren die Abgeordneten des Landtages mit merklicher Unruhe.

Ich sitze nicht nur als Funktionärin im Landtag, sondern auch als Betroffene. Etwa zwei Jahre zuvor ist eine Anzeige beziehungsweise Klage gegen mich eröffnet worden.

Mein Selbstbild bis dahin: Als Kölner Hausgeburtshebamme mit einem engen Kontakt zu meinen Frauen war ich sehr souverän und selbstsicher. Ich kannte mein Arbeitsfeld und meine Kompetenz. Seit Jahren war ich auf meinem Fahrrad in Köln unterwegs. Die Belastung der Dauerrufbereitschaft und die Last der großen Verantwortung erschienen mir tragbar.

 

Eine erschreckende Nachricht

 

Begonnen hat dieser Weg, sehr typisch, mit einem Anruf einer vor Jahren von mir betreuten Mutter. Sie brauche für ihr mehrjähriges Kind ein spezifisches Hilfsmittel. Wie es diesem kleinen Menschen ging, war mir bekannt, da wir seit seiner Hausgeburt eng im Kontakt waren. Ich kannte seinen Weg und seine aktuelle Entwicklung gut.

Die zuständige Krankenkasse sei nicht bereit, dieses Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen. Sie wolle erst von der Mutter eine Schweigepflichtentbindung anfordern und dann meine Dokumentation zur Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett einsehen. Mir versicherte die Anruferin am Telefon, dass sie vollkommen zufrieden gewesen sei mit meiner Arbeit und dass dieser Vorstoß nicht von ihr, sondern von ihrer Krankenkasse ausgegangen sei. Ein charakteristischer Vorgang. Die Krankenkasse des fraglich geschädigten Kindes sucht nach einer Finanzierung für die Hilfsmittel und will erstmal die Umstände abklopfen »Gibt es einen Schuldigen und kann diese regresspflichtig gemacht werden. Die Klage führen, müssen dann die gesetzlichen Vertreter des geschädigten Kindes.

Puh! Wenn wir so eine schwerwiegende Nachricht erhalten, ist die Gefühlswelt jedes Menschen annähernd ähnlich und doch vollkommen unterschiedlich. Bei mir waren es extreme und gegensätzliche Gefühle. Erst die Zuversicht! Zuversicht, weil ich mir keines Fehlers bewusst war, was soll passieren? Auch Mut, nicht nur mich, sondern auch die »betroffene« Familie gut durch diese Zeit zu begleiten. Was für ein Hochmut, wie sich rückblickend herausstellte. Dann Entschlossenheit, »sich nicht unterkriegen zu lassen«, da ich ja jeden Tag als Hebamme weitergearbeitet habe und der Geburtstermin meines zweiten Kindes anstand.

Was sich bei mir als Gefühl nicht einstellte, aber häufig von betroffenen Kolleginnen formuliert wurde, war Scham.

Als erstes habe ich bei einer Sachverständigen des Deutschen Hebammenverbandes (DHV) angefragt: »Was sind die nächsten Schritte?« Ich vermutete, mich in einem Strom von Erfahrungswerten zu befinden: Alle Wege sind schon oft von anderen betroffenen Hebammen gegangen worden, alle Schritte wurden schon oft erprobt und ich bin eine von vielen. Leider wurde ich vom Gegenteil überrascht.

 

Gute und schlechte Beratung

 

Der DHV hatte mir eine Sachverständige zugewiesen. In meiner Verzweiflung habe ich mich an eine zweite gewandt, nach ein paar Jahren nur noch an diese. Der Bedarf zu reden war riesig.

Die erste Sachverständige, die mir vom Verband zugewiesen wurde, hat mich falsch beraten und auch im folgenden Gerichtsprozess war sie eigentümlich uninformiert über die normalen Formalien und Regelabläufe. In meiner Verzweiflung habe ich mich an eine zweite Sachverständige gewandt. Sie hat sich dann als echter Schatz herausgestellt und die gesamte Phase über 13 Jahre wunderbar unterstützt, fachlich gut begleitet und ihr Gutachten war wertvoll. Leider wurde es bei Gericht nicht anerkannt, da sie Angestellte des Verbandes war und ich dort Mitglied.

Ihre Information war klar: gute Kopien der Dokumentation anfertigen, auf Vollständigkeit prüfen und ergänzen. Ergänzungen mit einem aktuellen Datum und Uhrzeit versehen. Ihre Frage, ob schon ein Gedächtnisprotokoll vorlag, konnte ich bejahen. An einem frühen Wochenbetttag, als ich das Neugeborene mit Verdacht auf eine Sepsis an die Kinderklinik verwiesen hatte, hatte ich dies angefertigt. Es wurde eine vorsorgliche Meldung an die Versicherung geschrieben und dann ging das Warten los.

Die sogenannte vorsorgliche Meldung sollte immer der erste Schritt sein: Die Sachverständigen schätzen dann mit der Versicherung den Schadensfall ein und überlegen sich eine vorsorgliche Rücklage.

Jahrelang lautete die Kritik, es würde zu schnell zu viel zurückgelegt und somit die Schadenssummen der Versicherung künstlich in die Höhe getrieben. Bei dem Runden Tisch, bei dem die eingehenden Schadensfälle besprochen werden, sind die Sachverständigen, die Beirätin für den Bereich Freiberuflichkeit im DHV, der Geschäftsführer des Verbandes und die Versicherung dabei. Der DHV erhält von der Berufshaftpflicht-Versicherung eine Vergütung für die Arbeit, Fälle zu sichten, vorsorglich Fälle zu bearbeiten, die Policen zu verwalten und so weiter.

 

Bedrohliche Schreiben

 

Ein menschlich angenehmer Anwalt wurde von der Berufshaftpflicht-Versicherung beauftragt, die Versicherung zu vertreten. Wie ich lernen musste, war er jedoch nicht »mein« Anwalt!

Die Krankenkasse, die den Regress angestoßen hatte, tritt in dem Verfahren nicht mehr in Erscheinung. Ihr ist es nur wichtig, nicht allein für die Kosten für Therapien, Hilfsmittel und Umbauten aufzukommen.

Von da an wurden Einwurf-Einschreiben zu einer echten Bedrohung. Offizielle Anwaltsschreiben werden zum regelmäßigen Stressmoment, egal ob vom Anwalt der eigenen Versicherung oder von der gegnerischen Partei, den gesetzlichen Vertretern des geschädigten Kindes. Zusendungen von gegnerischen Gutachten wie auch eigenen Gutachten (im Auftrag der Versicherung) erzeugen starke Unruhe. Oft habe ich die Unterlagen gelesen und sie nicht oder falsch verstanden – ich war entsetzt über die Schwerpunkte, Vorwürfe und Unterstellungen, die dort formuliert wurden. Euphorisch war ich über positive Aussagen.

Sehr getroffen hat mich der Hinweis von den Sachverständigen und dem Versicherungsanwalt, jeden persönlichen Kontakt zur Familie zu unterlassen. Da ich die Not der Familie kannte, habe ich ihre Motivation, Geld für eine gute Versorgung zu bekommen, mehr als verstanden. Mir war auch klar: Die Familie hat große Sorgen und Nöte um die Gesundheit des Kindes und ihr gebührt mein Mitgefühl.

Dann kam der Tag, als die Klageschrift vom Landgericht zugestellt wurde. Aus mir wurde »Beklagte 1« (es gab noch 2, 3 und 4 – die beklagten Kliniken). Meine Originale der Dokumentation mussten demnach dem Gericht zur Verfügung gestellt werden. Auf die Zivilklage (Bürger gegen Bürger) musste eine befristete Stellungnahme erfolgen. Mein Selbstbild wankte: Von jetzt an waren Anmeldungen zur Hausgeburt mit einer viel kritischeren Haltung meinerseits versehen. Wollen die zukünftigen Eltern die Geburt wirklich zu Hause erleben? Kritische Punkte wie Zustand nach stärkerer Blutung beim ersten Kind oder Angst vor der Klinik wurden häufiger ein Grund, die Betreuung abzulehnen. Klar war: Ich will nicht mehr so viel aushalten und tragen. Wenn sich ein Paar unsicher war oder zu viele Fragen aufkamen, wurden viel zügiger andere Kompetenzen eingefordert, habe ich viel schneller andere Fachkräfte hinzugezogen. Alleine wollte ich eine Betreuung nur noch ungern übernehmen. Der Status der »Königin in meinem Reich« war erschüttert. Die Hausgeburten hatte ihre Faszination verloren.

 

Seelische Schwerstarbeit

 

Jetzt stellten sich bei Fortschreiten des Verfahrens Phasen großer Unzufriedenheit und Niedergeschlagenheit ein. Auch Trauer, Wut, Verzweiflung, Bedürfnis nach Nähe oder Rückzug sind entstanden. Es war seelische Schwerstarbeit, da ich ja weiterhin als Hebamme aktiv blieb.

Da die Schweigepflicht im vollen Umfang noch in Kraft war, konnte und durfte ich nicht mit Dritten (die im Prozess nicht involviert sind) ehrlich reden. Vollumfänglicher kollegialer Austausch konnte nicht stattfinden. Die eigene Familie und Freund:innen wurden möglichst außenvorgelassen, da es, bis zu Ende gedacht, oft untragbar erschien: Wie sollte ich meinen Kindern und meiner Frau vermitteln, dass es im Falle einer Verurteilung und dem Ausreizen der aktuellen Deckungssumme von vier Millionen zu einer Überschuldung kommen würde und dies aus meinen privaten Mitteln gedeckt werden müsste? Auch mein Tod würde an diesem Sachverhalt nichts ändern. Der aktuelle Anwalt der Versicherung würde bei Ausschöpfung der Deckungssumme der gegnerische Anwalt werden.

 

Vor Gericht

 

Der zuständige Richter war nur marginal im Thema. Richter müssen, um urteilen zu können, Sachverständige und Gutachter:innen zurate ziehen. Der Richter hatte die Weitsicht, für eine Hebamme eine Gutachterin zu finden, die Hebamme ist und unsere Arbeitsrealität kennt. Die oder der selbstverständlich neutrale Gutachter:in muss dann auch von der Gegenseite akzeptiert werden.

Ein jahrelanges Hin und Her folgte. Oft konnte mit einfachen Anfragen bei Suchmaschinen eine Nähe zwischen der Beklagten und der Gutachterin festgestellt werden – wenn etwa beide als Referentinnen bei einem Kongress oder im gleichen Hebammenverband aktiv waren – und eine Ablehnung der Gegenseite folgte. Mit dieser Suche wurde auch Dritten mein anstehender Prozess offengelegt und mehrere Telefongespräche folgten: »Renate, was ist los bei dir?«

Beim ersten Live-Termin am Landgericht sah ich die Familie nach Jahren erstmals wieder. Oftmals ist es gar nicht willkommen, dass die Beklagte anwesend ist. Der Anwalt der Versicherung hatte sich aber gewünscht, dass ich dabei bin. Er könne Aussagen besser und schneller einordnen, indem er auf dem kurzen Weg nachfragt.

Der Richter ging sehr fürsorglich auf die Familie ein und lud den ersten Gutachter vor. Dieser konnte erklären, warum das Kind so besonders war. Für beide Seiten war dies eine echte Überraschung. Auf meiner Seite große Erleichterung – ich hätte nichts verändern können – auf der Seite der Eltern große Überraschung. Sie hatten nebenbei erfahren, dass diese Besonderheit beim Kind vorliege. Der Richter wies die Klage gegen mich ab und ließ die Berufung zu, die Anklage beim Oberlandesgericht, der nächsten Instanz, nochmals vorzubringen.

Juhu – oder lieber nicht! Eine Berufung war möglich und wurde auch genutzt. Das Oberlandesgericht wurde von den Eltern, den gesetzlichen Vertretern des Kindes herangezogen.

 

Neue Fragen, Gutachten und Vorwürfe

 

Wieder folgten Jahre mit Gutachten, Stellungnahmen und Anwaltsschreiben. Die Zweifel wuchsen mit jedem neuen Vorwurf. Warum haben Sie, die Hebamme, die Frau zur Hausgeburt angenommen? Ist eine einfach positive Proteinurie ein pathologischer Befund in der 32. Schwangerschaftswoche? War die Gebärende nicht adipös? Hatte der Vater des Kindes der Hausgeburt zugestimmt? Warum haben Sie nicht bei der Terminüberschreitung die Fruchtwassermenge bestimmen lassen? War die Nabelschnur nicht eng um dem Hals? War der echte Knoten straff oder locker? Warum so ein schlechter Apgar und keine zeitnahe Vorstellung beim Kinderarzt? Kannte das Paar, kannte die Frau den Unterschied von einer Klinikgeburt zur Hausgeburt? Wenn ja, wo haben Sie dies dokumentiert? Warum haben Sie das Kind am ersten Lebenstag nicht gewogen?

Mit jedem Jahr wurde mir klar: Vieles ist Auslegungssache und vieles wird rückblickend, mit der bestehenden massiven Einschränkung des Kindes, bedeutsam, obwohl es das in der Betreuungszeit nicht war.

Die gynäkologischen Gutachten hielten sich sehr mit der Vorsorge durch die Hebamme und der Hausgeburt auf. Fast jedes gegnerische Gutachten endete damit, diese Hausgeburt hätte nicht stattfinden dürfen. Obwohl der Schadensfall im Wochenbett stattgefunden hatte und die Geburt mit der Beeinträchtigung des Kindes nicht in Verbindung gebracht wurde. Ein Hebammengutachten benannte auch die Selbstverantwortung der Eltern: Warum haben sie nicht eigenständig einen Kinderarzt aufgesucht? Diese Aussage hat die Atmosphäre der Parteien beeinträchtigt. In den ersten Jahren des Prozesses wurde über die Anwälte seriös kommuniziert. Nachdem nach der Verantwortlichkeit der Eltern gefragt worden war, kamen auch verkehrte Aussagen dazu.

 

Berufung am Oberlandesgericht

 

Die deutschen Gerichte sind überlastet und so zog es sich hin, bis die erste Anhörung am Oberlandesgericht stattfand. So war das betroffene Kind schon fast zum Jugendlichen herangereift. Ich selbst hatte meine Arbeit als Hausgeburtshebamme aufgegeben und eine Anstellung in einer Klink gesucht.

Die Hebammengutachterin und ein spezifischer Pädiater wurden als Gutachter geladen. Der Anwalt der Versicherung, der Anwalt der angeklagten Kliniken, der Beklagten zu 3 und 4, der gegnerische Anwalt, die Eltern und ich waren anwesend. Auch hier gab es eine persönliche empathische Ansprache des Vorsitzenden Richters an die Eltern: »Alles, was hier verhandelt wird, kann Ihr Kind nicht mehr gesund machen (…) Nur wenige wichtige Punkte werden hier benannt werden können (…) Ihr Leid der letzten Jahre wird gesehen (…) Achten Sie auf sich und unterbrechen Sie die Sitzung, wenn es Ihnen nicht mehr möglich ist, daran teilzunehmen.«

Die Eltern waren sichtbar gezeichnet von den vielen Jahren der intensiven Pflege eines behinderten Kindes. Mehrmals verließ die Mutter weinend den Raum. Viele Stunden wurde in einem historischen Gerichtssaal verhandelt. Das Angebot, sich außergerichtlich zu einigen, wurde von den Klägern, also den Eltern als Vertreter ihres Kindes, abgelehnt.

Es ist bei so einer Gerichtsverhandlung nicht vorgesehen, dass sich die beklagte Hebamme aktiv einbringt. Auf Fragen des Richters muss die Beklagte antworten, aber auf falsche Aussagen der Gutachter:innen oder auch der Gegenseite kann und darf sie nicht reagieren.

Ich hätte versuchen können, den Anwalt der Berufshaftpflicht-Versicherung zu motivieren, etwas zu hinterfragen oder Einwände zu platzieren. Dieser war überraschend entspannt und wenig an einer Drehung des Verfahrens interessiert. Bei dieser Sitzung schwankte ich zwischen Empathie für die Eltern, Erschöpfung, Verzweiflung und auch Wut. Ich wurde durch die Hebammengutachterin schlecht vertreten, sie hat der Hebammenperspektive keine Stimme gegeben. Die ärztliche Seite war sehr kompetent und fachlich auf einem hohen Niveau präsent.

Die Hebammengutachterin, die von unserer Seite beauftragt worden war, wurde vom Vorsitzenden Richter befragt, ob sie der Meinung sei, dass ich grob fahrlässig gehandelt habe. Erst folgte eine Verneinung der Gutachterin und nach nochmaliger Nachfrage wurde dies bejaht. Der ärztliche Gutachter wurde nach der Kausalität gefragt: Welcher Grad der Behinderung wurde durch das falsche Handeln der Beklagten zu 1 begründet? Hier gab es ein Abwägen, ein Mutmaßen und es wurde bei 10 % geschätzt. Der Richter sah sich veranlasst, mir tief in die Augen zu sehen und dies zu wiederholen: »Sie haben grob fahrlässig gehandelt.«

Auf dem Weg nach draußen, nach vier Stunden Verhandlung ohne Pause, gab der Richter mir den Hinweis, dass ich beim nächsten Termin nicht anwesend sein müsste. Diesem Rat bin ich gerne gefolgt, da ich keinerlei Einfluss auf diesen Prozess hatte und es nicht mehr ertragen wollte, mit den Eltern ein einem Raum zu sein, ohne menschlich sein zu können.

So gingen weitere Jahre dahin mit Schriftstücken, die mich oft nicht mehr interessierten. Zum Schluss des Gerichtsprozesses hatte ich den Impuls, der Familie einen Brief zu schreiben. Davon wurde mir abgeraten und wenn, dann sollte dieser Brief zuerst vom Anwalt gelesen werden.

Plötzlich zu Beginn des Lockdowns 2020 die Urteilverkündung: Verfahren abgeschlossen, Revision ausgeschlossen. Die Familie bekommt ihre notwendigen Mittel.

Ich wurde beim Oberlandesgericht wegen grober Fahrlässigkeit für schuldig befunden.

 

Das Tabu brechen

 

MeToo – dies »auch ich bin angeklagt« zu formulieren ist wichtig, da sich die Kolleginnen nach einem Fall, der zum Schaden geführt hat, oder nach einer Zustellung der Klageschrift isoliert sehen. Dies muss dringend aufgebrochen werden (siehe Kasten »Aufruf«).

Der Umgang mit den betroffenen Familien sollte dringend reflektiert werden:

  • Sie haben keine Hebamme mehr und brauchen weiterhin Unterstützung.
  • Sie kommen oft in die Rolle der Kläger und damit auf die Gegenseite.
  • Wir müssten aktiv mit ihnen in den Kontakt gehen – wahrscheinlich nicht die Beklagte, aber eine andere Kollegin.
  • Das Verfahren ist unwürdig und schmerzhaft – oft wird den Eltern erst da bewusst, was die Hebamme oder das Geburtsteam vermeintlich falsch gemacht haben. Wo hätten sie selbst aktiv werden können? Es ist eine tiefe Erschütterung für eine Familie.
  • Seltsame Gräben tun sich zum Nachteil aller Parteien auf.

 

Was ich gelernt habe

 

  • Das Gedächtnisprotokoll ist oft die einzige Möglichkeit, sich zu erklären. Dies geht nur der Versicherung und den Sachverständigen vom Verband zu. Die Gegenseite und das zuständige Gericht bekommen es nicht zu sehen. Der Versuch, den Ablauf zu erklären, ist dann nur der eigenen Seite bekannt.
  • Wichtig: gute vollständige hochwertige Kopien anfertigen, die auch Jahre später noch gut lesbar sind!
  • Der Tag der Verhandlung ist nicht verhandelbar. Wenn ich als Beklagte vorgeladen bin, muss ich folgen, andere wichtige Termine sind dem unterzuordnen.
  • Der Anwalt ist der Anwalt der Versicherung und vertritt deren Interessen. Sollte eine außergerichtliche Einigung für die Versicherung kostengünstiger sein, würde diese angenommen, auch wenn die Beklagte dagegen wäre. Wenn es zu einer Unterdeckung oder Überschuldung kommt, weil die Deckungssummer von damals vier Millionen Euro durch den im Urteil zugesprochenen Schadensersatz mit allen Folgekosten, wie Gehalt des Kindes oder Rente der Eltern aufgebraucht sind, wird der Anwalt der eigenen Versicherung zum gegnerischen Anwalt (heute gelten bereits 10 Millionen Euro – und auch die waren in Folge schnell verbraucht). Ich muss mir in dem Fall einen eigenen Anwalt suchen. Da ist eine gute Rechtsschutzversicherung alternativlos. Eine Empfehlung ist aus meiner Sicht, sich zu Beginn des Verfahrens schon einen eigenen Anwalt zu suchen.
  • Der Anwalt der Versicherung fordert von der Beklagten die Erwiderung auf Gutachten ein. Da sind Sachverstand, Wissen und Kenntnisse von Leitlinien notwendig. Deren Datum der Veröffentlichung ist wichtig: War zum Zeitpunkt des Schadensfalls schon bekannt, dass so oder so verfahren werden soll?
  • Die Höherstufung bei der Haftpflicht tritt »nur« bis zu zehn Jahre nach dem Eintritt des Schadensfalls in Kraft. Der Klageweg ist davon nicht betroffen. Das heißt, wenn 2010 der Schaden erfolgt ist und 2023 möchten Sie wieder in der freiberuflichen Geburtshilfe arbeiten, ist keine Höherstufung mehr notwendig.
  • Die freiberufliche Hebammenrechnung muss identisch mit den Aussagen beim Anwalt und vor Gericht sein, denn sie ist ein Beweismittel.
  • Eine Kollegin, die einen bei einer Familie vertritt, sollte direkt von der Frau beauftragt und autonom angefragt werden. Andernfalls übernimmt die »erste« Hebamme eine Haftung für das Handeln der Kollegin, wenn ein Schadensfall eintritt. Dem ließe sich durch eine eingetragene Partnerschaft vorbeugen, wenn die Vertretung häufiger vorkommt, zum Beispiel in einer gemeinsamen Praxis.

 

 

Folgen und Forderungen

 

Mein Selbstbild: Heute bin ich immer noch freiberufliche Hebamme neben der Arbeit im Kreißsaal. Außerklinische Geburten will ich nicht mehr begleiten und bei Unsicherheiten der Eltern in der Schwangerschaft und im Wochenbett ziehe ich flott andere Fachgruppen hinzu. Ich ermuntere die Eltern, gut auf sich zu achten und bei Sorgen und Nöten zügig Hilfe zu holen.

Ich bin aber auch eine Hebamme, die es einen Skandal findet, dass das Thema Haftung bei Hebammen immer noch nicht geklärt ist. Die Aussage des Sachverständigen der Versicherungswirtschaft beim Landtag im Jahr 2010 hätte nicht dazu führen dürfen, dass wir fleißig um einen Versicherer werben, »der die exorbitanten Summen bei einem Schadensfall trägt«, sondern zum sofortigen Boykott meiner Berufsgruppe. Jede Maßnahme wird aktuell damit begründet, ob es justiziabel ist oder nicht. So kann eine Hebamme nicht reifen.

Eltern mit besonderen Kindern brauchen besondere Unterstützung – direkt und unkompliziert. Dass sie den Weg eines Prozesses beschreiten müssen, ist eine Demütigung. Hebammen, die einen Fehler gemacht haben, müssen sich erklären und lernen. Der Gerichtsprozess ist dafür nicht gedacht.

Es muss offengelegt werden, wer an dieser Versicherungswirtschaft partizipiert (Versicherungen, Verbände, Gutachter:innen, Anwält:innen, Krankenversicherungen usw.).

Als ersten Schritt möchte ich gerne eine Gruppe gründen, die vertraulich den Austausch sucht. Sei es mit einem aktuellen Verfahren oder schon zurückliegenden. Sei es mit einem Fall im Rücken (ohne dass er zur Anklage geführt hat) oder mit einem großen Erschrecken. Lasst uns ins Gespräch kommen!

Aufruf

 

Selbsthilfegruppe

 

Die Autorin Renate Egelkraut ruft Kolleg:innen zur Gründung einer Selbsthilfegruppe auf: Hebammen, die in Haftungsfällen angeklagt wurden, ob aktuell oder in der Vergangenheit, die einen heiklen Fall ohne Anklage erlebt haben oder ein belastendes Strafverfahren miterlebt haben. Ziele sind ein vertraulicher Austausch, mehr Informationen, gegebenen‧falls bessere Vorbereitung und kollegiale Nachbereitung.

Kontakt: Egelkraut@netcologne.de

 

Rubrik: Ausgabe 05/2023

Vom: 25.04.2023