Erstversorgung an der Nabelschnur

Kommt ein deprimiertes Neugeborenes zur Welt, braucht es Starthilfe. Die Erstversorgung wird meist nach dem schnellen Abnabeln in der Kindereinheit durchgeführt. Doch es gibt Forschung die zeigt, dass gerade Neugeborene mit Startschwierigkeiten von einer Versorgung an der intakten Nabelschnur profitieren. Miriam Beller

    Für vitale Neugeborene und Frühgeborene wird die abwartende Abnabelung empfohlen, da das Abwarten der Plazentatransfusion mit 30 % mehr Blutvolumen weitreichende Vorteile für die Kinder hat (AWMF, 2020; WHO, 2017; Madar, 2021). Wenn reife Neugeborene nach der Geburt deprimiert sind, muss schnell gehandelt werden. Welcher Abnabelungszeitpunkt ist hier sinnvoll? In der klinischen Geburtshilfe wird die Nabelschnur meist sofort durchtrennt, um das Neugeborene schnellstmöglich auf einer Reanimationseinheit mit Stimulation, Wärme und Atemhilfe zu versorgen, wie es auch die S3-Leitlinie Vaginale Geburt am Termin (AWMF, 2020) vorsieht. Bei außerklinischen Geburten ist es hingegen weit verbreitet, das Equipment zum Kind zu bringen, und die Erstversorgung nah bei der Mutter an der intakten Nabelschnur durchzuführen (Intact-Cord-Resuscitation) (Fulton, 2016).

     

    Methode

     

    Im Rahmen einer Bachelorarbeit wurde der Frage nachgegangen, wie sich eine Erstversorgung an der intakten Nabelschnur bei deprimierten reifen Neugeborenen auf das neonatale Outcome auswirkt. Dazu wurde eine systematische Literaturrecherche in den Datenbanken Cochrane, Cinahl und Medline durchgeführt. Studien zum »Nabelschnurmelken« wurden nicht eingeschlossen, da hier kein Gasaustausch mit der Plazenta stattfinden kann.

     

    Ergebnisse

     

    Es konnten 14 Studien in die Auswertung eingeschlossen werden. Deprimierte Neugeborene, die an der Nabelschnur blieben, benötigten in RCTs weniger und kürzere Reanimationsmaßnahmen und erholten sich schneller. Sie begannen früher spontan zu atmen und hatten früher eine regelmäßige Atmung. Außerdem hatten sie bessere Apgar- und pH-Werte, eine stabilere Herzfrequenz, eine bessere Sauerstoffsättigung, einen höheren Blutdruck und eine bessere Sauerstoffversorgung des Gehirns (Katheria, 2017; Sun, 2017; Andersson, 2019; Raina, 2022). Exemplarisch sind zwei Grafiken aus Anderson 2019 und Raina 2022 abgebildet. Leicht deprimierte Neugeborene, die vor der Randomisierung an der intakten Nabelschnur stimuliert wurden, hatten gleich gute Apgar- und pH-Werte (Badurdeen, 2022). Es scheint, dass die Stimulation besonders wichtig ist, um die Lungen vor der Beatmung ausreichend zu durchbluten. So hatten nicht atmende Neugeborene mit Stimulation an der Nabelschnur eine um 84 % höhere Wahrscheinlichkeit für einen spontanen Atembeginn im Vergleich zu Neugeborenen mit Stimulation nach Abnabelung (KC, 2022).

    Es gibt Hinweise, dass die Erstversorgung an der Nabelschnur die neonatale Mortalität und Morbidität senkt, präventiv Hirnschäden verhindert und sich langfristig positiv auf die neurologische Entwicklung auswirkt. Neugeborene, die an der Nabelschnur versorgt wurden, starben seltener (Sun, 2017; Andersson, 2019; Raina, 2022; Ersdal, 2015; KC, 2022) und wiesen weniger und wenn, leichtere Hirnschäden auf (Raina, 2022).

    Das Abnabeln nach zehn Minuten verhinderte bei schwer asphyktischen Lämmern Blutdruckschwankungen im Gehirn und schützte das Gehirn durch eine bessere Durchblutung und Sauerstoffversorgung (Polglase, 2020). Auch langfristig kann es sich auszahlen, die Nabelschnur intakt zu lassen. Deprimierte Neugeborene, die an der Nabelschnur versorgt wurden, hatten nach zwei Jahren eine bessere altersgemäße und neurologische Entwicklung (Isacson, 2021). Aufgrund der geringen Fallzahlen sind diese wichtigen Outcome-Kriterien noch nicht statistisch signifikant darstellbar.

    In der Forschungsliteratur wurden zwei Studien mit Neugeborenen mit Diaphragma Hernia eingeschlossen. Eine Abnabelung erst kurz nach der Intubation führte zu keiner Verbesserung (Folgia, 2019). Wurde hingegen mit der Abnabelung gewartet, bis die intubierten Kinder auch klinisch stabil waren, ging es ihnen deutlich besser. Diese Kinder hatten bessere Apgar-Werte, einen höheren Blutdruck und einen besseren pH eine Stunde post partum (Lefebvre, 2017). Die intakte Nabelschnur kann also ähnlich wie EXIT – ex-utero intrapartum technique – das vulnerable Neugeborene stabilisieren. Beim Menschen ist nicht bekannt, wie lange die fetoplazentare Zirkulation nach der Geburt anhält. Im Tierversuch (Lamm) betrug sie ohne Oxytocingabe mindestens 60 Minuten (LeDuc, 2021).

    Die Erstversorgung an der intakten Nabelschnur ist sicher für Mutter und Kind. Es kam zu keiner Verzögerung der Reanimationsmaßnahmen, reife deprimierte Neugeborene blieben in ihrer Thermoregulation stabil und die Phototherapie-Rate wegen Hyperbilirubinämie waren nicht erhöht. Für die Mutter bestand kein erhöhtes Risiko für Blutverlust, Atonie oder Infektionen. Es kann sich sogar positiv für die Mutter auswirken, da der Blutverlust bei Abnabelung nach Auspulsieren der Nabelschnur bei Sectio signifikant geringer war (Sun, 2017).

     

    Diskussion

     

    Die Datenlage ist noch begrenzt, jedoch ist die Qualität überwiegend gut. Die Analyse, der im Rahmen dieser Arbeit herangezogenen Studien deutet darauf hin, dass die Erstversorgung an der intakten Nabelschnur das neonatale Outcome durch zwei Faktoren unterstützt (siehe Schaubild auf dem Poster unten links).

    Das Kind hat durch die physiologische Volumenverschiebung ca. 30 % mehr Blutvolumen und alle darin enthaltenen Blutbestandteile (u.a. Hämoglobin, Ferritin, Stammzellen und Antioxidantien). Dies bewirkt eine ausreichende Blutfüllung des Herzens, eine hämodynamische Stabilisierung und eine bessere Durchblutung der Lunge und aller Organe. All dies kann sich langfristig auf die neurologische Entwicklung auswirken.

    Die Plazenta reichert auch nach der Geburt des Kindes das neonatale Blut mit Sauerstoff an, stellt eine plazenta-respiratorische Unterstützung dar und kann den pH-Wert ausgleichen. Diese beiden Faktoren verbessern gemeinsam das kurz- und langfristige neonatale Outcome und können sich gegenseitig begünstigen.

    Neugeborene mit einem Verdacht auf Hypovolämie können besonders von der Erstversorgung an der intakten Nabelschnur profitieren. Es gibt die Vermutung, dass eine Hypovolämie sup partu entsteht, wenn die weiche Nabelschnurvene abgedrückt wird und weniger Blut zum Kind gelangt, während die dickwandigeren Nabelschnurarterien weiterhin Blut vom Kind zur Plazenta transportieren. Dies betrifft Neugeborene mit straffer Nabelschnurumschlingung, erschwerter BEL-Geburt oder bei Schulterdystokie. Durch die Volumenverschiebung vom Kind zur Plazenta hat das Kind bei der Geburt ein zu geringes Blutvolumen im Körper. Wird das Kind sofort abgenabelt, bleibt die Hypovolämie bestehen. Bleibt das Kind an der Nabelschnur, kann über die Plazenta und die intakte Nabelschnur der Volumenverlust ausgeglichen werden und das Kind hat genügend Blutvolumen zur Verfügung, um die Lunge und alle Organe ausreichend zu durchbluten (Mercer, 2009; Menticoglou, 2016; Cesari, 2018; Ancora, 2020; Mercer, 2022).

    Schwer deprimierte Neugeborene mit begrenzten Ressourcen und einer langen Zeitspanne bis zur Abnabelung profitieren am meisten. Die Erstversorgung an der Nabelschnur bietet jedoch allen deprimierten Neugeborenen eine weitreichende physiologische Unterstützung für den Übergang zur Lungenatmung. Deprimierte Neugeborene, die sofort abgenabelt werden, haben 30 % weniger Blutvolumen, eine Hypovolämie kann nicht ausgeglichen werden, sie haben weniger Stammzellen und Antioxidantien für den »cellular repair,« einen niedrigeren Eisenwert, eine nicht ausreichende Füllung des Herzens und eine niedrigere Durchblutung der Lunge und aller Organe. Sofort abgenabelte Neugeborene können nicht zum fetalen Kreislauf zurückkehren und eine Azidose kann nicht über die Plazenta mit eigenem Blutvolumen gepuffert werden. Eine Übersicht zur physiologischen Unterstützung bietet die Vergleichstabelle auf dem Poster rechts oben.

     

    Wann abnabeln?

     

    Eine zu frühe Abnabelung kann sich nachteilig auf die Stabilisierung und die neurologische Entwicklung des Neugeborenen auswirken. Der genaue Zeitpunkt, wann die Abnabelung ohne negative Folgen durchgeführt werden kann, ist unklar: Die Plazentatransfusion dauert bei vitalen Neugeborenen etwa fünf bis zehn Minuten (Boer, 2015; Farrer, 2011). Es ist anzunehmen, dass sie bei deprimierten Neugeborenen aufgrund der fetoplazentaren Zirkulation länger dauert. Das Auspulsieren der Nabelschnur ist hierbei kein Zeichen dafür, dass die Volumenverschiebung abgeschlossen ist (Boer, 2015). Risiko-Neugeborene, die mit Unterstützung der Plazenta gut adaptiert erscheinen, können direkt nach einer zu frühen Abnabelung (2 Minuten) einen Atemhilfsbedarf haben (Badurdeen, 2021; Badurdeen, 2022). Die positiven Effekte in den Studien waren umso ausgeprägter, je länger mit der Abnabelung gewartet wurde. Vor diesem Hintergrund erscheint es ratsam, sich bei der Abnabelung am Kind zu orientieren: Die Abnabelung sollte erst erfolgen, wenn die Nabelschnur kollabiert ist und sich schlaff und weiß präsentiert, besser noch, wenn die Plazenta geboren ist (Optimal Cord Clamp – OCC). Nur aus zwei Gründen sollte die Abnabelung früher erfolgen: wenn die Nabelschnur verletzt ist oder wenn eine notwendige Versorgung der Mutter die Abnabelung erfordert, beispielsweise eine stark blutende Geburtsverletzung.

     

    Handlungsempfehlung

     

    Die Handlungsempfehlung gilt für das außerklinische und das klinische Setting und ist für Spontangeburten, Geburten per Sectio in Teil- und Vollnarkose und vaginal operative Geburten möglich. Für Monochoreale und monoamniotische Zwillinge gibt es noch keine sichere Datenlage. Die Erstversorgung reifer deprimierter Neugeborener erfolgt wie in der ERC-Leitlinie (Madar, 2021) vorgesehen, lediglich der Abnabelungszeitpunkt verschiebt sich zu OCC (siehe Schaubild auf dem Poster rechts Mitte). Der pH-Wert kann mit einer kleinen Kanüle an der intakten Nabelschnur abgenommen werden.

    Lässt sich durch Stimulation nach 60 Sekunden keine Spontanatmung etablieren, erfolgt eine Atemhilfe. Reife, deprimierte Neugeborene können auf dem Arm der Mutter (Ott, 2022) oder zwischen ihren Beinen im Kreißbett eine Atemhilfe erhalten (Andersson 2019, Ekelöf 2022). Bei einer Sectio kann das Neugeborene auf einer kleinen stabilen Matratze auf den Beinen der Mutter positioniert werden (Badurdeen, 2022). Eine »Giraffe«, das ist ein CPAP-Neopuff mit Beatmungsbeutel und Maske an einem mobilen Ständer, wird dazu neben der Frau platziert. Diese sehr kostengünstigen Möglichkeiten können in jeder Klinik umgesetzt werden. Alternativ können auch mobile Reanimationseinheiten (Concord Birth Trolley, Lifestart Trolley) verwendet werden. Für die oft unerwartete Reanimation bei reifen Neugeborenen kann das Aufstarten allerdings zu lange dauern. Für die außerklinische Geburtshilfe berichten Hebammen aus Kanada von einem mobilen Reanimationsplatz, bestehend aus einem Backblech und einem Ambu-Beutel daneben (Fulton, 2016).

     

    Fazit

     

    Die Erstversorgung an der intakten Nabelschnur beeinflusst das neonatale Outcome positiv, hat keine negativen Auswirkungen und unterstützt die Physiologie. Es bedarf einer Reorganisation der Abläufe und einer multiprofessionellen Zusammenarbeit. Das Abnabeln von deprimierten Neugeborenen ist etwas Normales geworden, aber eine Reanimation an der intakten Nabelschnur ist kurzfristig und langfristig erfolgreicher und erfordert nur ein Umdenken in unseren Köpfen.

     

    Hinweis: Das Poster finden Sie unter dem Text als Download.

    Rubrik: Ausgabe 03/2024

    Vom: 27.02.2024