Krisenhafte oder traumatische Ereignisse im Wochenbett

Früh hilft viel

Die Zeit nach einer Geburt birgt Herausforderungen, die oftmals unterschätzt werden. Für alle Familienmitglieder sind große Anpassungsvorgänge zu bewältigen. Diese betreffen Körper und Seele. Die Begleitenden – und so auch Hebammen – können einfache Hilfen bieten und die richtigen Fragen stellen, damit in dieser Zeit nichts verpasst wird. Kommt es zu Traumata, ist es wichtig, auch da professionell hinzusehen. Martina Kruse
  • Eine übererregte Amygdala kann solchen Alarm auslösen, dass das Sprachzentrum (Broca-Areal) verstummt. Dieses liegt bei Rechtshändern meist in der linken Großhirnhemisphäre, bei Linkshändern links- oder rechts­seitig.

Wird über hochbelastende oder traumatische Ereignisse im Kontext der Geburtshilfe gesprochen, so gehen die meisten Menschen, Laien wie Fachkräfte, in der Regel von pathologischen Ereignissen während der Geburt selbst aus. Das Wochenbett wird dabei meist weniger beachtet. Dabei ist diese Zeit für die Mutter noch immer eine gefährliche: »Hinsichtlich mütterlicher Morbidität und Mortalität ist das Wochenbett von ebenso großer Bedeutung wie Schwangerschaft und Geburt. Mehrere schwangerschaftsassoziierte Erkrankungen treten erst im Wochenbett auf (zum Beispiel Spätatonien), können sich hier genauso (zum Beispiel HELLP-Syndrom) oder sogar häufiger (zum Beispiel Embolien) manifestieren« (Schrey-Petersen et al., 2021, S. 436)

Fast die Hälfte aller weltweit erfassten peripartalen Todesfälle entfällt auf die Zeit des Wochenbettes (ebd.). Nicht lebensbedrohlich, aber extrem schambehaftet und tabuisiert ist die persistierende Urin-Inkontinenz. Diese betrifft ca. 24 % aller Frauen nach der Geburt (MacArthur et al., 2005). Besonders belastend und lebensverändernd wird die anale Inkontinenz erlebt. Nach einer Cochrane Analyse aus dem Jahr 2017 (Woodley et al., 2017) leiden etwa 10 % aller Frauen oftmals lebenslang an den Folgen. Sie fühlen sich beschämt und ausgeliefert, sie haben die Kontrolle verloren. Sie werden häufig stigmatisiert (oder fürchten die Stigmatisierung), sind eingeschränkt in ihrem familiären, partnerschaftlichen, sozialen und sexuellen Leben und fühlen sich ohnmächtig. Dies kann als traumatisch erlebt werden.

Definition Trauma

 

»Vitales Diskrepanzerlebnis«

 

Ein Trauma ist ein »vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungs­möglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt« (Fischer & Riedesser, 2009, S. 84).

 

Psychische Erkrankungen können im Wochenbett manifest werden, manchmal in Folge einer gewaltvoll oder traumatisch erlebten Geburt (zum Beispiel Posttraumatische Belastungsstörung/PTBS). Es besteht aber auch nach positivem Geburtserleben ein Risiko, Depressionen, Angst- oder Zwangsstörungen oder auch eine Psychose zu entwickeln. Neben den im direkten Zusammenhang mit der mütterlichen Gesundheit stehenden (lebensbedrohlichen) Erkrankungen können eine Vielzahl von Situationen eintreten, die die Qualität eines Traumas haben: Trennungen vom Kind, bedingt durch Frühgeburtlichkeit oder aufgrund von kindlicher Erkrankung, Unfälle, (psychische) Erkrankung oder Tod/Suizid einer weiteren nahestehenden Person (Eltern, Partner:in, Geschwisterkind oder Freundeskreis) in der Zeit des Wochenbettes, Arbeitslosigkeit, Trennungen von der Herkunftsfamilie (zum Beispiel durch Krieg und Flucht), Verlust des Wohnraums (durch Räumung oder Umweltereignis) und anderes mehr.

Manche Eltern, vor allem aber Alleinerziehende verlieren mit dem Eintritt in die Elternzeit ihre finanzielle Selbstständigkeit. Das Elterngeld reicht nicht für den Lebensunterhalt, es müssen Leistungen nach dem SGB II (Bürgergeld) beantragt werden – mit allen Erschwernissen, die zu einem solchen Antrag gehören. Auch eine solche Erfahrung kann hochbelastend sein und das eigene Welt- und Selbstbild nachhaltig verändern.

 

Was passiert bei einem Trauma?

 

 

Abbildung 1: Schematische Darstellung der Notfallreaktion (nach Hantke & Görges, 2012)
Quelle: Hartmann & Kruse, Elwin Staude Verlag

Nicht jede Erkrankung oder bedrohliche Situation ist ein Trauma. Die Definition von Fischer und Riedesser (siehe Kasten) hilft bei der Abgrenzung. Tritt eine lebensbedrohliche Situation ein, so reagiert der Organismus in einer Art und Weise, die das Überleben sichern soll. Diese sogenannte Notfallreaktion ist evolutionär bedingt (siehe Abbildung 1). Innerhalb von Sekundenbruchteilen wird die Amygdala im limbischen System aktiviert, die dafür sorgt, dass der Körper in Alarmbereitschaft versetzt wird: Stresshormone werden ausgeschüttet, Klein- und Stammhirn werden aktiviert, so dass durch erhöhten Muskeltonus und beschleunigte Herzaktivität die Gefahr durch Kampf oder Flucht bewältigt werden kann (»fight or flight«). Parallel dazu wird die Aktivität des präfrontalen Cortex reduziert. Dies hat Auswirkung auf die Steuerung diverser Prozesse: Impulskontrolle, Handlungsantizipation und Angstkontrolle (Stangl, 2024).

In der Situation selbst ist dies sehr sinnvoll – zu langes Nachdenken und Überlegen könnte das Überleben gefährden. Allerdings erschwert diese Reaktion im Nachhinein die Integration der Erfahrung. Durch die gestörte Kommunikation zwischen Cortex und Hippocampus, der für die Speicherung der Erinnerungen zuständig ist, werden die Eindrücke als Erinnerungsfragmente eher im impliziten als im expliziten Gedächtnis abgespeichert. »Das explizite Gedächtnis (…) speichert Tatsachen und Ereignisse, die bewusst wiedergegeben werden können (Stangl, 2024a). »Das implizite Gedächtnis ist Teil des menschlichen Gedächtnisses, der sich auf Erleben und Verhalten des Menschen auswirkt, ohne dabei ins Bewusstsein zu treten.« (Stangl, 2024b)

Die Fragmente des impliziten Gedächtnisses können sich auf einzelne Worte, Körperempfindungen, Gefühle, Gerüche oder visuelle Eindrücke beziehen. Diese Bruchstücke sind in späteren Situationen besonders leicht triggerbar, da ihnen die räumliche, zeitliche und narrative Einordnung fehlt – sie können also bei Auftreten nicht analysiert und auf Gefahrenpotenzial geprüft werden. Das Broca-Zentrum ist in der Hirnrinde verortet und ist das motorische Sprachzentrum. Ist also die Verbindung zwischen Hippocampus und Neocortex gestört, ist davon auch die Sprache betroffen: Es fehlen die Worte für das Erlebte, Sinneseindrücke, Gefühle können nicht oder nur schwer ausgedrückt werden.

Ein fiktives Beispiel: Im Wochenbett kam es zu einer lebensbedrohlichen Blutung. Die Co-Mutter war dabei, als es passierte und war fassungslos bei der Menge von rotem Blut, das scheinbar überall war. Bei einer späteren kinderärztlichen Untersuchung soll dem Säugling Blut abgenommen werden. Die Bezugsperson erstarrt und ist scheinbar nicht mehr ansprechbar. Das (wenige) kindliche Blut hat ihre Amygdala alarmiert, die so reagierte, wie in der damaligen Notsituation. Die Co-Mutter fühlte die gleiche Bedrohung, Angst und Hilflosigkeit. Auch dies dient der Lebenserhaltung: sollte die Situation wirklich bedrohlich sein, so hat die Amygdala mit ihrer prompten Reaktion alles richtig gemacht.

 

Auswirkungen

 

So unterschiedlich die Belastungen im Wochenbett auch sind, ihnen ist gemein, dass ihre Folgen oftmals unterschätzt werden, insbesondere die Auswirkungen auf die nicht direkt betroffenen Personen. Die Person, die nach der Geburt eine Thrombose entwickelt und in akuter Lebensgefahr schwebt, wird gesehen. Ihr wird Hilfe angeboten. Was aber ist mit den Angehörigen, die um die Erkrankte gebangt haben, oder mit dem älteren Geschwisterkind, das spürt, dass etwas Schlimmes passiert, aber welches man versucht zu schützen und fernzuhalten? Wie werden diese im Verlauf unterstützt und aufgefangen?

Nicht jedes Trauma bedingt langfristige Folgen. Nach einem belastenden, traumatischen Ereignis ist es zutiefst normal, eine Reaktion zu zeigen: Schlaflosigkeit, eine hohe Emotionalität, Angespanntheit, eine gesteigerte Aktivität oder Rückzug können beispielsweise beobachtet werden. Das ICD-10 spricht von einer ›Akuten Anpassungsreaktion‹, die in der Regel nach einigen Stunden oder Tagen wieder abklingt (BfArM, 2024). Schätzungen gehen davon aus, dass ungefähr ein Drittel aller Betroffenen ohne professionelle Hilfe die traumatische Erfahrung integrieren kann. Die Verarbeitung ist abhängig von intra- und interpersonellen Faktoren: die Art des Traumas, das Lebensalter, die Unterstützung während und nach dem Ereignis, die eigene Resilienz, Ressourcen, aber vor allem auch das »Danach« kann positiv oder negativ wirksam sein (Huber, 2003). Im Umfeld von Geburt begegnen Betroffene häufig Sätzen wie: »Sei doch froh, es ist noch mal gut gegangen! Das musst du jetzt ganz schnell vergessen, freu dich lieber am Kind!« Mit solchen Aussagen wird das erfahrene Leid entwertet und implizit wird die Möglichkeit entzogen, offen über die Belastung zu sprechen. Wenn der zweite Elternteil darüber spricht, wie belastend es war, die Partnerin mit einem Krampfanfall zu sehen, würde das dann nicht bedeuten, dass er oder sie die eigene Belastung wichtiger nimmt als die Gesundheit der Partnerin? Wichtig ist es an dieser Stelle, das gefühlte ODER durch ein UND zu ersetzen: Natürlich ist der- oder diejenige froh, dass die Mutter gesundheitlich unbeschadet überlebt hat. UND der andere Elternteil leidet.

In Folge eines Traumas ändert sich oftmals der Blick auf sich selbst. Viele Menschen beschreiben dies mit den Worten: » … und danach war nichts mehr so wie vorher.« Das Vertrauen in den eigenen Körper, die eigene Kraft und die Fähigkeit, mit schwierigen Situationen umzugehen, kann erschüttert sein. Damit kann auch die Zuversicht schwinden, sich in zukünftigen Herausforderungen auf sich selbst verlassen zu können. Auch Beziehungen innerhalb des (Familien-)Systems können vom Trauma beeinträchtigt sein. Der Partner, der die Lebensbedrohung der Mutter miterlebt hat, hat vermutlich selbst ein Trauma erlebt. Von ihm wird aber gesellschaftlich erwartet, dass er für die Mutter stark ist und das weitere Wochenbett »managt«. Da bleiben oftmals kein Raum und keine Zeit für die eigene Bedürftigkeit.

Das verletzlichste Familienmitglied ist das Neugeborene, das in allen Belangen auf Sicherheit angewiesen ist. Die Interaktion mit ihm kann unter dem Einfluss von Trauma stehen: Entweder kann die Bindungsperson ihm nicht ausreichend zur Verfügung stehen, da diese selbst unter dem Eindruck des Traumas steht oder aber der Säugling ist im (eigenen) Trauma aktiviert und deutet die Beziehungsangebote in diesem Kontext. So kann der Versuch der Eltern, das weinende Kind durch Halten zu beruhigen, fehlgedeutet werden – vielleicht wurde es im Rahmen einer Behandlung zu schmerzhaften Behandlungen festgehalten und es fürchtet jetzt die Wiederholung? Vielleicht bedeutet Gehalten-Werden für den Säugling Schmerz? Dies setzt oft eine Spirale von Stress und Hilflosigkeit in Gang.

Ein besonderer Blick sollte den Geschwisterkindern gehören. In der Regel versuchen Familien, diese zu schützen, in dem sie sie von der Bedrohung fernhalten. Mit ihnen wird wenig gesprochen. Gleichzeitig spüren Kinder mit allen Sinnen, dass da »etwas passiert«. Sie spüren die Anspannung und Angst, ohne diese einordnen zu können. Sehr junge Kinder sind auf Sicherheit und Schutz angewiesen. Stehen die Bindungspersonen auf Grund der eigenen Belastung nicht ausreichend zur Verfügung, so kann dies für die jungen Menschen selbst zu einer sekundär traumatischen Erfahrung werden (Boger, 2022).

Notfälle und traumatische Ereignisse im Wochenbett betreffen nie nur eine Person. Das sensible, neu entstehende oder wachsende Familiengefüge kann durch solch belastende Erfahrungen unmittelbar und mittelbar mit unter Umständen weitreichenden Folgen irritiert werden.

 

Unterstützungsmöglichkeiten im Wochenbett

 

Die erste und wichtigste Handlungsmöglichkeit bei (potenziell) traumatischen Erfahrungen ist die Sensibilität der Fachkräfte für die Existenz von Traumata bei allen Familienmitgliedern. Hebammen, welche die Familie in den ersten Wochen nach der Geburt so eng begleiten wie keine andere Profession, kommt hier eine besondere Schlüsselposition zu. Eine grundsätzliche traumasensible, wertschätzende und empathische Unterstützung kommt den Betroffenen zugute.

Das Akronym SAFER stellt eine gute Basis dar, um Familien unmittelbar nach einer bedrohlichen Erfahrung im Wortsinn Erste Hilfe zu leisten. Es handelt sich hierbei um eine präventive Maßnahme, das Auftreten von Traumafolgen kann verhindert oder zumindest verringert werden:

S: Stabilisierung, Stimulations­regulation (Sicherheit herstellen)

Die verbale Versicherung, dass die Bedrohung vorbei ist. Hilfreich ist es auch, zu fragen, was jetzt gut tun würde, ob beispielsweise jemand informiert werden soll oder ob ein warmer Tee helfen würde.

A: Akzeptanz, Anerkennung der Situation

Die Bestätigung geben, dass es eine außergewöhnliche Situation war und nicht alltäglich. Dies hilft später bei der Einordnung

F: Falsche Bewertungen korrigieren

Nach traumatischen Erfahrungen fragen sich viele, was sie getan haben, dass es so schlimm wurde. Eine zeitnahe Bestätigung, dass sie nicht schuld sind, erleichtert ebenfalls die Integration der Erfahrung und entlastet.

E: Erklärung von normalen Stressreaktionen

Betroffene sind oft überrascht, wenn sie in der ersten Zeit nach dem Ereignis unerwartete Reaktionen wie Schlaflosigkeit, starke Affekte, aber auch Rückzug bei sich oder ihren Angehörigen wahrnehmen. Eine Info, dass dies eine erwartbare und normale Reaktion ist, ist hilfreich (Psychoedukation). Dazu gehört auch die Versicherung, dass die Beschwerden im Normalfall nach einiger Zeit wieder abklingen und, falls dies nicht geschieht, Hilfe angeboten werden kann.

R: Rückführung in Alltagsroutine, Förderung der Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit

Auch wenn im Wochenbett von Routine kaum die Rede sein kann, so gibt es doch Elemente, die vertraut sind: das gemeinsame Kuscheln mit dem Geschwisterkind, die bekannte Abendbrotzeit etc … (Haupt-Scherer, 2017).

 

Gespräche sind wichtig

 

Wenn der Kontakt zur Familie erst später, zum Beispiel nach der Klinikentlassung erfolgt, kann ein ausführliches Erstgespräch, bei dem auch die Erfahrungen und Empfindungen der nicht primär betroffenen Personen erfragt werden, förderlich sein. Oftmals fehlen aber auch zu diesem Zeitpunkt noch die Worte. Der Hinweis darauf, dass auch später noch ein Gespräch möglich ist, kann guttun. Weiter kann auf die eventuellen Bedürfnisse der Kinder (Neugeborenes und Geschwister) hingewiesen werden.

Manchmal zeigt sich im Verlauf des Wochenbettes, dass die Betreuung der Hebamme alleine nicht ausreichend ist. Wenn sich Symptome nicht bessern oder sogar verschlechtern, wenn die Betroffenen selbst den Wunsch nach weiterer Hilfe äußern oder wenn geburtshilfliche Fachkräfte die Grenzen ihrer Profession erreicht haben (beispielsweise bei V.a. eine psychische Erkrankung), dann ist es ein guter Moment, an Netzwerkpartner:innen zu verweisen oder bei der Vermittlung zu unterstützen.

Die Anbindung an Frühe Hilfen, Schwangerschafts- und Familienberatungsstellen kann dann für die Familie sinnvoll sein und die Fachkraft entlasten. Mit Blick auf die Kinder bietet sich seit einigen Jahren die Integrative Bindungsorientierte Traumatherapie (I.B.T.) an. Diese von Katrin Boger entwickelte Therapieform enthält Elemente aus der Verhaltenstherapie, Systemische Therapie und dem EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing, übersetzt: Desensibilsierung und Verarbeitung durch Augenbewegungen. Dies ist eine Methode der Traumatherapie). Mit I.B.T. kann das gesamte Familiensystem unterstützt werden – zunächst die Bindungsperson und, nachdem diese stabilisiert wurde, auch die Säuglinge und gegebenenfalls Geschwisterkinder.

Rubrik: Ausgabe 05/2024

Vom: 26.04.2024