Multikulturelle Kommunikation

Zwischen den Zeilen lesen

Hinter jeder Kreißsaaltür tut sich eine Welt auf, vor allem wenn Frauen und Familien aus unterschiedlichen Kulturen zur Geburt kommen. Wie kann die Kommunikation auch bei knappen Ressourcen gelingen? Manchmal ist das Nonverbale stärker als jedes Wort. Und dass die Hebamme besser einen Schritt zurücktritt und die Gesamtsituation erfasst, statt in Aktionismus zu verfallen. Franziska von Moers
  • Franziska von Moers: »Was können wir tun, um bei allem Gewusel emotional nicht abzustumpfen, eine gesunde Work-Life-Balance aufrechtzuhalten und den Frauen gerecht zu werden?«

Ein würziger Geruch von Nelken, Zimt und Kardamom weht mir aus einer Thermoskanne um die Nase, als ich Kreißsaal 4 betrete. Ein praller wehender Bauch wölbt sich unter einem orientalisch bestickten Sari. Flehende Blicke und indisch angehauchtes Englisch überfluten mich mit verzweifelten Fragen. Ich versuche das Paar aus Neu-Delhi mitsamt der aufgeregten Großmutter zu beruhigen und mahne zur Geduld. Drei rote Punkte auf der Stirn wackeln in diesem Saal hin und her, und ich richte die CTG-Gurte behutsam unter den kreisenden Bewegungen der Gebärenden.

Nun klingelt es aus Kreißsaal 5. Ich eile nach nebenan und schaffe es gerade noch, mir Handschuhe anzuziehen. Das Kind hat es eilig und wird unter russischem Wehklagen schnell im Stehen geboren. Alles ist gut und ein zauberhafter kleiner, stiller Moment lässt die Welt kurz innehalten. Wir verstehen uns nicht mit Worten, aber nonverbal haben alle ein inniges Band geknüpft und sind eins in diesem Moment.

Ich ziehe weiter in Kreißsaal 3, wo die Geburt schon zwei Stunden her ist. Eine Frau aus Ghana, die ihr drittes Kind geboren hat und in bunte Tücher gehüllt ist, wischt gerade in der Hocke den Kreißsaalboden und hat ihr Neugeborenes dick eingewickelt auf der Wickelkommode liegen. Auf französisch sprechen wir miteinander und sie sagt, dass sie schon gestillt habe und nun ihr Blut selbst aufwischen will. Ich schicke sie aber doch lieber ins Bett und bringe ihr das Frühstück. Sie sagt, ihre letzte Geburt in Ghana sei anders gewesen, und lässt sich verblüfft in die Kissen fallen.

 

Bunt und vielfältig

 

Der Kreißsaalalltag kann sehr bunt sein. Unterschiedliche Nationalitäten, Kulturen und Sprachen prallen hier geballt aufeinander. Die Altersspanne der Gebärenden ist oft größer und überraschender als gedacht und auch der sozioökonomische Status fordert die Betreuung der Hebammen immer wieder heraus. Individuelle Vorstellungen der Gebärenden und deren Partnerinnen und Partnern, wie eine Geburt ablaufen sollte, prallen auf eine oft andere Wirklichkeit und fordern Geduld.

Unsere Aufgabe ist es, neben unserer Fachkompetenz als Hebamme die Frauen da abzuholen, wo sie stehen, und ein emphatisches Gespür dafür zu entwickeln, welche individuellen Parameter welchen Stellenwert bei jeder einzelnen Frau einnehmen. So ist für die eine wichtig, dass die Intimsphäre besonders gewahrt wird und kein Mann – sei es auch der diensthabende Arzt – ungefragt den Kreißsaal betritt und die Frau zum Beispiel ohne Kopftuch sieht. Eine andere Frau legt besonderen Wert darauf, dass ihr Mann die ganze Zeit den Spiegel auf die Vagina hält, damit sie die Kopfgeburt besser sehen kann und somit ihr Geburtserleben komplett ist.

 

Herausforderungen im Alltag

 

Zwischen allen Nuancen versuchen wir Hebammen, mit Händen und Füßen zu kommunizieren, die Sprachkenntnisse, die jede einzelne von uns besitzt, zwischen Schlafmangel und Schichtdienst emphatisch anzuwenden und die Physiologie des Geburtsverlaufs und eventuelle Abweichungen mit Argusaugen zu überwachen.

Wir geben unser Bestes, allen gerecht zu werden, und vergessen dabei oft eigene Bedürfnisse. Zum Beispiel, eine Pause zu machen oder einfach mal auf die Toilette zu gehen.

Zwischen all diesem Multikulti und aufregenden Geburten passieren auch nicht so schöne Dinge: Es gibt Notfälle, die schnelles und kompetentes Handeln erfordern. Es gibt stille Geburten, die unsagbar traurig sind und oft parallel zum normalen Kreißsaalalltag passieren und uns Hebammen zusätzlich zu Sprachbarrieren auch emotional viel abverlangen. Supervision gibt es oft nicht, und so tragen wir diese Gefühle oft mit nach Hause und haben im Nachgang einen faden Beigeschmack. Das gleichzeitige Betreuen von Leben und Tod fordert viele Kolleg:innen heraus.

Was können wir tun, um bei all diesem Gewusel emotional nicht abzustumpfen, eine gesunde Work-Life-Balance aufrechtzuhalten und den Frauen gerecht zu werden?

 

Geburtsplan, Sprachkarten, Triaphon

 

Es gibt Hilfen, die im Kreißsaalalltag die Arbeit erleichtern können. So können auf der einen Seite die Gebärenden aktiv dazu aufgefordert werden, ihre Bedürfnisse in einem Geburtsplan aufzuschreiben, damit es bei Schichtwechseln leichter ist, die individuellen Wünsche der Frau gut zu erfassen. Auf der anderen Seite erleichtern Sprachkarten mit gängigen geburtshilflichen Situationen in unterschiedlichen Sprachen die Kommunikation und vermeiden ein Rätselraten. Symbolische Karten können die beispielsweise zeigen, wie Blut abgenommen werden soll.

Auch gibt es in vielen Kreißsälen ein sogenanntes Triaphon. Dabei handelt es sich um einen 24-Stunden-Übersetzungsdienst, bei dem Mitarbeiter:innen gelistet sind, die in diesem Moment Dienst auf anderen Stationen im Krankenhaus haben und in verschiedene Sprachen übersetzten können. Diese Möglichkeiten können unsere Arbeit erleichtern.

 

Genau beobachten

 

Die Geburtshilfe in großen Kreißsälen kann sehr viele Herausforderungen für Hebammen mitbringen. Durch die unterschiedlichen Facetten, die diese Arbeit und auch Passion erfordert, empfehle ich im Hinblick auf Diversität und Facettenreichtum der Gebärenden, nicht nur auf die Übersetzung von Sprache Wert zu legen, sondern auch zwischen den Zeilen zu lesen. Vieles kann nonverbal wunderbar durch genaue Beobachtung gelesen werden. Der Körper einer gebärenden Frau hat eine ganz eigene Art der Körpersprache, die durch präzise Beobachtung zu lesen gelernt werden kann.

Die Frau mit ihrem Hintergrund als Ganzes zu betrachten und ihre Art, die Wehen zu verarbeiten, ist eine Kernkompetenz unseres Berufes und bedarf neben Erfahrung eine genaue Beobachtungsgabe. Rücksprachen mit Kolleg:innen sind hier wichtig, die uns in unserer Arbeit bestärken und unser Handwerk präziser machen. Aber auch die verbale Sprache, die wir einer wehenden Frau angedeihen lassen, sollte weise gewählt sein. Diese so vulnerable Situation lässt Frauen trotz tranceartigem Zustand verletzlich und scharfsinnig jedes Wort aufsaugen wie ein Schwamm. Eine sehr empfehlenswerte Fortbildung für Hebammen im Kollektiv oder einzeln ist die Weiterbildung zur gewaltfreien Kommunikation für Hebammen, die sich gezielt mit Sprache in geburtshilflichen Situationen auseinandersetzt und ein Augenmerk darauf legt, wie Sender und Empfänger in Extremsituationen funktionieren (siehe Kasten).

Die verbindende und entwicklungsfördernde Sprache ist darauf ausgelegt, die Verbindung zwischen Menschen zu erhalten oder zu schaffen. Jeder Mensch hat einen großen Bedarf an Wertschätzung und Empathie. Es gibt kein Richtig und kein Falsch. Jede Handlung und jede Gefühlsäußerung finden ihren Ursprung in unseren Bedürfnissen.

Hebammen können mit dieser Sprach­technik lernen, die sich auftuende Schere zwischen medizinischer Betreuung oder gar Notfallmanagement und emotionaler Prägung der Frauen zu vereinen, um eine allumfassende bedürfnisorientierte Betreuung zu gewährleisten.

In schwierigen, konfliktgeladenen Situationen stehen Hebammen oft vor dem Dilemma, dass sie glauben, sie hätten keine Wahl in dem jeweils geforderten Handlungsmuster, das Leitlinien und Standards vorgeben. Die Abfolge von Aktion und Reaktion ist, besonders in Notfallsituationen, prägend und lässt retrospektiv oft keinen Raum für Evaluation. Das heißt im Klartext: Jemand sagt oder tut etwas und wir reagieren blitzschnell in gewohnter Weise. Jedoch geschieht das nicht selten so, dass das Gegenüber oder man selbst als „Verlierer“ stehen bleibt. Doch wir haben immer die Wahl. Niemand zwingt uns, so zu handeln wie wir oft handeln. Unser bisheriges Verhalten ist nichts anderes als ein eintrainiertes Verhalten.

Laut gewaltfreier Kommunikation können Hebammen lernen, Muster abzulegen und neues Verhalten und Denken zu trainieren. Das kann enorm hilfreich sein, um Frauen jedweder Sprache, Kultur, Nationalität und Eigenart zu sehen und zu hören, egal ob wir dieselbe Sprache sprechen. Denn Sprache ist in diesem Kontext tatsächlich auch die zwischen den Zeilen und kann auf vielen Ebenen wahrgenommen werden.

Dies erfordert vor allem unseren Glauben daran, dass eine wertschätzende und verbindende Kommunikation allen gut tut und auch auf Hebammenseite für mehr Zufriedenheit sorgt.

 

Die Königsdisziplin

 

Manchmal sind es aber tatsächlich die Hände und Füße, mit denen wir emphatisch versuchen, mit all unseren Mitteln eine Sprache zu finden. Wenn zwischen den Wehen und der Geburt, zwischen Freude und Leid, zwischen Lachen und Schreien trotz Verständigungsbarriere ein Lächeln erscheint, dann ist vielleicht das der wesentliche Punkt, der hilft, um sich ohne zu verstehen verstanden zu fühlen.

Eine gute Gebäratmosphäre zu schaffen – und dies angepasst an die Bedürfnisse jeder Gebärenden, heißt nicht unbedingt, immer gleiche Parameter zu bedienen. Das ist die Königsdisziplin, die wir Hebammen mit Leidenschaft bereit sind zu schaffen: die Frauen vor äußeren Einflüssen zu schützen und ihnen ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu geben, ganz gleich was um sie herum geschieht. Dies ist unsere Aufgabe, die es zu verfechten gilt.

 

Gewaltfreie Kommunikation für Hebammen

 

Damit Hebammen Frauen und deren Partner:innen in der sehr vulnerablen Phase von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbettzeit emphatisch betreuen können, sollten sie eine verbindende und entwicklungsfördernde Sprache verwenden. Diese Sprache:

  • spricht von Herzen
  • trennt Beobachtung von Bewertung
  • achtet auf die Gefühle der Anderen
  • respektiert die Bedürfnisse aller
  • bittet oder wünscht, statt zu fordern
  • achtet auf Gefühle und ist sich der dahinterliegenden Bedürfnisse bewusst
  • übersetzt Angriffe, Vorwürfe oder Forderungen in Gefühle und Bedürfnisse.

 

Vernetztes Wissen

 

Ich gebe zu, dass es nicht immer leicht ist, allen Schwangeren mit ihren Vorstellungen von Geburt gerecht zu werden. In vielen Situationen hat mir das kulturelle Wissen über den religiösen Brauch oder die landesübliche Art zu gebären gefehlt und ich habe erst im Nachgang verstanden, warum dies oder jenes nicht gut funktioniert hat. Ich lerne aber mit jeder Geburt dazu und liebe es, mein vernetztes Wissen anwenden zu können.

Auch das Teilen von Erfahrungen anderer Kolleg:innen hilft mir, besser zu verstehen. Wir Hebammen arbeiten da, wo das Leben beginnt, und dürfen zwischen all den Extremsituationen aber auch in unfassbar lustigen, bewegenden und außergewöhnlichen Momenten dabei sein, wenn die Geschichte eines einzelnen Menschenlebens beginnt.

Rubrik: Ausgabe 05/2024

Vom: 25.04.2024