Berühren und Berührtsein

  • Dr. Angelica Ensel, Hebamme und Kulturwissenschaftlerin: »Berühren und Berührtsein sind zentrale Aspekte des Hebammenhandwerks. Welches Potenzial und welche Verantwortung liegen darin!«

  • Was die Seele beschäftigt, spiegelt sich im Körper – alles Erleben hat eine körperliche Dimension, hinterlässt Spuren. Und umgekehrt: Über körperliche Aktivität, über Bewegung, Berühren und Berührtwerden können wir auf die Seele einwirken. Wir können Emotionen, Haltungen und Ausrichtungen verändern.

    Hebammenarbeit ist zutiefst körperlich. Die Transformationsprozesse im bio-psycho-sozialen Geschehen von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zeigen eindrucksvoll, wie unmittelbar Körper, Geist und Seele zusammenwirken. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, braucht es eine ganzheitliche Begleitung.

    Berühren und Berührtsein sind zentrale Aspekte des Hebammenhandwerks. Welches Potenzial und welche Verantwortung liegen darin! Mit ihren Händen kann die Hebamme beruhigen, für Entspannung sorgen, wohltun, aber auch übergriffig sein und tief verletzen.

    Diese Dimension der Hebammenkunst betrifft nicht nur den Körper und das Erleben der Frau, sondern auch den Körper der Hebamme. Neben der physischen Kraft, die Beistand und Sorge brauchen, ist der Leib zentrales Instrument der Wahrnehmung und Erkenntnis. Im Hören, Sehen, Tasten und Berühren erfährt die Hebamme, wie es der Frau geht. In Verbindung mit ihrem Expertinnenwissen und ihrer Erfahrung entwickelt die Hebamme ein Gespür für diese Frau und ihre Geburt. Die Hebammenwissenschaftlerin Sabine Dörpinghaus spricht von »Spürwissen«. Die Voraussetzungen für dessen Entfaltung ist neben der empathischen leiblichen Präsenz ausreichend Zeit für die Geburtsbegleitung, idealerweise in Eins-zu-eins-Betreuung. Knappe Ressourcen und permanenter Stress blockieren die Selbstwahrnehmung und -anbindung aller Beteiligten. Ein Zustand, in dem sich Resonanz für die anver­traute Frau kaum entfalten kann.

    Wenn die Hebamme die Chance hat, unmittelbare empathische körperliche Präsenz zu erleben, ist ihre Wahrnehmung ganzheitlich und geschärft. Ihr Körper ist ein Resonanzraum, in dem sie in Beziehung zur Gebärenden das Geschehen im Geburtsraum wahrnimmt und darauf einwirken kann. Die Hebamme kann einen geschützten »Seelenraum« herstellen, wie die Hebamme und Forschende Nancy Iris Stone es formuliert, und ihre essenzielle Aufgabe leben. Sie öffnet und hält den sicheren Raum, in dem Geburt sich ereignet.

    Wenn das gelingt, kann sich das Potenzial entfalten, wenn eine Gebärende in ihrer Kraft, wenn sie hundertprozentig in ihrem Körper ist und sich vertrauensvoll der existenziellen Energie hingibt – eine tiefe biografische Erfahrung – beglückend und ermächtigend, im Körper eingeschrieben.