Frei und glücklich?

In meiner Familie galten Freiberufler als Menschen, denen man nicht trauen kann. Haben sie keine Stelle gefunden? Sind sie arm, ist das ein Beweis für ihre Unfähigkeit. Oder sind sie etwa reich – dann sind sie erst Recht verdächtig. In 21 Jahren, in denen ich überwiegend freiberuflich in eigener Praxis tätig war, habe ich tatsächlich Hebammen getroffen, die selbstständig arbeiten, weil sie keine Stelle gefunden haben. Oft habe ich mich mit Kolleginnen ausgetauscht, die am Existenzminimum leben, darunter viele Alleinerziehende. Unfähig war keine davon, aber die meisten waren nicht besonders gut in Betriebsführung ausgebildet. Fällt das unter „Unfähigkeit“? Und zum Thema „verdächtig“: Es gibt immer mal wieder Pressemeldungen über Abrechnungsbetrug; aber möglicherweise wurden die beteiligten Hebammen in der Presse auch überdimensional ins Rampenlicht gerückt, weil dieses Verhalten so gar nicht zum Bild der fürsorglichen, mütterlichen Rolle passt und daher besonders schockiert.

Die Fragen, die mir heute durch den Kopf gehen, wenn ich über Freiberuflichkeit und Wirtschaftlichkeit nachdenke, sind ganz anders: Was ist eigentlich Wert, was ist Reichtum? Was ist wichtiger: die materielle, die intellektuelle oder die spirituelle Seite von Vermögen? Wie drückt sich Anerkennung im materiellen Maßstab aus? Unterscheidet sich das bei Männern und Frauen? Wie kommt es, dass Frauen für die gleiche Arbeit weniger verdienen als Männer, dass typische Frauenberufe im niedrigen Lohnniveau angesiedelt sind? Wer sagt eigentlich, was ich wert bin – meine Arbeit, meine Erfahrung, die Qualität meiner Betreuung? Wie wahr, wichtig und richtig ist es, die Menge meiner Arbeit im direkten Zusammenhang mit der Höhe des Einkommens zu erleben? Ein Ausdruck aus der Zeit, als mein Sohn noch klein war und ich in der Hausgeburtshilfe tätig, fällt mir ein: „soziale Schulden“. Soziale Schulden sind Schulden, die nicht in Geld gemessen werden, sondern in schlechtem Gewissen. „Ich muss nochmal los, ein Hausbesuch nur, kannst du mal mein Kind nehmen? Und dafür nehm ich dann das nächste Mal deines, du hast ja auch noch einmal gut, von der letzten Geburt …“

Für diese Ausgabe der DHZ haben einige Kolleginnen ihre Erfahrungen mit der Freiberuflichkeit geschildert, die Suche nach der „richtigen“ Arbeitssituation, das Abwägen zwischen den Kosten – materiell und sozial – der Freiberuflichkeit und der Freiheit, selbstbestimmt zu arbeiten. Was richtig ist, welche Kompromisse möglich sind, wo Erleichterung geschaffen werden kann und wo nicht, das muss auch weiterhin jede Kollegin für sich selbst herausfinden. Ich jedenfalls bin froh, dass die Vorurteile meiner Familie mich nicht davon abgehalten haben, eine (meist) glückliche Freiberuflerin zu werden.